17. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. August 2014

Erstaunliche Tränen

von Fritz Klein

Weinend, die Hände ringend, nicht mehr fähig, die kühle Beherrschung zu wahren, die als ein Merkmal seines Berufes angesehen wurde, trat am Abend des 1. August 1914 ein 60jähriger Diplomat an das Fenster eines Arbeitszimmers in der russischen Hauptstadt St. Petersburg. Es war Graf Friedrich Pourtalès, Botschafter des deutschen Kaisers beim Zaren, und er hatte soeben dem russischen Außenminister Sasonow die Kriegserklärung überreicht.
Nicht nur Graf Pourtalès weinte in diesen Tagen. Tränen vergoß auch der englische Ministerpräsident Asquith im Gespräch mit dem deutschen Botschafter über den bevorstehenden Krieg zwischen England und Deutschland. Und es weinte auch der Herzog von Avarna, Italiens Botschafter in Wien – freilich nicht, weil sein Land in den Krieg eintrat, sondern weil er dem österreichisch-ungarischen Außenminister Grafen Berchtold mitzuteilen hatte, daß seine Regierung nicht an die Seite ihrer Verbündeten Deutschland und Österreich-Ungarn zu treten, sondern neutral zu bleiben beabsichtige.
Fünfzig Jahre sind seitdem vergangen und die erstaunlichen Tränen jener Botschafter und Ministerpräsidenten sind vergessen – erstaunlich, weil Männer sie weinten, die doch wissen mußten, zu welchen Ergebnissen eine Politik führen würde, an der sie alle ihren Anteil hatten. Nicht vergessen ist der Tod von Millionen, das Leid und der Schrecken, die in jenen heißen Sommertagen ihren Anfang nahmen. Nicht vergessen sind Gewalttätigkeit und Hinterhältigkeit von Herrschenden, die für Wohlfahrt, Sicherheit und Frieden der Völker zu regieren vorgaben und in Wahrheit einen furchtbaren Krieg vorbereiteten.
Jahre vor dem Juli 1914 lebte Europa bereits in der Furcht vor einem kommenden großen Krieg. Immer rascher folgten Krisen und Kriege aufeinander. Als im November 1911 die in der zweiten Marokkokrise heraufbeschworene Kriegsgefahr noch einmal abgeklungen war, rief August Bebel in seiner letzten großen außenpolitischen Reichstagsrede den bürgerlichen Abgeordneten zu: „… eines Tages kann die eine Seite sagen: Das kann so nicht weitergehen. Sie kann auch sagen: Halt, wenn wir länger warten, dann geht es uns schlecht, dann sind wir der Schwächere statt der Stärkere. Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer … gegenseitig als Feinde ins Feld rücken. … Was wird die Folge sein? Hinter diesem Krieg steht der Massenbankrott, steht das Massenelend, steht die Massenarbeitslosigkeit, die große Hungersnot.“ Auf diese packende Voraussage, die so genau eingetroffen ist, reagierte ein Abgeordneter der bürgerlichen Parteien mit dem Zwischenruf: „Nach jedem Krieg wird es besser!“
Diese wahnwitzige Behauptung war kein vereinzelter Temperamentsausbruch eines übereifrigen Kriegsanbeters. Sie kam aus einer Geisteshaltung, die in den herrschenden Kreisen des wilhelminischen Deutschlands weit verbreitet war. Seit Reichskanzler Bülow im Jahre 1897, zu Beginn des imperialistischen Zeitalters, das Wort vom „Platz an der Sonne“ geprägt hatte, den Deutschland für sich beanspruche, hatten sich die Leiter der deutschen Politik nach Kräften bemüht, die weltpolitische Stellung des imperialistischen Deutschlands gegenüber seinen Konkurrenten zu verbessern. Deutsche Truppen wurden 1900 nach China zur Unterdrückung des Boxer-Aufstandes gesandt – wie der jüngere Moltke es formulierte, „aus Geldgier, die uns bewogen hat, den großen chinesischen Kuchen anzuschneiden. Wir wollten Geld verdienen, Eisenbahnen bauen, Bergwerke in Betrieb setzen.“
Als Anfang 1905 die französischen Imperialisten Anstalten machten, das bisher noch zu keiner Interessensphäre gehörende nordafrikanische Sultanat Marokko in ihre politische und wirtschaftliche Abhängigkeit zu bringen, intervenierten die deutschen Imperialisten und brachten durch scharfes Vorgehen Europa an den Rand eines Krieges. Als einen Hauptgrund dieser deutschen Aktivität formulierte Bülow: „Die deutsche Montanindustrie hat ihr Augenmerk auf Marokko gerichtet, um in den reichen Mineralschätzen des Landes Ersatz zu finden für ihre bisherigen, von der Konkurrenz mehr und mehr in Anspruch genommenen Bezugsquellen für Eisenerze. Bei der fortschreitenden Verminderung der Länder, in denen noch freier Absatz und unbeschränkte wirtschaftliche Betätigung möglich sind, hat Marokko deshalb für uns eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.“
Neben Ostasien, Südamerika und Afrika war der Nahe Osten ein Hauptzielgebiet der deutschen imperialistischen Expansion. Das wichtigste Unternehmen auf dieser Expansionslinie war der vor allem von der Deutschen Bank getragene Bau einer Eisenbahn von Konstantinopel über Bagdad bis zum Persischen Golf. Wirtschaftliche Vorteile aller Art wurden von diesem gewaltigen Bahnbau erhofft und gleichzeitig weitgesteckte politische Ziele verfolgt. Das wichtigste Ergebnis der Bagdadbahnpläne, die gewichtige Interessen des russischen und des englischen Imperialismus bedrohten, bestand darin, daß diese beiden Gegner, die in früheren Jahren in scharfer Frontstellung gegeneinander gestanden hatten, sich allmählich gegen den aggressiven Dritten zusammenschlossen.
Neben einer ständig steigenden Heeresrüstung war der forcierte Ausbau einer starken deutschen Flotte das militärische Hauptinstrument des deutschen Imperialismus. Der deutsche Flottenbau war von Anfang an gegen England gerichtet, die stärkste Weltmacht dieser Zeit, deren Position auf ihrer Beherrschung der Weltmeere beruhte.
Auch alle anderen imperialistischen Großmächte trieben Expansionspolitik in diesen Jahren. Und im allgemeinen waren sie erfolgreicher als der imperialistische Emporkömmling Deutschland. Den größten Gewinn aus der imperialistischen Intervention in China zogen nicht die Deutschen, sondern die Russen, die ihre Herrschaft über die Mandschurei befestigten. Den Anstoß zu beiden Marokkokrisen gab das aggressive Vorgehen des französischen Imperialismus – und er, nicht Deutschland, gewann die Herrschaft über Marokko. England und Rußland schlossen 1907 ein Abkommen, in dem sie Persien in Interessensphären teilten. Der imperialistischen Expansion entsprach in allen diesen Ländern das Aufkommen wütender Kriegshetze, die grundsätzlich den gleichen Charakter trug, wie wir sie bereits für Deutschland konstatiert haben.
Zwischen der Aggressivität Deutschlands und derjenigen der anderen Großmächte bestand jedoch ein wichtiger Unterschied. Die Expansion in die Welt begann von Deutschland aus, als die Erde fast völlig aufgeteilt war. Aus der Situation eines zu mächtiger Expansion drängenden Monopolkapitalismus, der jedoch überall auf Schranken traf, entstand, zusammen mit den alten Traditionen der preußischen Verherrlichung des Militärs und des Krieges, jener Geist des Chauvinismus und der Gewalttätigkeit, für den der zitierte Zwischenruf nur ein Beispiel ist. So, wie es im Zeitungsbericht über den Vortrag eines alldeutschen Redners in Berlin im Jahre 1912 hieß: „Nachdem der Vortragende gezeigt hatte, daß der Kampf um Dasein und Macht sowohl im Naturzustande wie auf der höchsten Stufe der Gesittung in irgendeiner Form gar nicht vermieden werden könne, stellte er die verschiedenen Möglichkeiten dieses Kampfes nebeneinander, und es erwies sich als über jeden Zweifel erhaben, daß der regelrechte Krieg nicht nur die denkbar beste und edelste, sondern auch die für den Bestand des Staates und der Gesellschaft von Zeit zu Zeit unbedingt notwendige Lösung sei.“
Als an der Jahreswende 1905/1906 die verantwortlichen Politiker und Militärs des deutschen Kaiserreiches drauf und dran waren, einen Krieg gegen Frankreich anzufangen, brachte Wilhelm II. – es war die Zeit des revolutionären Aufschwungs unter dem Eindruck der ersten russischen Revolution – in einem Brief an Reichskanzler Bülow zum Ausdruck, daß ihm im gegenwärtigen Moment die Auslösung des Krieges unzweckmäßig erscheine, weil man noch weitere Verbündete gewinnen müßte und auch mit der Rüstung noch nicht weit genug sei. Er fuhr fort: „Zudem kann ich in einem solchen Augenblick wie jetzt, wo die Sozialisten offen Aufruhr predigen und vorbereiten, keinen Mann aus dem Land ziehen ohne äußerste Gefahr für Leben und Besitz seiner Bürger. Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen – wenn nötig per Blutbad – und dann Krieg nach außen!“
Am 1. August 1914 fragte Pourtalès Sasonow dreimal, ob die russische Regierung bereit sei, ihre Mobilmachung zurückzunehmen. Sasonow blieb bei seinem „Nein“, und Pourtalès übergab die Kriegserklärung, die mit den Worten endete: „S. M. der Kaiser, mein erhabener Herrscher, nimmt im Namen des Reiches die Herausforderung an und betrachtet sich als im Kriegszustand mit Rußland befindlich.“ Anschließend weinte er die Tränen, mit deren Schilderung wir unsere Darstellung einleiteten.

Aus Fritz Klein: Es begann in Sarajewo, Akademie-Verlag, Berlin 1964. Der langjährige Autor der Weltbühne und des Blättchens, Leiter des Autorenkollektivs von „Deutschland im Ersten Weltkrieg“ (Drei Bände, Akademie-Verlag, Berlin 1968-1969; Neuausgabe 2004 im Leipziger Universitätsverlag) wäre am 11. Juli neunzig Jahre alt geworden. Wir danken Wolfgang Klein für die Übermittlung dieses Beitrages.