17. Jahrgang | Nummer 23 | 10. November 2014

Naive Fehlschlüsse

von Holger Politt, z. Z. Moskau

Das bequemste Mittel, um in die Stadt zu gelangen, sind die Aeroexpress-Züge, die alle drei Moskauer Flughäfen schnell und zuverlässig mit dem Zentrum verbinden. Die neueste Zuggeneration sind Doppelstockzüge, die durch die Schweizer Stadler-Gruppe gebaut und geliefert werden. Die ersten vier Zugeinheiten wurden in diesem Sommer über den Rhein und Amsterdam nach Saßnitz verschifft. Von hier ging es dann weiter auf der Eisenbahnfähre mit Breitspur nach Klaipėda. Von dort führte gerader Schienenweg nach Minsk, wo die Züge im Stadler-Werk endgültig für den Moskauer Einsatz flott gemacht wurden. Alle nachfolgenden Zugeinheiten für Moskau werden gleich in Minsk montiert. Eines der vielen kleinen Beispiele, wie eng die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den verschiedenen Teilen Europas bereits vorangeschritten ist. Vor einem Jahr hätte diese Aufzählung höchstens den Eisenbahninteressierten interessiert, doch jetzt ist vieles anders.
Einige Tage Moskau, täglich verschlechtert sich der Rubelkurs. Die Regale der Lebensmittelmärkte quellen über mit Produkten aus den EU-Ländern, die angeblich seit Monaten nicht mehr ins Land gelassen werden dürfen. Beliebtester Treffpunkt von früh bis spät bleiben die Einrichtungen der McDonalds-Kette, die die Kreml-Administration im Sommer mit Schließung bedroht hatte. Eine Riesenstadt, wie sie kapitalistischer gar nicht sein könnte. Gleich neben dem Außenministerium legen sich in den ersten bitterkalten Herbstnächten Obdachlose auf wärmende Lüftungsschächte, ohne noch durch die allgegenwärtige Polizei belästigt zu werden. Am frühen Morgen könnte der Kontrast zu den dicken, schwarzen Limousinen, die mittlerweile säuberlich aufgereiht vor dem mächtigen Ministeriumsbau stehen, nicht größer sein.
An den Kiosken in den unzähligen Unterführungen unglaublicher politischer Kitsch. Putin in allen Posen, flankiert häufig von Stalin und Lenin, mittendrin immer ein trotzig-kindisches „Krym nasch!“ – die Krim ist unser! Leicht ist es, ins Gespräch zu kommen, sobald, gewiss in leicht provozierender Absicht, eingeworfen wird: „Njet, Krym nje wasch!“ – nein, die Krim gehört euch nicht! Ein Geschäftsmann, der – wie er sagt – in der Provinz mit Autos handele, wirft eilig ein, dass die Krim nur ein kleines Fleckchen Land sei, ein Zankapfel allenfalls zwischen Moskau und Kiew, das den Westen nichts angehe. Ein anderer bemerkt, die Krim seien einige hundert Kilometer verdorrter Küste, weshalb mache der Westen so großes Aufheben davon? Die Kioskbesitzerin schließlich hebt beschwörend den Zeigefinger, Politik interessiere sie gar nicht, aber Russland müsse sich verteidigen! Ein Hauch von falschem Gemeinschaftsgefühl durchschwebt die kalte Unterführung.
Auch wenn das geschäftige Moskau den Anschein zu erwecken sucht, als sei nichts geschehen, bewegt Putins überraschender Schritt, im März 2014 die Krim kurzerhand Russland anzuschließen, noch immer alles und jeden. Auf dem Globus für Kinder, der inmitten ausgestellter Bücher auf die kleinen Kunden wartet, ist die Halbinsel Krim bereits in den rechten Farben gehalten. Im großen Kinderkaufhaus nebenan gibt es Militärspielzeug ohne Ende – der Bogen wird geschlagen vom Großen Vaterländischen Krieg bis zur modernsten Technik und Ausrüstung des heutigen Tages. Dass in der einstigen Roten Armee nicht nur Russen kämpften, ist kaum noch vermittelbar. Alles überstrahlt das Sankt-Georgs-Band, das Symbol russischer militärischer Tapferkeit.
Auf der anderen Seite der Intellektuellen-Diskurs. Auch hier bleibt es meistens dabei – der Streit zwischen Kiew und Moskau sei innere Angelegenheit! Provoziert durch den Westen sei der enge Bruderbund zwischen Russen und Ukrainern zerstört, seien Russen und Ukrainer in der Ostukraine in den Bürgerkrieg getrieben, seien die Russen der Halbinsel Krim durch das schnelle Eingreifen der Putin-Administration vor den Angriffen der ukrainischen Nationalisten, Faschisten und Bandera-Leute gerettet worden. Häufig ist das Argument zu vernehmen, dass ja selbst der scharfe Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski gesagt habe, im Falle eines künftigen Wahlsiegs gegen Putin die Krim nicht wieder herausrücken zu können. Eine Hilfskonstruktion, um zu beweisen, dass Putins Feldzug allgemeine und verbreitete russische Befindlichkeit ausdrücke. Der Einwurf, dass wenigstens Aljaksandr Lukaschenka die Krim-Annexion auch weiterhin eindeutig verurteile und für einen großen politischen Fehler halte, wird abgewehrt mit dem Hinweis, Lukaschenka folge hier nur begrenzten eigenen Interessen.
Die Situation sei verfahren genug, sehr habe man auf die Bundesregierung gesetzt, auf die Stimme der Vernunft aus Berlin. Stattdessen habe Angela Merkel sich auf die Seite der Scharfmacher in der EU gestellt – also der Regierungen in den baltischen Republiken, in Polen und Rumänien. Vielfach wird in Moskau bei Kennern der Außenpolitik derzeit ein neues Helsinki beschworen, was verblüffen mag, denn schließlich hatte der dort 1974 eingeleitete Prozess den Untergang des Sowjetsystems nicht aufhalten können. Gesucht wird jetzt eine Vorgehensweise, bei der beide Seiten – Russland und der Westen – sich gegenseitig versichern, die inneren Angelegenheiten der anderen Seite zu respektieren. Klar, dass die Grenze der Einflussbereiche der Bug bleiben soll, die frühere Westgrenze der Sowjetunion. Es wird noch einiges Wasser die Moskwa hinabfließen, ehe Russlands Gesellschaft die Suppe ausgelöffelt haben wird, die ihr Staatspräsident Putin mit der abenteuerlichen Ukrainepolitik eingebrockt hat. Das Hirngespinst, ein modernes Russland könne sich politisch und wirtschaftlich vom Westen isolieren, hat sich bereits einmal kräftig blamiert, weil man sich in Moskau eingebildet hatte, alleine so etwas wie allgemeingültigen Sozialismus aufbauen zu können. Es war ein Irrweg. Die Wiederholung nun mit kapitalistischen Vorzeichen ist allerdings ausgeschlossen, auch wenn manche Kremlstrategen es augenblicklich anders sehen wollen.