von Mathias Iven
Es war der Zufall, der Nietzsche im Sommer 1881 erstmals nach Sils-Maria, in den Kanton Graubünden führte. Aus Italien kommend gerieten all seine Pläne durch einen verpassten Anschlusszug durcheinander. Schon fürchtete er, das Engadin wieder verlassen zu müssen. Hilfe kam von einem jungen Mitreisenden. Dieser, so informierte er seine Schwester Elisabeth, „bemühte sich in uneigennütziger Weise um mich und hat mir ein stilles Plätzchen ausgemittelt, an dem ich gerne bis ans Ende sitzen bleiben möchte“. Der junge Mann – offenbar einer der beiden Söhne von Paul Zuan, dem Erbauer und Besitzer des Silser Hotels „Edelweiß“ – quartierte Nietzsche kurzerhand im Haus des Gemischtwarenhändlers Giàn Durisch ein. Jahre später wird dieser sich vor allem an einen der Momente erinnern, als Nietzsche ihm bei seiner erneuten Rückkehr nach Sils mit den Worten gegenübertrat: „Wie froh bin ich! Nun bin ich wieder zu Hause!“
Alles hatte den Anschein des Perfekten, selbst die Wege, Wälder, Seen und Wiesen schienen wie für Nietzsche gemacht. Wie zuvor schon Venedig wies er auch Sils-Maria eine geographisch-klimatische Sonderstellung zu. Was Nietzsche brauchte, war ein reiner Himmel und den monatelang, „sonst komme ich nicht von der Stelle“. Doch die „Neuerungssucht“ der Jahreszeiten machte seine Hoffnungen in den wenigen Wochen seines ersten Silser Aufenthaltes schnell zunichte: „Schneewinter, Herbststürme und Sommergewitter und Märzthautage“ wechselten sich ab, die Sonne wärmte ihn auf seinen Spaziergängen nur selten.
Und dennoch: An diesem Ort, „6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen!“, wird der für seinen Zarathustra so wichtige Gedanke der ewigen Wiederkunft geboren, „diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“. – Insgesamt sieben Mal hielt sich Nietzsche in Sils auf, mehr als 600 Tage verbrachte er in der Engadiner Berglandschaft. Bei seinem letzten Besuch im Sommer 1888 hatte er, wie so oft, mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Nach seiner Ankunft dauerte es eine Woche, „ehe ich mich wieder mit Sils und dem Leben vertrug“. Einen Monat später sah es nicht anders aus: „Der alte miserable Zustand von Kopfschmerz und Erbrechen fast permanent; viel zu Bett; wenig Kraft selbst zum Spazierengehn.“
Nietzsches Produktivität war trotz allem ungebrochen und erreichte in diesem Jahr ihren Höhepunkt: Er bereitete die mit dem Untertitel „Ein Musikanten-Problem“ versehene Abrechnung „Der Fall Wagner“ für den Druck vor, schrieb am „Antichrist“ und war mit der im Titel auf Wagners Götterdämmerung anspielenden Schrift „Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt“ befasst. Von letzterer sagte er, dass es „nichts Substanzreicheres, Unabhängigeres, Umwerfenderes, – Böseres“ für ihn gäbe.
Nietzsches Silser Aufenthalten nachzuspüren, seinen Wegen und seinem Denken zu folgen, ist noch immer ein Thema. So auch für Ludger Lütkehaus, der zurzeit gemeinsam mit David Marc Hoffmann an der Herausgabe von Nietzsches Werken letzter Hand arbeitet. Mit seinem schmalen, dennoch sehr gehaltvollen Büchlein entführt Lütkehaus den Leser in Zarathustras Silser Lärchenwald und lässt ihn teilhaben an der Entstehung von Nietzsches Hauptwerk. „Nietzsche und der Wald“, so heißt es an einer Stelle, „das ist der Wanderer mit seinem dringend benötigten Schatten; der Raum, in dem dieser Wanderer mit seinen nicht ersessenen, sondern er-gangenen Gedanken im Rahmen des ihm Möglichen zuhause war.“
Der Wald, die Landschaft, Sils-Maria: Sie verschmelzen bei Lütkehaus zu einer Dreieinigkeit der Inspiration. – Für den, der sich auf die „philosophisch wanderführertaugliche“ Skizze von Lütkehaus einlässt, erschließt sich eine Welt abseits aller Aktualitätshetze, eine Welt voller Ruhe, Größe und Sonnenlicht, „ein einzigartiger Ort in einem unvergleichlich geweiteten Raum“.
Ludger Lütkehaus: „Ruhe. Größe. Sonnenlicht.“ Friedrich Nietzsche in Sils-Maria, Libelle Verlag, Lengwil 2014, 91 Seiten, 18,90 Euro.
Schlagwörter: Friedrich Nietzsche, Ludger Lütkehaus, Mathias Iven