17. Jahrgang | Nummer 17 | 18. August 2014

Der ewige Draufblick

von Wolfram Adolphi

Was macht der Rezensent mit einem Buch, das sich seine Lobeshymnen – und zwar nicht weniger als sieben! – schon auf den ersten beiden Seiten selbst mitbringt? Es geht los mit Dominic Sachsenmaier von der Jacobs Universität Bremen, der in ihm „eine der besten Handreichungen für alle, die einen Überblick über die Situation und Zukunft Chinas suchen“, sieht: „spannend, kompakt und schnörkellos geschrieben“. Benita Ferrero-Waldner, ehemals österreichische Außenministerin und EU-Kommissarin für Außenbeziehungen und Nachbarschaftspolitik, hält es mit seiner „profunden, realistischen und objektiven Analyse realer Fragen“ für einen „bedeutsamen Beitrag zur Diskussion“. Laut Anton Pelinka aus Budapest ist es „Handlungs- und Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft, aber auch interessierten Laien wärmstens zu empfehlen“. Für den italienischen Senator Francesco Palermo ist es „ein wichtiger Beitrag zu einer in Europa noch immer unterentwickelten Debatte“. Klaus Segbers, Direktor des Center for Global Politics an der Freien Universität Berlin, freut sich, dass in der „bedenkenswerten Analyse […] die immer stärkere Wirkung der ‚globalen Systemveränderung‘ nun auch in China im Mittelpunkt [steht], ohne jedoch die wichtige innere Dimension zu vernachlässigen“. Bernd Guggenberger jubelt über einen „treffenden Kommentarband“, ein „gediegenes Buch“; und Viola von Cramon-Taubadel, 2009-13 Mitglied des Deutschen Bundestages und Sprecherin der Grünen für EU-Außenbeziehungen sowie Mitglied des Fachbeirats Europa/Transatlantik der Heinrich-Böll-Stiftung ist sich sicher: „Auf dieses Buch haben viele gewartet. Immer wieder bestätigt sich in Gesprächen, dass es an aktuellen, fundierten Bestandsaufnahmen zu China im deutschsprachigen Raum mangelt. Dieses Buch bietet sie. Seine größten Vorzüge sind Ausgewogenheit, Vorurteilslosigkeit und Realismus.“
Was also macht der Rezensent mit einem solchen Teil? Dem auch noch ein Vorwort des österreichischen Ex-Bundeskanzlers* Wolfgang Schüssel beigegeben ist, in dem dieser mitteilt, dass die Frage nach dem Woher und Wohin Chinas „seit einigen Jahren nicht mehr nur nationale oder internationale, sondern globale“ Dimension habe und das „Interesse für die Prozesse des ‚neuen‘ Chinas Xi Jinpings historisch beispiellos (Hervorhebungen – W.A.)“ sei. Er – der Rezensent – nimmt es mit spitzen Fingern in die Hand und merkt sehr schnell: Diese Häufung von Marketing-Sprüchen musste bei dem Preis einfach sein.
Denn was Roland Benedikter und Verena Nowotny – laut Schüssel „seit vielen Jahren ausgewiesene China-Kenner, international bewährte Politikexperten und erfahrene Regierungsberater“ – mit ihrem Buch „China. Situation und Perspektiven des neuen weltpolitischen Akteurs“ anbieten, ist nichts anderes als eine auf 500 Seiten ausgewalzte Variante des ewig Gleichen: des westlichen Draufblicks auf China, dessen wichtigste Qualität die Selbstgewissheit ist. Hier, im Westen – der in Schüssels Vorwort auch mal in der Spezialform eines „deutschsprachigen Zentraleuropa“ erscheint, „das seit einigen Jahren eine wirtschaftliche und zum Teil auch politische ‚Sonderbeziehung‘ zu China aufbaut und sich im Gegenzug eine verstärkte Zusammenarbeit erwartet“ –, hier also ist alles gut und in Ordnung, aber China, der „Riese im Übergang“ (Benedikter), müsse sich ändern, das erwarte „die internationale Gemeinschaft“, und es werde sich ändern, natürlich, nur bleibe für „uns“, „hier“ immer noch alles geheimnisvoll. Jedenfalls so lange, bis Benedikter und Nowotny in – so noch einmal Schüssel – „interdisziplinärer Sichtweise Betrachtungen der chinesischen Kultur in die politische Diagnose und Antizipation ein[bauen], im besonderen den Einfluss von Konfuzianismus und Taoismus auf die zu erwartenden Politiken der neuen Eliten und auf grundlegende Politik- und Gesellschaftshaltungen insgesamt“. Na prima.
Wer das mag, dieses schon 1901 im monumentalen Kürschner-Band über China und den Boxer-Aufstand – bei dem sich übrigens Schüssels „deutschsprachiges Zentraleuropa“ mit „Sonderbeziehungen“ durch das Niederbrennen chinesischer Dörfer hervortat – erprobte und seither unzählige Male wiederholte Verfahren, der ist bei Benedikter und Nowotny tatsächlich in guten Händen. Es geht zum Beispiel um „den chinesischen Geist und seine politischen Wirkungen“, „Xi Jinpings Hauptaufgabe: Ausgleich der Fraktionen- und Flügelkämpfe“, um „China und die europäische Schuldenkrise“, „China, die USA und die Europäische Union“, „Die ‚G-2‘-Konstellation im Pazifik“, die „wachsende Konfrontation zwischen China und Japan“, „notwendige Reformen in Wirtschaft und Finanzwesen“, und da ist für den von Anton Pelinka aus Budapest gemeinten „interessierten Laien“ tatsächlich eine Menge Interessantes dabei.
Aber was ist all das fleißig Zusammengetragene wert, wenn dem nicht wirklich globales Denken zugrunde liegt. „Die Weltgemeinschaft“, meint Schüssel, nehme im Falle Chinas „die konflikthafte Wechselbeziehung zwischen Innen und Außen“ zu wenig zur Kenntnis. „Die Weltgemeinschaft“ – wer immer das auch sein mag – hier, und China da. China mit einem Siebtel der Weltbevölkerung nicht dazugehörig, aber unter Kontrolle und Beobachtung. Das ist einfach uraltes Denken.
Ein Gradmesser für globales Denken ist die Fähigkeit und Bereitschaft zum Vergleich und zur gemeinsamen, nicht-konfrontativen, von der Gleichheit der Grundkonflikte ausgehenden Analyse. Haben wir es in den USA und jedem einzelnen westeuropäischen Staat nicht auch mit einer „konflikthaften Wechselbeziehung zwischen Innen und Außen“ zu tun? Und wäre aus dem Vergleich nicht eine Menge zu lernen? Und eine gemeinsame Suche nach Konfliktlösungen anzuregen (wo das Buch doch auch „Handlungs- und Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft“ zu empfehlen sei)?
Wer sich bis Seite 497 durchkämpft, wird eine solche Anregung tatsächlich noch finden. Aber nicht bei Benedikter und Nowotny, sondern bei dem für das Buch interviewten Frank Sieren, der – anders, als es Cramon-Taubadel wahrgenommen hat – in den vergangenen zehn Jahren gleich mit mehreren wohlfundierten China-Analysen aufgetreten ist. Die 17 Seiten, die er hier zur Verfügung hat, geben dem Buch am Ende tatsächlich noch Glanz. Und dies vor allem, weil Sieren sich nicht damit abfinden will, dass „wir“ immer noch so tun, „als seien wir auf Dauer in einer Position, in der wir uns die Frage, inwieweit wir – also der Westen – uns relativieren müssen, nicht zu stellen brauchten“.

Roland Benedikter, Verena Nowotny, China. Situation und Perspektiven des neuen weltpolitischen Akteurs. Mit einem Vorwort von Wolfgang Schüssel, Springer VS, Wiesbaden 2014, 512 Seiten, 59,99 Euro.

* – Alle hier aufgeführten Titel und Bezeichnungen – von akademischen Graden, die Das Blättchen grundsätzlich unterschlägt, weil ihrer schon bei dessen Autoren einfach zu viele wären, einmal abgesehen – sind nur Auszüge aus den Angaben im Buch!