17. Jahrgang | Sonderausgabe | 15. Dezember 2014

Untergetaucht

von Ulrike Krenzlin

Das habe ich noch nie erlebt. Bei der Buchpräsentation von „Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945“ am 6. März 2014 im Berliner Ensemble war ein hoch aufgeschichteter Verkaufstisch im Nu leer. Wer war die junge Frau, die überlebt hat und wie hat sie das geschafft?
Ende August 1945 zog die dreiundzwanzigjährige Marie Jalowicz barfuß mit einem Leiterwagen und wenig drin zwanzig Kilometer lang über Berliner Straßen von Kaulsdorf Süd über Lichtenberg und Weißensee nach Pankow. In der Binzstraße 7 bekam sie ihre erste eigene Wohnung. Als Jüdin hat sie im Berliner Untergrund überlebt. Ihre Erlebnisse vor und nachdem sie sich der Verhaftung 1943 entzogen hat, ließen mir beim Lesen abwechselnd den Atem stocken oder trieben Tränen in die Augen.
Marie Simon nahm sich nach ihrer Rettung 1945 vor, niemals einen Nichtjuden zu heiraten, „nicht mehr mit Hinz und Kunz zu duzen […] und undifferenziert über die Deutschen zu schimpfen, von denen ihr einige geholfen haben.“ Das berichtet ihr Sohn, Hermann Simon. 1948 heiratet sie ihren Schulfreund, Heinrich Simon, mit dem sie in Berlin noch 1939 an der Jüdischen Oberschule das Abitur abgelegt hatte. Simon war nach Palästina ausgewandert und diente in der englischen Armee. Marie und Heinrich Simon lehrten nach dem Studium als Professoren an der Humboldt-Universität.
Die Situation ab 1941. Im Winter 1941/42 zog sich für Juden die Schlinge zu. Die Eltern von Marie waren gestorben. Sie haben nach jüdischer Tradition gelebt mit Anspruch auf Bildung. Marie Simon wollte überleben. Das war ihre Maxime. Anfangs arbeitete sie in einem Archiv für Familienforschung, war danach zur Zwangsarbeit bei Siemens verpflichtet, eine Arbeit an der Maschine. Hier stieg sie aus und begann ein Leben im Versteck.
Ihr wuchs die Kraft zu, Angst zurückzudrängen auf den letztmöglichen Punkt, stundenlang wahnsinnige Situationen auszuhalten, Durchhalten, punktgenaue und wendige Reaktionsfähigkeit aufzubringen, gespielte Milieuszenen im Berliner Dialekt zu erfinden. Das waren einige Varianten, um in überraschenden Situationen Verrätern aus den eigenen Reihen und der Gestapo zu entkommen. Die Art ihrer Tapferkeit zeigte sich zuerst bei der Verhaftung am 22. Juni 1943 im möblierten Zimmer von Jacobsohns in der Schmidstrasse 26. Da überrumpelte sie gleich zwei Gestapo-Männer. Den Zivilisten morgens früh sechs Uhr vor ihrem Bett, der sie freundlich aufforderte, zum Verhör mitzukommen. Sie daraufhin: „Ich habe nüscht zu essen hier […] So in Unterrock […] wegloofen kann ick Ihn’ ja so […] nich“. Sie wollte sich angeblich was zu essen holen im Haus, nahm unbemerkt ihre Tasche mit und eine leere Flasche. Denn unten wartete der zweite Gestapo Mann. Bei ihm machte sie auf ordinäre junge Frau, der ihre Tür zugefallen sei und sie nun den Ersatzschlüssel holen müsse: „Jetzt sieht ma ja kehna. In fünf Minuten bin ick zurück.“ „Der lachte sich halb tot, gab mir einen Klaps auf den Po und fand das großartig.“
Sie floh, ohne die leere Flasche zu benutzen. Die Gestapomänner wurden von ihren Vorgesetzten wegen Dienstunfähigkeit geschlagen. Nun begannen Odyssee und Martyrium in Verstecken. Über Berlin verteilt, waren es vierzehn Wohnungen, in denen sie sich versteckt halten konnte, anfangs bei Juden, vermittelt von einem jüdischen Gynäkologen, nach dessen Verhaftung nur noch bei Kommunisten. In den Wohnungen, in denen sie nie über 14 Tage wohnen durfte, so war die Bedingung, war es kalt, gab es nichts zu essen, musste sie tagsüber vollkommen still auf einem Stuhl sitzen, konnte nichts tun. Bei Gefahren musste sie Stadtwanderungen machen, stundenlang nur am Tag, nachts musste sie verschwinden. Zeitweise hatte sie kein Quartier. Ausruhen war nur an Straßenbahnhaltestellen möglich. Auch das war gefährlich. Sie durfte winters und sommers nicht einschlafen vor Müdigkeit oder Hunger. Helfer konnten alles verlangen, Geschlechtsverkehr war nie auszuschließen. Eine Abtreibung, die kein Arzt mehr übernahm, hat sie mit Eimer und ohne medizinische Hilfe selbst gemacht. Das größte Problem erschien ihr dabei, das Lebensprodukt zu vernichten. Es durfte niemandem auffallen. Zu diesem Überleben gehören weiter der Heiratsversuch mit einem Chinesen und mit einem Bulgaren. Die Bulgarienreise mit falscher Kennkarte wäre ihr beinahe zum Verhängnis geworden, da die Nazis in Bulgarien Ämter weitgehend beherrschten. Seit 1943 lebt sie in Deutschland mit einem Holländer in einem Zimmer Am Oberbaum 2. Ihr falscher Pass lautete auf den Namen Johanna Elisabeth Koch.
Marie Simon führt in den Jahren ihrer Verfolgung ein denkwürdiges Tagebuch. Das entbehrt jeder Niederschrift. Denn Papier und Stift hätten sie in diesen Jahren verraten. Für dieses imaginäre Tagebuch sagte sie sich Tag für Tag das Erlebte mehrfach vor, korrigierte, redigierte es virtuell zu einem Text, prägte sich Namen ein, setzte Akzente. Sie entwickelte Dialoge, wie sie stattgefunden haben, und das gesamte Buch durchdringen, es lebendig machen. Langeweile, Untätigkeit, stundenlanges Ruhighalten, damit niemand sie hörte, panische Angst, dennoch entdeckt zu werden – was immer wieder vorkam – prägten ihr Gedächtnis und schärften es für spätere Zeiten. Sie lebt meistens ohne das Geringste zu Essen, weil die Helfer nicht verpflichtet waren, untergetauchten Juden von ihren Lebensmitteln abzugeben.
Fünfzig Jahre später las sie diese Texte wie vom Blatt ab und sprach sie aufs Band. Das virtuelle Tagebuch war aber nicht zuerst wegen der andauernden Gefahr ihrer Entdeckung im Untergrund entstanden, sondern es stellte – immer wieder von ihr hervorgehoben – die einzige intellektuelle Auseinandersetzung in diesen Jahren dar, in denen sie als Untergetauchte, Geduldete in Unterkünften von Helfen lebte, die sie nicht nur gerettet, sondern auch ausgenutzt haben. In diesen Texten konnte sie auch auf ihre jüdische Familientradition und Bildung zurückgreifen, sonst niemals.
Mit der Vorsicht, die sie Tag für Tag aufbauen musste, hielt sie eine nervenaufreibende Spannung durch, die sich im Herbst 1945 in einen Zusammenbruch entladen hat.
Es war im Jahr 1997, als Hermann Simon meinem Mann, der an der Berliner Humboldt Universität bei Marie Simon antike Philosophie, Literatur- und Kulturgeschichte studiert hat, und mir erzählte, dass er seine Mutter endlich dazu bewogen habe, ihr Leben bis Mai 1945 nach und nach auf Tonbandkassetten zu sprechen. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie nichts über ihr Leben erzählt. Entstanden sind 77 Kassetten. Mit ihrem Tod am 16. September 1998 enden diese Tonbänder. Sie diktierte im Rhythmus von 60 bis 90 Minuten wie bei Vorlesungen.
Meine Kenntnis von ihrem Schicksal reduzierte sich damals auf den Satz: Sie war als Jüdin in Berlin untergetaucht. Mehr war mir nicht vorstellbar. Klarer erschien mir nur die Vorstellung von den Problemen mit der Texttranskription und ihrer Veröffentlichung. Siebzehn Jahre sind seither bis zum Erscheinen des Buches vergangen. Der Historiker Hermann Simon hat den enormen Aufwand betrieben, hunderte Orte und Namen des Handlungspersonals zu recherchieren, sie im Anhang aber nur teilweise zu erläutern, weil er aus dem Erinnerungstext seiner Mutter kein eigenes wissenschaftliches Werk schaffen wollte.
Hermann Simon stellt sich als Sohn und Historiker einige sehr aufschlussreiche Fragen. Warum hat sich Marie Simon erst am Lebensende zu diesem Bericht entschlossen? Weshalb sind diese Erinnerungen, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen, so präzise? Hermann Simon kommt in der einzigartigen Konstellation als Sohn und Wissenschaftler manchen Fragen ganz nahe, für die vergleichbare jüdische Erinnerungsliteratur aus der NS-Zeit keine Aufschlüsse geben kann. Die Frage, welche Spätfolgen diese dramatischen Erlebnisse auf das weitere Leben seiner Mutter gehabt haben. Wie sie diese Qualen überwunden und was sie zum Weiterleben ermutigt hat. Dazu hat er ein ausführliches Nachwort geschrieben.
Das imaginäre Tagebuch ist mit Hilfe des Sohnes, Hermann Simon und der Schriftstellerin Irene Stratenwerth zu einem beeindruckenden Buch der Erinnerungsliteratur geworden.

Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1949, S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, 416 Seiten, 22,00 Euro.