17. Jahrgang | Nummer 24 | 24. November 2014

Dieter Goltzsche zum Achtzigsten

von Klaus Hammer

„Brückegehen“ hat er seine Ausstellung genannt, die die Akademie der Künste in ihrer Reihe „Sehen und Denken“ 2012 veranstaltete, und dazu ein Künstler-Credo geschrieben:

Im Traum geht jeder andere Brücken.
Man ist nicht der, für den man angesehen wird.

Wir gehen über Brücken,
zwischen Realitäten.
Brücken sind Stege über Gräben.
Wenn ich die Tusche vergieße,
wird’s kein Brett, auch kein Gerüst aus Stahl.
Die Bildfläche überbrückt anderes
In meinem Beruf.

Bevor wir die andere Seite
bei unserem Brückengang erreichen,
hoffen wir dort auf festere Identität.
Dieses Gefühl, dann, wirkt
nur einen Sekundenbruchteil lang.
[…]

Der „Brückenbauer“ Dieter Goltzsche, einer der bedeutendsten deutschen Zeichner der Gegenwart, der innerlich stets unabhängig geblieben ist, wird 80. Der gebürtige Dresdner, seit 1960 freischaffend in Berlin tätig, studierte an der Dresdner Hochschule der Bildenden Kunst bei Hans Theo Richter und Max Schwimmer, zwei Meistern, wie sie stilistisch unterschiedlicher nicht sein können: Der eine stellte in maßvoller Verhaltenheit allgemeinmenschliche Verhältnisse, handlungsarme Alltagssituationen dar, während sich der andere durch unbegrenzte Bildphantasie, die Leichtigkeit des Strichs und das elegante Spiel der Linien auszeichnete. 1958 bis 1959 war Goltzsche Meisterschüler an der Akademie der Künste bei Max Schwimmer, 1980 bis 1992 Dozent für Malerei und Graphik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, wo er 1992 bis 2000 auch als Professor lehrte. Er wurde 1992 Mitglied der Akademie der Künste, und von den vielen Auszeichnungen, die er erhalten hat, sind 1998 der Hannah-Höch-Preis der Stadt Berlin und 2010 der Hans-Theo-Richter-Preis der Sächsischen Akademie der Künste hervorzuheben.
Für den Zeichner, Grafiker und Maler Dieter Goltzsche wurde seine Umwelt zum Fokus, zur Welt im kleinen Maßstab. Sie lieferte ihm Anlass und Hintergrund, um heutige (Großstadt-) Erfahrung in der ganzen Spanne zwischen Unrast und Einsamkeit, zwischen visionärem Träumen und banaler Alltäglichkeit tagebuchartig einzufangen. Seine Formwelt entfaltet sich aus den ausbalancierten Bezügen farbiger Texturen, aus dem Wechselspiel von Anpassung und Kontrast, aus assoziativen Zuordnungen. Der Improvisation, der Freiheit des Spiels folgt die zunehmende Begrenzung durch Definition, durch Form- und Farbentscheidung. Das Flüssige gerinnt zum Festen, das Diffuse zum Geformten, und dieses wiederum tendiert zur Auflösung. Was auch immer an Emotionen in seinen Arbeiten vorscheint, ist nicht expressiv, sondern zutiefst subjektive Darstellung. „Das Elend der Welt scheint es zu verbieten, aber ich meine, wir können heute erst einmal nur noch eine private Bilderwelt kreieren“, sagte Goltzsche 1998 anlässlich der Verleihung des Hannah-Höch-Preises.
Der Künstler greift ein, in spielerischer Freiheit, in der Lust am poetischen Fabulieren, damit die Bildsituation, die immer auch die seine ist, offen wird, offen bleibt. Das Fragmentarische, das non finito ist seinen Arbeiten eigen. Mit dem sichtbar leicht, nie massiv materiell oder auffallend ekstatisch gesetzten Pinselstrich bricht er die Farbflächen auf und nimmt ihnen alles Dekorative. Neben einem kontrastfördernden Schwarz springt die „warme“ Farbe Rot den Betrachter förmlich an, während die „kalte“ Farbe Blau vor ihm zurückweicht. Die suggestive Wirkung von gegeneinander gesetzten Primärfarben erprobt Goltzsche in ganzen Blättern, wobei er sich auf höchst unterschiedliche Motive konzentriert. Der Vielansichtigkeit der Welt, die das jeweils eine, stets unvollkommene oder falsche Weltbild abgelöst hat, entspricht im Künstlerischen die Vielfalt des offenen Experiments.
Schon seit geraumer Zeit fand Goltzsche über die Reduktion der Farbe zu einer neuen experimentellen Offenheit: Die gegenständliche Welt bannt er in Chiffren und Hinweisen, die den deutungswilligen Betrachter in wahre Labyrinthe führen. Die Betonung liegt ebenso sehr auf der Beschreibung des problematischen Ich als auch auf einer Hommage an die Weite, die geistige Transparenz wie Konzentration der uns umgebenden Welt. Mitunter lassen sich ortlose Szenerien, Figuren, Köpfe, Gesichte und andere zeichenhafte Elemente in entzifferbaren, manchmal im Bildtitel aufgelösten Konstellationen ausmachen. Einen „Text“, eine „Erzählung“ gibt es allerdings nicht. Immer bleiben Bildreste, instabile, schwebende Strukturen, Linien, die sich umschlingen und sich dann im Ungewissen verlieren. Das semantische Feld von Warnzeichen wird zunehmend durch zurückgebliebene Spuren menschlicher Präsenz ersetzt. Sind dies Reste von Eigensinn, Zeugen emotionalen Protestes, Hoffnungspartikel oder Motivfragmente einer verklingenden Menschlichkeit?
Im Raum der zeichenhaften Abstraktion vertritt Goltzsche eine lyrisch-musikalische Komponente. Wie ein musikalischer Satz oder eine lyrische Struktur ist das Ereignis nicht zu bestimmen, sondern allein anschauend zu empfinden. Seine Arbeiten sind wie konzertante Sätze oder Metaphern einer lyrischen Empfindung, eines visuellen Erlebnisses der Welt. Die Erinnerung an das Gegenständliche wird geweckt und zugleich wieder gelöscht. Allein in der Empfindung klingt das Erlebnis nach.

Zum 80. Geburtstag von Dieter Goltzsche zeigt die Berliner Galerie „Parterre“ die Ausstellung „Florett“ (Zeichnungen und farbige Arbeiten auf Papier aus den Jahren 1960 bis 2014): Danziger Str. 101, 19. November 2014 bis 18. Januar 2015; geschlossen vom 20. Dezember bis zum 2. Januar.