17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Siegerblick. Eine Ausstellungskritik

von Erhard Weinholz

„Sag mal, Opa, wie wars’n eigentlich inner Dee… Dee… Ärr?“ Ja, wie war’s? Der promovierte Philosoph, Mitte Sechzig inzwischen, kommt wieder mal ins Grübeln. Er hat viel mitgemacht bis zum Herbst ’89, mitgemacht in diesem wie in jenem Sinne, denn er hat sich manchem auch verweigert, und gilt der Verwandtschaft nun als Ostexperte. Von Lenin weiß er: Die Wahrheit ist immer konkret. Also: „Zum Beispiel war mal Erich Honecker bei uns in der Gegend, Arkonaplatz, den kennste ja? Da sollte die zweimillionste… Ach so, da muss ich erst mal sagen…“ Generalsekretär des ZK, Vorsitzender des Staatsrates… „Was issen ZK?“… VIII. Parteitag, Wohnungsbauprogramm – der Geschichtserzähler verliert sich im Dickicht der 1000 teils kleinen, teils auch größeren Dinge und will schon aufgeben, da hat er eine Idee: „Wir gehen ins Museum ‚Alltag in der DDR’ in der Kulturbrauerei. Eintritt frei.“
Soll ich ihm, der mit mir Alter, Wohnort und wohl auch den Werdegang gemeinsam hat, soll ich ihm das Museum empfehlen? Zu sehen gibt es eine Menge – ich war sicherheitshalber schon vor ihm da –, und sachkundig ist der Mann auch. Muss er sogar sein, denn während Museen sonst den Unkundigen Belehrung bieten, ist dies eigentlich eines für den Kenner. Eröffnet wurde es Ende 2013; gut acht Jahre hatten die von der „Sammlung industrielle Gestaltung“ übernommenen Räume bei voller Mietzahlung leergestanden. Geld spielt keine Rolle: Träger des Unternehmens ist das Bonner „Haus der Geschichte“. Es verfügt auch über den Fundus der Sammlung, etwa 160.000 Objekte aus vier Jahrzehnten DDR, doch es nutzt ihn nicht. Den Grundstock dieser Kollektion hatte Hein Köster vom Amt für industrielle Formgestaltung hinübergerettet in die neue Staatlichkeit, und zu retten gab es für ihn auch in den Jahren danach mehr als genug. Ausstellen konnte er nur ein Bruchteil davon. Kösters Engagement hatte nichts mit Nostalgie zu tun; ihm ging es vor allem um das Vorbildhafte der damaligen Gestaltung, ihre Brauchbarkeit für Produktion und Konsumtion gleichermaßen. So wurden Voraussetzungen des Alltags kenntlich, noch nicht dieser selbst. Denn Alltag bedeutet ja: Gebrauch der Dinge. Wem sie dann dienen und wozu, was wir, indem wir sie nutzen, erleben, vielleicht auch kompensieren, ist ihnen allerdings oft genug nicht anzusehen. Doch ohne zu wissen, was die Dinge den Nutzern bedeuten oder bedeutet haben, bleibt ihr Alltag unverständlich.
Eben solche Dinge, aber mit anderem Anspruch nun als Köster, zeigt auch das Museum „Alltag in der DDR“, dazu Bilder, Schriftstücke, kurze Filme. Aber eben nicht den Alltag selbst. Hätte man vielleicht verfahren sollen wie bei der Großen Berliner Gewerbeausstellung von 1896? Zur Kolonialabteilung gehörten damals auch Eingeborenensiedlungen, wo Alltag nachgespielt wurde. Das Museum als Kolonialabteilung des Bonner Mutterhauses, das könnte schon passen. Inhaltlich hätte es allerdings wenig gebracht. Zuzuschauen, wie nubische Familien Kaffee kochen, bietet wenigstens ein bisschen Exotik. Zu beobachten, wie ein Ostler den Kessel auf den Gasherd stellt und dann bei einem Tässchen in der Zeitung blättert, kann man sich dagegen sparen. Man müsste wissen, was dabei in seinem Kopf passiert, und das wiederum müsste man erklären. Doch erklärt wird in diesem Museum herzlich wenig.
Vor Rätsel stellt die Wissbegierigen schon das Eingangsarrangement: Viele kleine Büsten stehen da, Marx, Lenin, Thälmann, Ulbricht, und an der Wand hängt ein Transparent mit der Losung „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!“ Standen diese Büsten einst an Straßenecken? Oder bei guten Genossen auf dem Schreibtisch? Und die Losungen – aufs Bewusstsein gewirkt haben die doch sicherlich nicht. Aber welchen Sinn hatten sie dann? Ich vermute: Sie sollten zeigen, wer den öffentlichen Raum beherrscht, Motto: Wo eine Losung ist, da ist die Partei. Dazu werden wir gleich eingangs belehrt: „Die SED verkündet allgegenwärtig… das Ideal der kommunistischen Gesellschaft.“ Ist ja logisch, nicht? Die SED war eine kommunistische Partei, also… Doch mal abgesehen davon, dass die guten Leute kein Deutsch können – es stimmt einfach nicht. Es ist sicherlich äußerst schwierig, die Verhältnisse in der DDR auf den Begriff zu bringen. Die Konzeptoren der Ausstellung aber haben, wie sich auch andernorts zeigt, nicht einmal verstanden, was sie nicht waren, und das scheint mir ein erster Hauptmangel ihres Unternehmens zu sein.
Genug gerätselt, wir schauen uns weiter um: Thema der Halle linkerhand ist die Arbeitswelt, der zur Rechten der Rest des Alltags in diesem sonderbaren Land. Eine Küche, eine VP-Wache, ein Stasi-Dienstzimmer hat man nachgebaut, natürlich auf engstem Raum und mit reduzierter Ausstattung; ein Spind repräsentiert die Armeezeit, die Schrankwand das Wohnzimmer. Doch vieles bleibt dabei unklar. Vor allem: Wessen Alltag zeigt man hier? Den der Mindestrentnerin, des sogenannten Normalverbrauchers, des Kombinatsdirektors? Wie sich ihr Einkommen, ihre Arbeitszeit, ihre Urlaubsmöglichkeiten usw. unterschieden haben, wer sich was leisten konnte und wann, darüber erfährt man nichts. Obwohl doch der eine hier in Berlin zu Silvester in die Eckkneipe ging, der andere ins Hotel „Adria“, um Echte Schildkötensuppe, Zanderschnitte au four mit Schwenkkartoffeln, Rehrücken mit Sc. creme und zuletzt die Eisbombe „Harlekin“ zu genießen – so das Menü zum Jahreswechsel 1957/58. Es ging in der DDR nämlich durchaus nicht immer ärmlich zu. Hier im Museum dagegen gilt der Grundsatz: Luxus? Ham wa nich! Dass die Differenziertheit sowohl der Angebote als auch der Lebensweisen in der DDR nicht deutlich wird, halte ich für einen zweiten Hauptmangel der Ausstellung. Man liest nur mit Blick auf die Ära Honecker: „Statt der angestrebten klassenlosen Gesellschaft entwickelt sich eine Mehrklassengesellschaft.“ Eine klassenlose DDR haben die Herrschenden aber nie wirklich angestrebt, und eine Mehrklassengesellschaft war die DDR Zeit ihrer Existenz – egal, von welchem Klassenbegriff man ausgeht.
Anderen Behauptungen fehlt wiederum die nötige zeitliche Konkretisierung: „Käuferschlangen gehören in der DDR zum alltäglichen Straßenbild.“ Trifft sicherlich für die 50er Jahre zu, nicht aber – ich bin damals viel herumspaziert in Berlin – für die 80er. Da stand man nur an, wenn es etwas Besonderes gab, und das geschah recht selten (sonst wäre es ja auch nichts Besonderes gewesen). Ein zweites Beispiel: „Viele Maschinen“, liest man, „stammten noch aus der Vorkriegszeit.“ 1988 war die Hälfte der Anlagen nicht älter als zehn Jahre (warum wird das nicht erwähnt?), der Anteil der Vorkriegsmaschinerie dürfte damals bei gut zehn Prozent gelegen haben. Undatiert ist auch das Gros der meist aus den 70er/80er Jahren stammenden Ausstellungsstücke. So kann man klammheimlich zum Teil erheblich Älteres untermischen: „Die Beratung im Arbeitskollektiv idealisiert ein Bild des Nationalpreisträgers und Mitgliedes des ZK der SED, Erich Wirth.“ Gemalt hat das Bild Erich Hering; 1953 war es eines der Glanzstücke der III. Deutschen Kunstausstellung. Weshalb hat man nicht Sighard Gilles „Brigadefeier/Gerüstbauer“ (1975/1977) danebengestellt? Auch in der DDR hat es Entwicklungen gegeben, und zwar recht beträchtliche. Dass man sie dem Besucher zumeist verhehlt, darin sehe ich einen dritten Hauptmangel dieses Projekts. Anscheinend waren die Konzeptoren der Meinung: Was soll’s, war ja eh alles Diktatur, ’49 wie ’89. Ich vermute das auch deshalb, weil sie die politische Formung des Alltags durch Staat und Partei so stark betonen: „Im Takt des Kollektivs“ ist der Teil über den Arbeitsalltag betitelt; von den oft miserablen Arbeitsbedingungen oder von Konflikten am Arbeitsplatz ist hier kaum die Rede, um so mehr vom sozialistischen Brigadeleben.
Dabei hätten sich gerade an der Schnittstelle von Staatspolitik und Alltag mühelos Wandlungen zeigen lassen. Auf  einem Foto ist ein Schild zu sehen: „Zentraler Klub der Jugend und Sportler. Mit Niethosen kein Eintritt“. Undatiert, aber wahrscheinlich aus den frühen 60ern. Mit den Jeans verbanden sich damals Sehnsüchte auf der einen, Angstvorstellungen auf der anderen Seite, der des Staates. Etwa anderthalb Jahrzehnte später, 1978, kamen die ersten brauchbaren DDR-Jeans in den Handel, Marke „Wisent“, zwar kein Ersatz für die echten Levi’s, aber immerhin. Doch rings um das genannte Foto hängen andere, datierte aus den 70er und 80er Jahren – was das suggerieren soll, ist klar. Man muss diese Ausstellung also mitunter geradezu gegen den Strich lesen, wie zu DDR-Zeiten das „ND“.
Wer das nicht kann, wer wenig bis gar nichts weiß von der DDR, und das dürften die meisten der Besucher sein, lernt hier ein Land kennen, wo höchstens mal poplige Familienfeiern den grauen Alltag aufhellten, wo man im Takt des Kollektivs am Schraubstock werkte (er ist das häufigste Utensil dieser Abteilung) und zur Ermunterung der Massen überall fröhliche Kampflieder erschallten. Das hat schon etwas von Kolonialmuseum an sich.
Ein Begleitbuch liegt nicht vor. Es würde auch die vielen Ungereimtheiten und Mängel dieser Ausstellung deutlicher hervortreten lassen. Wer mehr erfahren will, ist auf die Führungen angewiesen. Vermutlich liegen sie inhaltlich auf dem Niveau der Tafeltexte. Doch sollte man nicht versuchen, den bestallten Führern Konkurrenz zu machen. Im Gästebuch ist zu lesen: „Erinnert an die DDR fand ich mich, weil ‚Erklärungen’ für ‚Kleingruppen’ vom ‚Wachpersonal’ verboten wurden und… die Deutungshoheit der ‚Leitung’ vorbehalten bleibt.“ Auch das passt zum Kolonialstil dieses Museums. Dass die Konzeptoren der Ausstellung allem Anschein nach von ihrem Thema nicht viel verstehen, war für sie aber kein Arbeitshemmnis. Im Gegenteil: Gerade so konnten sie sich ganz unbefangen der Publikumsverdummung widmen.

Nachdruck aus Abwärts Nr. 4, September 2014.