17. Jahrgang | Nummer 19 | 15. September 2014

Stürzt die Götter vom Olymp

von Horst Möller

Wer hier und heute posaunt: „Stürzt die da oben aus ihren Sesseln!“, der kann das doch nur im Scherz meinen, muss also ein Scherzer sein. Denn die auf dem Olymp hoch droben thronen, schweben über den Wolken, unerreichbar. Ob er die fast 3000 Meter hohen Gipfel des Weltberges, der die Götter von den Sterblichen trennt, vom Hafen Thessalonikis aus überhaupt eines Blickes gewürdigt hat, verrät Scherzer Landolf in seiner Griechenlandreportage nicht. Die sich da unten mit den Lasten der Krise herum zu schlagen haben, die sind ihm wichtig. Seine Lust auf Lebensgeschichten hat sich der nun schon angejahrte Egon-Erwin-Kisch-Jünger erhalten.
Man muss wohl dazu geboren und gehörig auch außerhalb der Thüringer Wald-Wahlheimat bewandert (zudem bisweilen auch einigermaßen trinkfest) sein, um es zu schaffen, dass sich wildfremde Zeitgenossen bereitwillig öffnen. Zu Wort kommt ausnahmslos, wer nicht Bla-Bla zu bieten hat, so zum Beispiel die auf eine Mindestbesoldung herabgestufte Germanistikprofessorin, der honorige Patron einer Armeleute-Absteige, die auf eigene Faust wirtschaftenden Arbeiter einer abgewickelten Chemiebude, der illegale Asylant, mit Billiglohn abgespeiste ausländische Arbeitskräfte in einer umzäunten Touristenhochburg, der auf dem Nebensitz im Flieger eine griechische Zeitung lesende Gefäßchirurg aus dem Klinikum Berlin-Buch, die durch hirnrissige behördliche Auflagen schikanierte Betreiberin eines Kaffeeladens, der ehemalige Banker und jetzt Manager einer Gemeinschaft nebenher gratis praktizierender Ärzte, der 59-jährige drogenabhängige Suppenküchengänger, dem die 250 Euro Rente seiner 90 Jahre alten Mutter die ganze Stütze sind, die jüdische Optikerin, die sich dafür entschuldigt, dass das einst gegenüber Ihresgleichen meistgebrauchte Wort „Scheiße“ ihr nun selber rausgerutscht ist, das griechisch-schweizerische Ehepaar, das mit dem Verkauf ökologischer Farben made in Germany nicht mehr über die Runden kommt, und nicht zu vergessen: der Doktorand, der sich mühsamst – wie dort üblich: freiberuflich – als Gerichtsdolmetscher durchschlägt, den Autor begleitet und auf Anhieb mit ihm harmoniert.
So bunt zusammen gewürfelt diese Informantenschar auch ist (alle werden mit ihrem Namen, viele mit einem Porträtfoto vorgestellt), stimmt im Grunde genommen jeder einzelne irgendwie mit Pater Georgios von der Kirche des heiligen Minas überein, der als seine Weisheit dem ungläubigen Besucher mit auf den Weg gegeben hat: „Gott ist zwar der Einzige, der Wunder vollbringen kann, aber wir Priester, seine Diener, dürfen ihm dabei manchmal auf Erden behilflich sein. Doch heute sind für viele Menschen – vor allem im westlichen Europa – das Geld und die Banken die neuen Priester. Aber sie können nur Wunder für die Reichen vollbringen. Die Armen hoffen vergeblich.“
Mit einem Jesus-Christus-Syndrom, der Bereitschaft, sich Hilfsbedürftigen zuzuwenden und füreinander da zu sein, scheinen jede Griechin und jeder Grieche geboren zu werden. Also ist Griechenland nicht verloren und wird auch nicht verloren gehen? Für jemanden, der nach all den dargebotenen Auskünften und den hinzu genommenen Informationen kundiger Gewährsleute (Konstantin Wecker, Asteris Koutoulas, Stephan Kaufmann) fragt, was aus widerständigen Tugenden geworden ist, die sich einst gegen Türkenherrschaft, nazideutsche Verbrecher, fremde Bevormunder, Peiniger aus dem eigenen Land vielfach bewährt haben (als einer dieser zahllosen namhaften wie namenlosen Heroen wird Mikis Theodorakis gewürdigt), bleibt freilich ein großes Fragezeichen stehen.
Die das blauweiße Staatsschiff ins Schlingern gebracht haben, besetzen auch weiterhin die Kommandobrücke und zeigen sich zu keinem Kurswechsel imstande. Außerstande (oder nicht gewillt?) zeigen sie sich auch, alle um die Zukunft Besorgten gegen den zunehmenden Rechtsdrall zu vereinen. Dass sich Sprecher der „Goldenen Morgenröte“ dem Reporter verweigerten, spricht nur für ihn. Um deren Parolen einzufangen, brauchte er übrigens nicht erst nach Thessaloniki zu reisen. In der Umgebung von Lohmen, dem Ort seiner Kindheit in der Sächsischen Schweiz, treiben die gleichen Typen ihr Unwesen. Wenigstens gelingt denen, die im Lande das Sagen haben, jedoch eine allgemeine Vernebelung nun nicht mehr so ohne weiteres. „Ich kenne keinen Griechen, der sich heute nicht für Politik interessiert. Schließlich entscheiden inzwischen europäische und griechische Politiker im Auftrag der Finanzgewaltigen dieser Welt, wie viel ein Grieche verdient, ob er eine Arbeit und eine Wohnung hat und sich noch etwas zu essen kaufen kann“, lautet die Stimme eines Arztes in diesem Buch, das dazu angetan ist, uns die Augen zu öffnen.
Und wer seinen Blick noch weiter schärfen will, dem seien die ins Deutsche übersetzten, tiefer lotenden sozialkritischen Erzählungen (aus dem Romiosini Verlag, Köln 2006) des einst als „anarchoautonom“ abgetanen Dimitris Nollas wärmstens empfohlen. Landolf Scherzer ist es mit seinem Griechenlandbuch nicht gelungen, dass Kleingeister, die noch unlängst meinten – und das ist ganz gewiss nun kein Scherz –, ihn „Jammerossi“ tadeln zu sollen, das auch weiterhin tun. Siehe da, auf einmal (siehe Der Spiegel) ist er geadelt als der, der er doch schon längst war: „Spezialist für Recherchen vor Ort“.

Landolf Scherzer: Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland, Aufbau Verlag, Berlin 2014, 320 Seiten, 19,99 Euro.