17. Jahrgang | Nummer 22 | 27. Oktober 2014

Querbeet (XLIV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal eine alte Straßenbahn, kannibalistische Wirtschaftsberater, dreckige Tiraden und tattrige Lamenti mit Stars

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In der polnischen Hafenstadt Elbing in Ostpreußen vor vierzig Jahren. Das Stadtzentrum damals: leer bis auf die monumentale Ruine einer gotischen Kirche. Ansonsten: lauter sauber gemähte Rasenstücke, akkurat eingefasst mit Steinen. Es sind alte Bordsteinkanten, die markieren, wo einstmals Häuser standen. Schön und entsetzlich zugleich. Ein Mahnmal etwa auf halber Strecke zwischen Danzig und Königsberg.
Doch das ist jetzt verschwunden. Just im letzten Jahrzehnt hat man es zugebaut. Ich bin perplex. Auf den alten, von Bomben und Panzern abgeräumten Grundstücken prunken hanseatische Gotik und Renaissance und auch ganz zeitgenössische Architektur. Der Dom ist komplett restauriert, die City wieder bewohnt. Freilich, das Ganze ein ästhetisch wagehalsiges und bezüglich denkmalpflegerischer Doktrinen ziemlich unorthodoxes Konglomerat aus perfekten Kopien, akribischer Wiederherstellung der ganz wenigen schwerst ruinösen historischen Gebäude, aus geschickten Nach- und mal mehr, mal weniger gelungenen, kitschigen baulichen Neuerfindungen. Aber alles in allem: Elbing strahlt. Eine Wiederauferstehung! Auf mich wirkend wie ein Wunder.
In einer Straße nahe dem Alten Markt steht, als kurioses, rührendes Schaustück, ein originaler Straßenbahnwaggon aus der Vorkriegszeit. Er erinnert an die Gründung der Straßenbahn am 22. November 1895. Mit vielen historischen Fotos an das alte deutsche Elbing. Eins freilich erinnert sehr speziell an den Beginn der polnischen Geschichte: Mit einem Gruppenfoto der nach dem Inferno ersten polnischen Straßenbahnbesatzung 1946. Es sind Frauen und Männer, Überlebende des Krieges, noch sichtlich von ihm gezeichnet inmitten eines Ruinenfelds, Ein kleines, zutiefst anrührendes Bild. Mit Leuten, die wohl nicht mehr leben, und die man liebend ins Herz schließen muss. Auch sie brachten ein Wunder zustande.

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Großartige Idee mit schockierendem Ergebnis: Amerikaner und Briten hatten in ihren Lagern für deutsche Kriegsgefangene Mikros installiert und das ungenierte, von diversen Rücksichten völlig freie Gerede der Männer mitgeschnitten. Die Protokolle, 150.000 bedruckte Seiten, kamen erst jetzt aus den Archiven an die Öffentlichkeit. Der Historiker Sönke Neitzel und der Sozialpsychologe Harald Welzer haben sie ausgewertet („kontextualisiert“) und daraus das 500-Seiten-Buch „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ gemacht. Der Regisseur Thomas Dannemann vom Schauspiel Hannover kelterte daraus den nahezu unerträglich beklemmenden, zweistündigen Theaterabend „Soldaten“.
Sechs Schauspieler treten auf, einer davon ist der Wärter, die fünf anderen hocken als Gefangene in Glaskästen. Und quatschen sich die Seele und den Frust und auch die Traumata aus dem Leib. Es ist der Horror! Doch wirklich entsetzlich wird es, wenn sich das kalte Grauen vermischt mit warmem Gemenschel: Das Mordgeschäft als der alltäglich zu verrichtende soldatische Job. Furchtbar, wie aus eigentlich ganz normalen Leuten routinierte Tötungsmaschinen werden mit allerhand sportlichem Spaß an der Sache. Dass dazu noch reichlich faschistische Propaganda abgelassen wird, versteht sich.
Die Regie, die freilich auf die schier unerträgliche Wirkung des so unheimlich locker dahin geplauderten Textes bauen kann, erfindet obendrein durch geschickte Montagen, gepaart mit speziellen schauspielerischen Momenten, starke theatralische Bilder. Das alles ist schwer schockierend. Anderseits kommt uns die entsetzliche Verrohung des kleinen Mannes in Uniform, wenn er denn die Gegner kalt zu machen hat, hinsichtlich der massenhaft gegenwärtigen Kriegsgräuel samt ihrer propagandistischen, also ideologischen Unterfütterung gar nicht so fremd und fern vor. Die mit fatalem Leistungsstolz und klammheimlicher Ahnung des Verbrecherischen, des Entmenschten eingefärbten Erzählungen unserer Väter und Großväter von ihrem Ausnahme-Erlebnis Krieg erscheint uns Nachgeborenen erschreckend gegenwärtig. Oder eben schon wieder gar nicht so eschreckend aufgrund der medialen Vermittlung der heutigen so vielfach tobenden Kriege, in der horrible Berichte vom massenhaft eingetretenem Un-Normalen längst alltäglich sind. Der Krieg ist kein Ausnahme-Zustand. Nichts hat das massenhafte Töten aufhalten können – die eigentliche Essenz dieser zwei Stunden im Theater. Man wird sie, trotz allem, immer und immer wiederholen müssen!

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Hat man nicht oft im Kino: Ein tolles Terzett dreier Virtuosen mit virtuosem Text: Schaubühnen-Star Katharina Schüttler, Sebastian Blomberg und Devid Striesow. Johannes Nieber fand das Glück, die drei casten zu können für sein faszinierendes Kammerspiel „Zeit der Kannibalen“. Selten wurde derart sarkastisch der westliche Geist der Zeit, der Politik und Weltwirtschaft auf den Punkt gebracht – als Farce.
Das Trio, abgrundtief aufgeklärt, souverän und doch kaputt von ihren Geschäften und Beziehungen und Nicht-Beziehungen, ist die Besatzung einer fernen Außenstelle einer global agierenden Wirtschaftsberatungsfirma. Man residiert in einem Vier-Sterne-Hotel in der Hauptstadt eines gerade scheiternden Dritte-Welt-Staats; draußen wabert der ewige Smog, krachen Bomben und rattern die Kalaschnikows der religiösen Fanatiker. Die drei stecken in ihrer wie ein Raumschiff hermetisch abgeschlossenen Luxusbude fest und liefern sich gegenseitig erst aashaft durchtriebene, dann böse und schließlich, als die Gotteskrieger in die Zimmertür schießen, hysterische Endspiele.
Die Oberschlauen in Business-Kostüm und Krawatten-Dress schenken sich nichts – wie ihnen (und uns allen) der Turbokapitalismus nichts schenkt. Doch bevor draußen die archaischen Krieger vor der Hoteltür das westliche Trio der Ungläubigen und Verderbten massakrieren, wird gnädig abgeblendet. Schluss mit Business. Das Davor aber: Eine moderne Apokalypse in der Luxuskapsel, dem Büro und Lebensraum der hyperkapitalistischen Wirtschaftskrieger des High-Tech-Westens – ein bizarres Gleichnis unserer Welt.

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Berliner Ensemble: Lauter berühmte Namen: Elisabeth Trissenaar, Helmut Lohner, Hans Neuenfels und Heiner Müller mit „Quartett“ (Koproduktion Theater in der Josefstadt Wien); Klaus Maria Brandauer, Peter Stein und Samuel Beckett mit „Letztes Band“. Und dennoch, um es kurz zu machen: Müllers zynisch geschraubte Tirade zweier hochmögender Herrschaften über Sex und Macht (mit beidem klappt es höchstens noch verbal), die springt mich nicht an; und auch Brandauers in kostbarer Langsamkeit unter Regisseur Steins Anleitung zelebrierte Altherrenstudie mit Tonband übers Tattrigwerden Hochbetagter, mit feinen Einschüben selig erotischer Erinnerungen aus nunmehr unendlich fernen Tagen sowie – da köchelt noch was – mit unvermuteten Wutausbrüchen über die Vergänglichkeit des Fleisches oder über jedwede Verrottung überhaupt – auch dieses schmerzlich komische Endspielchen vermochte mich, bei aller vorausschauenden Identifikation, nicht zu packen.
Müllers böse, immerhin mit pornographischem Witz gewürzte Redeschlacht jenseits aller Liebe nach Laclos‘ Roman „Gefährliche Liebschaften“, geschrieben 1980 und mittlerweile auch nicht mehr allzu prickelnd, besetzte Regisseur Neuenfels mit dem ihm eigenen Charme mit zwei großen Altstars: die Trissenaar knapp 70, der Lohner gerade 80. Da ist man gespannt, wie sie es machen. Sie machen’s mit schleppend althergebrachter Theaterei, in der sie sich verläppern, anstatt den aashaften dirty talk eisig auszustellen auf dem Boulevard des Bösen. Zum Schluss kotzen sie sich am eingenommenen Gift fein eklig zu Tode. „Selbstmord als Krone der Masturbation“, da wenigstens sind sie dicht dran an Heiner Müller.