17. Jahrgang | Sonderausgabe | 15. Dezember 2014

Die Spur der Steine

von Erik Baron

„Dat is nu all lang her, wol twe dusend Johr“ – so beginnt das plattdeutsche Märchen vom Machendelboom, das die Brüder Grimm in ihre Sammlung aufgenommen haben. Jenes grausame Märchen von Kindsmord und dem Versuch seiner Vertuschung, jenes Märchen, bei dem der Vater am Ende unwissend seinen eigenen Sohn verspeist und die Tochter die Restknochen ihres Bruders unterm Machendelbaum vergräbt, aus dem jedoch ein Vogel, die Wahrheit verkündend, aufsteigt. „Dat is nu all lang her“ – und doch so gegenwärtig. Denn dass vor den Vätern die Söhne sterben, ist nicht nur ein Phänomen aus dem Märchen, sondern auch eine bittere Erfahrung des vergangenen Jahrhunderts. Ebenso, dass dieses Sterben der Söhne mit dem Schweigen der Väter begleitet wurde. Schweigen als Antwort auf unliebsame Fragen, bis keine Fragen mehr gestellt werden.
Regina Scheer nun macht sich mit ihrem Roman „Machandel“ auf den Weg, dieses Schweigen zu durchbrechen und die Knochen unter dem Machandelbaum auszugraben, ahnend, dass sie auf weit mehr Knochen treffen wird als auf die des toten Brüderchens. „Wir graben und wissen oft nicht, was wir aufrühren, manchmal erstickt das Vergangene die Gegenwart.“, heißt es am Ende ihres Romans in weiser Subjekt-Objekt-Verwirbelung und erinnert an die Vorgräber Heiner Müller oder Franz Fühmann. Und wenn ein paar Seiten zuvor geschrieben steht: „das Vergangene ist nicht vergangen“, scheint sich auch noch Christa Wolf hinzuzugesellen.
Überhaupt müllert es in Machandel gehörig. Gleich auf der ersten Seite begegnen wir einem Engel, der fatal Müllers glücklosem Engel zu gleichen scheint. Oder handelt es sich um den Engel der Geschichte von Walter Benjamin, der mit zum Schrei verzerrtem Gesicht dem Fortschritt ins Antlitz blickt? „Was hat der Engel gesehen? Was ist ihm geschehen?“, fragt dann auch Clara, die Protagonistin aus Scheers Roman, als sie nach Jahren jenes mecklenburgische Dorf Machandel, das dem Roman seinen Namen gibt, aufsucht. Jenes Dorf, das sie 1985 gemeinsam mit ihrem Mann Michael und ihren kleinen Kindern als Rückzugsort für sich entdeckte. Mit einem verstaubten Fotoalbum, das Clara damals auf dem Dachboden ihres alten Katens fand, begann die Spurensuche, auf die sie sich fortan begab.
Wie Mosaiksteine lässt Regina Scheer ihre Clara die Geschichten, die sich um das Dorf Machandel spannen, zusammentragen und zu einem Gesamtbild fügen, das sich alsbald als ihre eigene Geschichte herausstellt. Wie Marleenken aus dem Märchen vom Machandelboom kommt sich Clara vor, die Knöchelchen des toten Bruders einzusammeln. Aber sie will sie nicht vergraben, sie will sie offenlegen und die Wahrheit wie der aufsteigende Vogel herausfinden. Der Bogen der Geschichte von Machandel, den Regina Scheer nun zu spannen beginnt, nimmt immer mehr die Form eines Geigenbogens an und zieht sich bis zu den Yanomami-Indianern an den brasilianischen Amazonas hin. „Alles, schien mir, war miteinander verwoben“, eröffneten sich Clara zu Beginn ihrer Recherchen immer neue Zusammenhänge, vertikal in die deutsche Geschichte hinein, horizontal weit über die Landesgrenzen hinaus.
So tauchen wir ein in jene Zeit der großen Hoffnung, die mit Gorbatschow auch in der DDR einsetzte, sich am Ende aber als Desillusionierung auswuchs. Clara entführt uns mit ihrer Geschichte in den Pankower Friedenskreis, von dem aus auch die Proteste während der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 organisiert wurden. Aber wir tauchen auch tiefer ein bis in jene Jahre, als sich der große Krieg, der von Hitlers Deutschland aus die Welt zu erobern trachtete, wie ein Bumerang zurückkehrte. So stößt Clara bei ihren Ausgrabungen auf die Biographien ganz unterschiedlicher Menschen, deren Schicksal allesamt mit Machandel verbunden ist. Und Regina Scheer verknüpft diese Einzelgeschichten, immer aus der Ich-Perspektive des jeweiligen Protagonisten erzählt, zu einem historischen Gewebe, das sich allmählich über Machandel hinaus ausbreitet.
Auf diese Weise lernen wir die Geschichte der Ostarbeiterin Natalja kennen, die Anfang der 40er Jahre von den Nazis nach Deutschland verschleppt worden war und die es ans Schloss der Baronin als Dienstmagd verschlagen hat – das mich wiederum an jenes Schloss bei Parchim aus Heiner Müllers letzten Stück „Germania 3. Gespenster am toten Mann“ erinnert. Oder wir erfahren vom Schicksal der unter den Nazis zwangssterilisierten Marlene, die 1944, noch nicht einmal 20 Jahre alt, an den Folgen dieser Zwangsbehandlung gestorben ist. Und Clara gräbt sich tief in die Geschichte ihrer eigenen Familie, insbesondere die ihres Vaters und späteren SED-Funktionärs Hans Langner, den es auf dem Todesmarsch aus dem KZ Sachsenhausen nach Machandel verschlagen hat. „Es ist alles so miteinander verwoben“, stellt auch der mittlerweile im Pflegeheim vor sich hinsinnende Hans fast verzweifelt fest. Ihm drohen allmählich die Zusammenhänge verlorenzugehen. Und eigentlich will und wollte er sie auch nicht preisgeben. Seine Kinder hätten ihn ja doch nicht verstanden – glaubt der sich in seiner eigenen Geschichte selbst verstrickende Hans Langner, eine der tragischsten Figuren in Scheers „Machandel“. Hans Langner in seinem Konflikt mit Sohn Jan, dem älteren Bruder von Clara, erinnert wiederum an jenen DDR-Generationskonflikt, den Heiner Müller in „Der Findling“, Teil V der „Wolokolamsker Chaussee“ dramatisiert hat.
Jan, der Fotograph, hatte dem Vater jene unliebsamen Fragen zur eigenen Geschichte gestellt, die mit Schweigen zugeschüttet wurden, was letztlich auch zum Bruch zwischen Vater und Sohn führte. Und zur Ausreise Jans in den Westen, wo sich dessen Spuren verloren, am Ende des Romans jedoch am Amazonas wieder auftauchten. Dorthin hatte sich Jan auf den Weg gemacht, um den Tropenbaum Fernambuk zu retten, der vor dem Aussterben bedroht ist. Aus dessen rötlichem Holz wurden seit Jahrhunderten Geigenbögen gefertigt, jene Geigenbögen, die auch Arthur, der Musikinstrumentenbauer aus Ostpreußen und Lebensgefährte von Jans Großmutter in Machandel verwendet hat. Arthur wurde in Jans Kindheit eine Art Vaterersatz für ihn – mit ihm konnte er die Fragen besprechen, die bei seinem leiblichen Vater Hans tabu waren. Mit Arthur und seiner Großmutter Waltraud konnte Jan überhaupt reden, sie waren diejenigen, die Jans Blickwinkel geweitet haben, was ihm später als Fotograph zu Nutze kam. Seine Fotos spürten stets den Moment als Teil eines größeren Zusammenhanges auf. Grad so, wie Clara jeden ihrer eingesammelten Mosaiksteinchens als Teil des Gesamtbildes verstand, ohne die das einzelne Steinchen nicht zu verstehen ist.
So lassen sich die letzten Jahre der DDR nur verstehen, wenn man ihre ersten Jahre mit im Blick hat. Und die wiederum nur, wenn der Krieg zuvor nicht ausgeblendet wird. Alles, in der Tat, ist miteinander verwoben. Und nur mit jenem geweiteten Blick, den Bruder Jan in seinen Fotographien an den Tag legte, wird man dieses Geflecht an Geschichte wahrzunehmen in der Lage sein. Es bedarf Distanz, um die Dinge um einen herum zu sehen. Dies vielleicht auch der Grund für Regina Scheer, Jan mit der größtmöglichen Distanz, nämlich seinem Verschwinden aus der Handlung, auszustatten und sein Ende offen zu halten. Seine Spuren jedoch bleiben erhalten und hinterlassen tiefe Eindrücke. Insofern ist Bruder Jan, obgleich er nicht selbst als Protagonist in Erscheinung tritt, die wichtigste Figur in Scheers Roman. Den glasierten Stein aus den Kindertagen in Machandel, den Jan nicht nur bei seiner Ausreise in den Westen, sondern auch nach Südamerika mitgenommen hatte, fand sein Freund Herbert auf der Suche nach ihm in dessen zurückgelassener Tasche in Brasilien wieder und brachte ihn zurück an seinen Ursprung.
Die Spur der Steine führt zurück nach Machandel, das mittlerweile zum Hoteldorf mit Golfplatz geworden ist. Der alte Katen jedoch steht wie eine Trutzburg gegen die Auswüchse der Neuzeit. Regina Scheer hat ihre Clara wie jenen Wahrheit verkündenden Vogel aus dem Machandelboom aufsteigen lassen. Und wenn ich die Augen fest verschließe und mit geweitetem Blick genau hinsehe, hält sie in der einen Hand einen Geigenbogen aus dem rötlichen Holz des Fernambuk und in der anderen Hand den Machandelstein ihres verschollenen Bruders. Geigenbogen und Machandelstein sagen mehr über die Geschichte der DDR, über das Lebensgefühl einer ganzen Generation aus, als alle Geschichtsbücher und Zeitdokumentationen zusammen.
Es gibt Romane, die legt man nicht gerne aus der Hand, die machen einen traurig, wenn sie sich dem Ende zuneigen. Man verlangsamt bewusst das Lesetempo, obgleich der aufgebaute Spannungsbogen einen zum zügigen Weiterlesen drängt. Und am Ende möchte man dieses Buch jedem in die Hand geben, weil es das eigene Lebensgefühl so genau getroffen hat. Regina Scheers „Machandel“ gehört für mich zu diesen Romanen.

Regina Scheer: Machandel. Roman, Albrecht Knaus Verlag, München 2014, 480 Seiten, 22,99 Euro.