17. Jahrgang | Sonderausgabe | 15. Dezember 2014

Plädoyer für das Gedicht

von Renate Hoffmann

Es müssen nicht gleich die vielstrophigen Balladen der Oberklassiker sein, um sich diesen feingesponnenen Gebilden wieder zu nähern, die Musikalität in sich bergen, das Wort erklingen lassen, dem Rhythmus huldigen und die die Gefühle, An- und Einsichten auf verknappte Weise zu Gehör bringen, ohne seitenlang darüber zu polemisieren. In denen man sich auf die eine oder andere Art wiederfindet – oder auch nicht. Die erheitern, ermutigen, trösten, erzürnen, nachdenklich stimmen und die trauern lassen oder Erinnerungen wachrufen. Auf diesen literarischen Schatz zu verzichten, wäre ein Verlust für jeden Lesefreudigen.
In listig-diplomatischer Form lockt nun ein kleiner Gedichtband mit großem Inhalt zum Einstieg. Fünfundfünfzig Autoren (sofern ich mich nicht verzählt habe) sind an der Hilfestellung beteiligt. Die Verlockung steckt bereits im Titel, denn es handelt sich um „Gedichte, die glücklich machen“. – Der morgendliche Trompetenruf des Joachim Ringelnatz eröffnet sie: „Ich bin so knallvergnügt erwacht …“ („Morgenwonne“) Und nun legt man diese bunte Folge vergnüglicher und besinnlicher Gedanken nicht mehr beiseite und liest und blättert und liest.
Während Ringelnatz hochgestimmt seinem Bette entsteigt, fühlt sich Mascha Kaléko „Sozusagen grundlos vergnügt“. Sie erfreut sich an den einfachsten Dingen der Welt. Zum Beispiel daran, „ Daß rote Luftballons ins Blaue steigen. / Daß Spatzen schwatzen. Und daß Fische schweigen …“ Bertolt Brecht beschreibt eine Tätigkeit, die eigentlich keine Tätigkeit ist, sondern ein nachahmenswertes Sichtreibenlassen. („Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“): „Der Himmel bietet mittags große Stille. / Man macht die Augen zu, wenn die Schwalben kommen. / Der Schlamm ist warm. Wenn kühle Blasen quellen / Weiß man: Ein Fisch ist jetzt durch uns geschwommen …“ In seinen „Vergnügungen“ zählt Brecht auf, was für ihn dazu gehört: „Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen / Das wiedergefundene alte Buch / Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten / Die Zeitung / Der Hund / Die Dialektik / Alte Musik / bequeme Schuhe / Begreifen / Schreiben, Pflanzen“ und so manches noch.
Ich kann nicht umhin, Brechts melancholische Rückbesinnung auf die Liebe zu Maria Amann („Erinnerung an die Marie A.“) anklingen zu lassen. Es ist wohl eines seiner schönsten Liebesgedichte. „An jenem Tag im blauen Mond September / Still unter einem jungen Pflaumenbaum / Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe / In meinem Arm wie einen holden Traum. / Und über uns im schönen Sommerhimmel / War eine Wolke, die ich lange sah / Sie war sehr weiß und ungeheuer oben / Und als ich aufsah, war sie nimmer da.“
Wenn von der Liebe die Rede ist, diesem glückhaften, zerbrechlichen Zustand, so gehört das Wort Heinrich Heine. Er hält seiner Liebsten beim Küssen die Augen zu und weiß selber nicht, was ihn dazu treibt. („Ich halte ihr die Augen zu“) – Es fehlt nicht der Geheimrat G. aus Weimar mit „Willkomm und Abschied“. Zumindest den Schlussgedanken des Gedichtes kennt man. Aber auch die traurige Geschichte von J.W.G. und Friederike Brion, die er in Sesenheim verließ und gut dichten hatte, als er sich eines Morgens auf und davon machte: „Ich ging, du standst und sahst zur Erden, / Und sahst mir nach mit nassem Blick: / Und doch, welch Glück, geliebt zu werden! / Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ Dieses Glück war allerdings einseitig.
Eine klare Entscheidung bezüglich paradiesischer Umstände und des Liebeslebens trifft Peter Turrini: „Solange die Existenz / und die Lage / des Paradieses / nicht geklärt sind / halte ich mich / an dich.“ Das ist doch ein Wort!
Ringelnatz und Christian Morgenstern trällern ihre Lieder. Insbesondere Ersterer bietet eine herausragende Komposition an, nämlich „Ein Lied, das der berühmte Philosoph Haeckel am 3. Juli 1911 vormittags auf einer Gartenpromenade vor sich hinsang (von einem Ohrenzeugen): Wimmbamm Bumm …“ Thema mit vielen Variationen und Zeilenverirrungen, welches nur einem spezifizierten Philosophenhirn entspringen konnte, beziehungsweise dem genialischen Dichter Joachim Ringelnatz. – Wer Morgensterns „Fisches Nachtgesang“ lesen oder hören will, der schlage die Seite 162 auf. Dort ist die Partitur einzusehen.
Ernst Jandl treibt genüsslich ein Verwirrspiel mit „Ottos Mops“ und dem Buchstaben „O“, der es ihm offenkundig angetan hat. Bei schnellem Nachsprechen kommt man ins Stolpern. – Nichts ohne Kurt Tucholsky in diesem Reigen. Er prangert die Maßlosigkeit an mit den bekannten Zeilen aus „Das Ideal“: „Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, / Vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße …“ und so fort und so fort bis zum Resümee: „Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. / Daß einer alles hat: / das ist selten.“ Wissen tun wir’s ja, Herr Tucholsky, aber können tun wir’s nicht.
Ilse Aichinger hält einen mutigen „Nachruf“ auf den sozialgesinnten Heiligen Martin, und Hans Magnus Enzensberger schickt eine Nachricht an Unbekannt mit der Danksagung für das komplizierte, aber letztlich schöne Leben. „ … und, damit ich es nicht vergesse / für den Anfang und das Ende / und die paar Minuten dazwischen / inständigen Dank, / meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.“ („Empfänger unbekannt – Retour à l’exp’editeur“)
Die leisen Töne werden, neben anderen, von Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke und Joseph von Eichendorff angestimmt. Dessen „Mondnacht“ verbreitet wunderbare Ruhe. Schon hört man seine Worte, in Robert Schumanns Klangbilder gebettet, von Dietrich Fischer-Dieskau singen.
Was die meisten Autoren ins Schwärmen versetzt, ist die Anschauung der Natur, ihr Werden und Vergehen, ihre Wege. Sie weiten die Seele; man möchte sofort barfuss durch die Wiesen laufen. Erich Kästner lobt das „Primawetter“, Eduard Mörike stimmt einen Jubelgesang auf den wiederkehrenden Frühling an, Heinrich Heine ist verliebt in die Liebe und in den „wunderschönen Monat Mai“. – Unverblümter sprechen Wolf Biermann und Theodor Fontane. Und für die an mangelndem Selbstbewusstsein Leidenden hält Robert Gernhardt ein tröstliches „Gebet“ bereit: „Lieber Gott, nimm es hin, / daß ich was Besond’res bin. / Und gib ruhig einmal zu, / daß ich klüger bin als du. / Preise künftig meinen Namen, / denn sonst setzt etwas. Amen.“
Man schließt das Buch mit den glückmachenden Gedanken/Gedichten und überlegt, ob man demnächst nach den poetischen Werken von Jandl, Brecht, Tucholsky greift oder einen Versuch mit Schillerns „Glocke“ wagt.

Clara Paul (Herausgeberin): Gedichte, die glücklich machen, Insel Verlag, Berlin 2014, 187 Seiten, 7,00 Euro.