17. Jahrgang | Nummer 19 | 15. September 2014

Die Leiche als corpus delicti

von Frank-Rainer Schurich

Als der Altmeister der Kriminalistik Hans Gross noch Erhebungsrichter in einem kleinen oststeierischen Städtchen war, meldete man ihm eines Tages einen grausigen Fund. Im Brauhausgarten sollte ein großer verendeter Bernhardiner eingescharrt werden, und als die Grube ausgehoben worden war, kam ein vollständiges menschliches Skelett zum Vorschein. Und alle wussten augenblicklich, wessen Gebeine dort so lange ruhten. Denn den Viehhändler Kreuzmüller vermisste man schon seit einigen Jahren, und es hielt sich das zähe Gerücht, dass ein gewisser „Sauschneider“ (ein herumziehender Schweinekastrierer) namens Rattinger den Verschollenen meuchelte, was Kreuzmüllers Verschwinden hinreichend erklären konnte. Wie überall auf der Welt brauchten die anständigen Kleinbürger dieser kleinen Sauberstadt für alles ein abschließendes Urteil. Ambiguität und offene (Vermögens-)Fragen waren ihnen ein Gräuel. „Der Rattinger ist ein Mörder“, raunten sich die Leute zu, „und die Leiche wird man eines Tages schon finden.“
Dem vermeintlichen Mörder war der Mord bislang nicht zu beweisen gewesen – weil die Leiche fehlte. Aber nun war sie ja vorhanden! Der Stadtsheriff fuhr nach Auffinden des Skeletts vom Brauhausgarten einen geharnischten Ersten Angriff, wie es in der Polizeisprache heißt, gegen Rattinger und schlug mit aller staatlichen Autorität zu. Aber trotz dieser Attacken war jener außerordentlich unwillig, ein Geständnis abzulegen.
Hans Gross indes hielt den einzigen Polizeimann des Städtchens zurück und rief den Gerichtsarzt, der zu dem Schluss kam: „Den Mörder erwischt ihr gewiss wieder einmal nicht; denn der Ermordete liegt hier, seitdem die Hunnen in unsere Lande eingefallen waren, das ist auch ein alter Hunne.“ Enttäuscht trabte der Polizist wieder in seine Beamtenstube und fuhr den Ersten Angriff zurück.
Gross aber schickte den Schädel an den berühmten Anatomen Hyrtl, den Lehrer des Mediziners, für seine Schädelsammlung. Und Hyrtl schrieb zurück: „Es freut mich, dass mein Schüler bei mir etwas gelernt hat, es ist wirklich der Schädel eines vor vielleicht 1000 Jahren verstorbenen Mongolen; er ist mit einem spitzen Werkzeug erschlagen worden, aber euer Rattinger ist an dessen Tod zuverlässig unschuldig.“
Wie wird man aber nun Altmeister der Kriminalistik? Eine wichtige Voraussetzung scheint zu sein, einen guten Lehrmeister zu haben. Und Hans Gross hatte einen! Erst eine Woche als Grünschnabel in der Praxis, bekam sein Untersuchungsrichter Landgerichtsrat von Andrioli einen seltsamen Fall zugeteilt. Der wohlhabende, alleinlebende Pankraz L. war von seiner Brettersäge, einige Meilen nördlich von Graz gelegen, spurlos verschwunden. Man suchte und suchte, fand ihn aber nirgendwo. Was man fand, waren aber höchst verdächtige Umstände. Kurz vorm Abtauchen des Sägemeisters gab es einen heftigen Streit mit dem Bauernknecht Josef W. um ein reizendes Mädchen. So war die Erklärung für Pankraz‘ Abhandenkommen einfach: Beim Streit hatte Josef W. den Widersacher erschlagen, und er bekam in seine Kammer auf seinen bescheidenen Tisch eine Mordanzeige.
Die Verhöre waren für ihn qualvoll und nahmen kein Ende. Er stritt ab, den Mord begangen zu haben, verteidigte sich allerdings nicht sehr geschickt. Er widersprach sich mehrfach und leugnete zweifellose Tatsachen. Den Streit mit Pankraz leugnete er dagegen nicht, erklärte aber, dass der Streit glimpflich ausgegangen sei: Man habe sich bei gegenseitiger guter Gesundheit getrennt.
Herr von Andrioli – Hans Gross war entsetzt! – ließ Josef W. daraufhin laufen. Später erklärte der hohe und weise Rat: „Kein Mörder kann zum Tode verurteilt werden, solange die Leiche des Ermordeten nicht gefunden und untersucht worden ist. Alles psychologisch zusammengefasst, können wir nicht sagen, dass W. den L. umgebracht haben m u ß.“
Der Landgerichtsrat sollte Recht behalten. Einige Wochen später meldete sich Pankraz L. bei Gross, der immer noch bei Herrn von Andrioli praktizierte. Dem Brettersägemeister war zu Ohren gekommen, dass er gerüchteweise von Josef W. ermordet worden sein soll, und nun wolle er leibhaftig und somit überzeugend mitteilen, dass er wirklich noch lebe und sein Widersacher Josef völlig unschuldig sei. Des Rätsels Lösung: Pankraz L. hatte sich längere Zeit bei Verwandten in Ungarn aufgehalten, um einige Geldfragen zu regeln. Und er hatte keinem Menschen Bescheid gegeben!
Ende gut, alles gut, könnte man hier meinen, die vermeintliche Leiche lebte und klärte den Kriminalfall vollständig auf. Wenn dagegen ein Mord im Versuche steckenbleibt, kann das dicke Ende ebenfalls mit zeitlicher Verzögerung auf die Täter niedergehen, wie die folgende Geschichte aus der Mythologie zeigt.
Der griechische Dichter und Sänger Arion (um 600 v. u. Z.) hatte eine sehr erfolgreiche Tournee durch Sizilien und Süditalien absolviert und die dortigen Hitlisten erobert. Berauscht vom Erfolg und etwas erschöpft von den Events trat er per Schiff die Heimreise an. Arion hatte eine gute Agentur und so auch einen Batzen Geld an Bord gebracht – den Lohn für seine Sangeskunst. Nun war es sein Pech, auf eine unmusikalische, habgierige Schiffsbesatzung zu treffen, die nicht zu seiner Fan-Gemeinde gehörte. In fieser Absicht zerrten sie ihn übers Deck, um ihn feige über Bord zu werfen. Aber Arions Worte fanden Gehör: Er durfte noch ein letztes Lied singen, sozusagen den Schwanengesang. Dann stürzte er sich singend in die Fluten. Das war aber gar nicht so geplant. Trotzdem startete niemand eine Rettungsaktion. Im Gegenteil: Schnell zogen die Mannen das Fallreep, damit sich Arion, der nicht mehr zu sehen war, nicht vielleicht noch retten konnte.
Auf dem Kahn stieg ein großes Fest. Der Kapitän hatte Arions Hab und Gut in seinen Besitz gebracht und der Besatzung versprochen, etwas abzugeben. Korinth lag viele Tage vor ihnen, und die raffigen Seeleute waren sich sicher, dass der Sänger ertrunken war.
Aber es kam alles ganz anders! Vom Gesang angezogen trug ein Delphin den Sänger-Dichter an das rettende Ufer. Arion eilte nach Korinth, wo er noch vor seinen Mördern, die wegen der Feierlichkeiten nicht recht vorangekommen waren, eintraf. Die Seeleute brachten dem verehrten Bürgermeister scheinheilig die traurige Kunde, dass der Nationalheld Arion, der immer in den Charts zu finden war, republikflüchtig die Heimat verraten habe und in Tarent geblieben sei. Das Stadtoberhaupt zeigte sich pro forma bestürzt, dann trat plötzlich das Opfer höchstselbst auf die Bühne des Lebens …
Plot point heißt in der Filmsprache eine solch unerhörte Wendung im Handlungsgeschehen. Er treibt die Geschichte voran, auf die Lösung zu, die hier den geldgeilen Käpt’n und seine Mannen kopflos gemacht haben wird.