17. Jahrgang | Nummer 26 | 22. Dezember 2014

Karlsjahr 2014

von Ulrike Krenzlin

Das Karlsjahr geht zu Ende. Anlass dazu bot der 1.200. Todestag Karls des Großen. Als König und Kaiser entwickelte Charlemagne (747 geboren in Paris) das Konzept von der universellen Herrschaft, das – zunehmend konsequenter – in die Tradition des Weströmischen Reichs gestellt wird. Mit der Kaiserbulle „Renovatio Romani imperii“ von 803 ist die Wiedergeburt des Römischen Reichs vor allem auf dessen Rechtsgrundlagen gestellt. Sie erhält damit ihre solideste Basis. Jedoch gibt es einen gravierenden Unterschied zum untergegangenen Rom. Er liegt in der neuen Weltanschauung, dem Christentum.
Diese Religion im ungestalteten Frankenreich durchzusetzen, darin bestand für den Herrscher die eigentliche Herausforderung. Auf ehemals römischem Boden war das relativ leicht. In den heidnischen Gebieten, in erster Linie im damaligen Sachsen, bedeutete die Christianisierung für den Franken eine unfassbare Anstrengung. Er löste einen Prozess aus, der Widersprüche und Rückschläge mit sich brachte, auch Mord und Totschlag. Die Kriege endeten nie, insbesondere der spanische und 30-jährige Sachsenkrieg lähmten den Fortgang der Kultivierung des Reichs unerhört. Daher hieß es, rasch Klöster zu gründen. Diese arbeiten seit 800 nach dem Regelwerk der Benediktiner. Zu langsam jedoch lernten Mönche das Latein, bildete sich ein gelehrter Klerus heraus, werden Scriptorien eingerichtet, Bibliotheken geschaffen mit römischen Schriften, Zeugnissen griechischer und arabischer Wissenschaft.
Karl der Große beschwerte sich vielfach über die mangelnden Lateinkenntnisse des Klerus’ bei Messen und so weiter. Quellen ist zu entnehmen, dass der Kaiser in Zustände der Verzweiflung geriet wegen ständiger Stagnation bei der Umsetzung seiner Ziele. Jedoch nur aus diesen Klöstern und aus den „Orten der Macht“, den Pfalzen, konnte das Christentum ausstrahlen in das weite Land hin zum heidnischen Volk. Der König schuf Reichsklöster, weihte sie persönlich und bereiste sie oft. Karl löste seine Staatsaufgaben im Widerstreit von Kampf und Demut. Glaubenstiefe und Bußfertigkeit begleiten ihn bei der konfliktreichen Gestaltung des Frankenreichs. Rückschläge nahm er hin. Er regierte 44 Jahre.
Die neuzeitliche Forschung ließ indes nicht locker, herauszufinden, aus den Kaisergebeinen den Menschen, seine Gestalt und sein Wesen zu enträtseln. Deswegen wurde die Totenruhe des Herrschers mehrfach gestört. Die Gebeine Karls liegen in der Chorhalle des Aachener Doms im Karlsschrein, der bedeutendsten mittelalterlichen Goldschmiedearbeit. In diesen zwei Meter langen Schrein wurden im Jahr 1215 nach der Heiligsprechung des Kaisers dessen Gebeine aus dem Grab translociert.
1874 fand die erste Untersuchung der Gebeine statt. Von 1984 bis 1988 wiederholte sich die Öffnung. Was ist das Ergebnis? Der Frankenherrscher war über 1,80 Meter groß, überragte die meisten Zeitgenossen. Seine Gebeine waren beim Tod des Einundsechzigjährigen fast unvernutzt. In Schriftquellen wird er mehrfach und ausführlich als schöner Mann beschrieben. Über seine Seele und seine Leidenschaften ist aus den Quellen nichts zu erfahren.
Charlemagne habe eloquent Latein und andere Sprachen gesprochen. Er riss Zuhörer regelrecht mit, baute für sich selbst eine hohe Bildung auf aus der Begegnung mit den Bildungseliten seiner Zeit. In jahrelangen Kriegen, die zum Tagesgeschäft des Mittelalters gehörten, kämpfte der durchtrainierte Reiter Seite an Seite mit seinen Kriegern. Er eroberte fast das gesamte heutige Europa. Zu den herausragenden „Orten der Macht“ gehört die Pfalzkapelle in Aachen. Karl erkor sie in den letzten zwanzig Regierungsjahren zu seinem Hauptsitz. Dort gab es auch die warmen Bäder der Römer. Mit der Aachener Pfalzkapelle entstand ein Glanzstück der neuen Renovatio-Architektur. Die Kunde davon, dass Karl Spolien aus Ravenna nach Aachen geholt hatte, lief wie ein Lauffeuer durch die damalige Welt. Diese Architektur in Stein durchzieht das Mittelalter. Dazu gehört auch das 2014 neueröffnete „UNESCO Weltkulturerbe Kloster Lorsch“ mit der Königshalle, die berühmte Benediktinerabtei, ein Reichskloster mit einer der ersten großen Bibliotheken antiker Autoren. In den Lehrbüchern gibt es das Kapitel Romanische Kunst. Die Buchmalerei aus der Aachener Schule zeigt sich vor 800 schon auf einer Höhe, die die römischen Illuminationen übertrifft, wegen einer neuen Innigkeit der christlichen Inhalte, der hohen karolingischen Schriftkultur, die natürlich die irisch-angelsächsische Buchmalerei voraussetzt. In Aachen konnte man das herrliche Schatzkammer Evangeliar bewundern, in dem die vier Evangelisten ihre Eingebungen wild inspiriert niederschreiben.
Erst recht die Goldschmiedekunst. Die Limoger Emaille-Werkstätten bringen einzigartige Reliquiare hervor. Das Erhaltene aus der karolingischen Kunst war, aus aller Welt zusammengetragen, heuer in Aachen versammelt. Die Domschatzkammer hat in einer Sonderpublikation erstmalig die Verluste karolingischer Kunst aus dem Aachener Domschatz mit Provenienznachweisen bekannt gegeben. Das Ergebnis: Die Verlustobjekte sind samt und sonders von den jeweiligen Schatzverwaltern veräußert, verschenkt und vertauscht worden. Einen Wahnsinnsausverkauf über Jahrhunderte muss man hier zur Kenntnis nehmen, eingeschlossen den der Reichsinsignien, die, mit einem Rechtsstreit behängt, in Wien sind.
Heute rechnet die Forschung den konvulsivischen Christianisierungsvorgang in Europa zu den größten Leistungen des Frankenherrschers. Zu diesem Resümee kommen fast alle Historiker in Frankreich, Deutschland, England und Italien. Johannes Fried legt diese These seiner Biographie „Karl der Große. Gewalt und Glaube“ – 2014 bereits in vierter Auflage erschienen – zugrunde. Karl der Große schuf die Basis unserer Kultur. Trotz aller Brüche zehren wir bis heute ungebrochen von den Quellen dieser Kultur.
Doch wer sind diejenigen, die davon zehren? Manch einer wird jetzt sagen, das hat in meinen Schulbüchern fast genauso gestanden. Hierzu muss es einen ernsthaften Einspruch geben. Tatsächlich steht die Frage: Wieso ist bei all dem Großartigen, trotz Karlsjahr und vorausgehender Würdigungen im Gedenkjahr der Heiligsprechung 1965 in Aachen und 1999 beim Papstbesuch in Paderborn, trotz bester Literaturlage weder Schülern noch der gebildeten Öffentlichkeit Karl der Große kaum bekannt, warum ist er keine Größe, von der man spricht? Weshalb gehen wir darüber hinweg? Das hängt mit den Widersprüchen unserer eigenen Geschichte zusammen.
Neu gesehen wird Karl in der heutigen historischen Forschung als Franke, nicht als Franzose oder Deutscher. Bis 1945 wurde Karl der Große aus nationaler Sicht beurteilt. Die Abkehr von der „nationalen Frage“ nach 1945 hat dazu geführt, Karl zum „ersten Europäer“ oder „Vater Europas“ (Alessandro Barbero) zu machen. Damit kann Vereinnahmungen vorgebeugt werden, die in der Vergangenheit eine Rolle gespielt haben. Zum Beispiel Karl als „Sachsenschlächter“ (Dawson 1932), der im Kampf mit den „Barbaren“ (Heiden) die römische Kultur geschliffen habe. Aber löst diese moderne Betrachtung Karl als Europäer unsere Situation weitgehender Geschichtsunkenntnis?
Das Bild Karl des Großen wird sich immer wandeln. Heute sollte man in der Literatur nach sachlicher Herangehensweise an die Karolingerzeit Ausschau halten, die Kenntnisse von Karl dem Großen stärker mit dem europäischen Raum verbinden, mit der römischen Zeit, der lateinischen Kirche, aber auch mit dem Islam und seiner Ausbreitung. Im „Rolandslied“, dem französischen Nationalepos, wird erzählt wie furchtbar Karls Niederlage in Spanien gewesen ist und wie Karls Elitetruppe von muslimischen Kämpfern niedergemetzelt worden ist. Johannes Fried hat nachgewiesen, dass Karl weder Kenntnisse von der muslimischen Kampfstrategie, noch von ihrer Mentalität hatte.
Man sollte meines Erachtens nicht zuerst das Panorama der europäischen Geschichtswissenschaft abklopfen, um sich klar zu machen, weshalb in unserem gegenwärtigen Denken der Franke, Karl der Große, kaum eine Rolle spielt. Der Bruch in der Kenntnisnahme dieser hervorragenden Herrschergestalt liegt in der Reformation begründet. Danach gibt es kaum noch ein Erinnern an diesen Herrscher, jedenfalls nicht in den Ländereien, die die Reformation durchgemacht haben. Diese Erinnerungsteilung zieht sich durch bis heute. Dem Erinnern im Wege steht auf protestantischer Seite die Verbindung Karls mit dem römischen Papsttum und seine Heiligsprechung. Die mit der Reichsgründung einsetzende universitäre Geschichtswissenschaft hat die Darstellung großer Herrscher immer vor dem Kontext dieser Wegscheide nach der Reformation interpretiert und befestigt. Für das Verständnis des Frankenherrschers hat mir die Biographie von Johannes Fried geholfen. Sie geht von den Quellen in der „Monumenta Germania Historica“ aus. Es ist eine schriftstellerisch hoch motivierte Annäherung an Karl den Großen, der jahrzehntelange Umgang des Autors mit dem Herrscher hat ein Buch geschrieben, das in den nächsten Jahrzehnten kaum zu übertreffen sein wird.

Das Katalogwerk der Aachener Ausstellung umfasst drei Bände – Frank Pohle / Peter van den Brink / Sarvenaz Ayooghi (Herausgeber): Karl der Große / charlemagne, Sandstein Kommunikation, Dresden 2014, 1.104 Seiten, 98,00 Euro.