17. Jahrgang | Nummer 15 | 21. Juli 2014

Offener Brief an den Bundespräsidenten

von Helmut Donat-von Bothmer

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck,
Sie haben am 27. Juni 2014 Christopher Clark, Herfried Münkler, Jens Bisky, Michael Kelpanides und Karl Schlögel zu einer Diskussionsrunde über die Entwicklung Europas seit 1914 in das Schloss Bellevue eingeladen und einer überaus fragwürdigen Geschichtssicht ein Forum geboten, indem Sie in einer Frage von welthistorischer Bedeutung hochgradig einseitigen Interpretationen das Wort gegeben und so diese unterstützt und gefördert haben. Ich darf Ihnen daher den Vorwurf nicht ersparen, einer Sichtweise, die sich an deutschnationalen Traditionen und Legenden orientiert, den Weg zu ebnen und hoffähig zu machen.
Statt sich klar und unmissverständlich dazu zu äußern, dass die konzertierten Aktionen der deutschen und österreichischen Machthaber 1914 den Weltenbrand verursacht haben, gehen sie über diesen Schandfleck der deutschen Politik hinweg und beteiligen sich daran, die Kriegsschuldfrage von 1914 zu „europäisieren“.
Belgische Freunde und Bürger haben mir kürzlich vor Augen geführt, wie Ihre Rede bei dem Empfang des belgischen Königspaares im Schloss Bellevue am 17. Februar 2014 auf sie gewirkt hat. Sie rühmten die gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Belgien, und Sie bedankten sich dafür, dass Belgien nach 1945 eines der ersten Länder gewesen sei, welches diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland aufgenommen habe. Als unwahrhaftig empfand man Ihre folgenden Äußerungen: „Wie wertvoll solch gute Nachbarschaft ist, wird in diesem Jahr noch oft zur Sprache kommen: Am 4. August erinnern wir gemeinsam in Lüttich an den deutschen Einmarsch im neutralen Belgien vor 100 Jahren und damit an den Beginn des Ersten Weltkriegs, unter dem Ihr Land so gelitten hat.“ Sehr geehrter Herr Bundespräsident, als Bürger, der stolz darauf ist, ein Deutscher zu sein, frage ich Sie: Warum reden Sie so über die Grausamkeiten und Schrecken hinweg, die auf Befehl der deutschen zivilen und militärischen Reichsleitung in Belgien begangen worden sind? Die deutschen Truppen sind nicht in Belgien „einmarschiert“; sie haben Belgien auf Geheiß Wilhelms II., des Reichskanzlers Bethmann Hollweg und der Obersten Heeresleitung völkerrechtswidrig überfallen und sind dabei überaus brutal vorgegangen. Warum sagen Sie nicht einfach, dass die Mächtigen des Kaiserreiches ein beispielloses Verbrechen an Belgien begangen haben? Der Versuch, andere Völker zu unterjochen und ihnen einen deutschen Stempel aufzudrücken, begann nicht erst 1939, sondern bereits 1914. Belgien stellt dabei keine Ausnahme dar.
Über das neuerliche Streben nach einer deutschen Weltpolitik denkt das deutsche Volk, den Umfragen zufolge, in seiner großen Mehrheit anders, als Sie es ihm vorgaukeln wollen. Es hat aus den Erfahrungen der beiden Weltkriege gelernt. Es will Frieden, lehnt Ihr Verlangen nach einem Abschied von der „Kultur der Zurückhaltung“ ab und will nicht, dass wir uns in Krisenherde mit Militäreinsätzen einmischen und deutsche Soldaten dabei ihr Leben lassen müssen. Es ist durch von deutschem Boden ausgehende Befehle genug Blut geflossen, zu viel Elend und Not über Menschen anderer Völker gebracht worden. Statt Vorsicht walten zu lassen, plädieren sie für ein stärkeres Engagement, das sich auch auf Waffen stützt. Die am Hindukusch traumatisierten Soldaten sich noch nicht wieder gesund, schon ist ein neuer Einsatzplan für Zentralafrika im Gespräch.
Ich erlaube mir, Sie daran zu erinnern, dass die Bundeswehr einen Verteidigungsauftrag hat und nicht gegründet worden ist, um weltweit für Kampfeinsätze zuständig zu sein. Solange die deutsche Sicherheit nicht tatsächlich bedroht ist, gibt es keinen Grund, in Krisengebiete der Welt deutsche Soldaten zu entsenden. Politik-Konzepte, die sich auf Stärke und Waffen, Krieg und Gewalt stützen, führen – das lehrt uns die deutsche Geschichte – zu Tod und Zerstörung. Sind Sie bereit, Herr Bundespräsident, mit dem Gewehr in der Hand in Zentralafrika deutsche Interessen zu verteidigen? Möchten Sie überall dort, wo auf der Welt die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, mit der Waffe in der Hand Gewehr bei Fuß stehen?
Hätte man all das, was allein in das Zerstörungswerk des Ersten Weltkriegs an Waffen, Kraft, Intelligenz und Leben gesteckt worden ist, für friedliche Zwecke verwandt, aus der Welt wäre ein soziales Paradies geworden. Die Frage nach der Schuld am Kriege ist daher von überragender Bedeutung, und sie ist zum Teil schon vor dem Krieg, das heißt in der Krise, die zum Krieg führte, und erst recht nach seinem Beginn gestellt worden. Die ersten, die sich als Deutsche unvoreingenommen und ohne propagandistische Absicht um eine Antwort und um die Wahrheit bemüht haben, waren Richard Grelling und Hermann Fernau. Weitere Namen und Persönlichkeiten sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Hellmut von Gerlach, Friedrich Wilhelm Foerster (den Hitler als ersten Deutschen ausbürgerte), Heinrich Ströbel, Heinrich Kanner, Wilhelm Muehlon, Alfred Hermann Fried, Hans-Georg von Beerfelde, Georg Friedrich Nicolai, Fürst Max von Lichnowsky, Hans Paasche, Walter Fabian und andere mehr. Sie gehörten nicht zu jenen Militärs, Diplomaten, Politikern, Journalisten, Schriftstellern oder sonstigen Intellektuellen, die zuhauf in den Chor der Kriegsbegeisterung und Verteidigungslüge einstimmten. Als Oppositionelle der kaiserlichen Kriegs- und Katastrophenpolitik zählten sie im August 1914 zu jener Minderheit von Deutschen, die den Krieg als ein Verbrechen an der Kulturmenschheit begriffen, sich der militaristischen Instrumentalisierung und Degeneration des Deutschtums entzogen und in der Tradition der Aufklärung, eines patriotisch gesinnten Weltbürgertums und der Revolutionäre von 1848 standen. Unabhängig von späteren Historikern sind sie zu dem Ergebnis gelangt, dass die deutschen und österreichischen Machthaber den Krieg gewollt und entfesselt haben. Sie sind deshalb verleumdet, mit unflätigen Mitteln herabgesetzt, verfolgt und bisweilen ermordet worden. Ihre Schriften wurden boykottiert, bekämpft oder verboten. Zu Ihren Ehren und ihrem Gedenken sollten Sie, Herr Bundespräsident, eine Feier abhalten!
Die Verteilung von Schuld oder Verantwortung auf alle beteiligten Mächte stellt heute eine vortreffliche Begleitmusik für ein stärkeres militärisches Engagement Deutschlands dar. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie die neuerliche Entlastungs- und Unschuldskampagne für eine „moralische Mobilmachung“ zum möglichen nächsten Kriegseinsatz benutzen. Sie bewegen sich dabei mehr oder minder in den Fußstapfen der deutschen Unschuldspropaganda der 1920er Jahre.
Keineswegs plädiere ich dafür, die Hände in den Schoß zu legen. Es gibt genügend nichtmilitärische Möglichkeiten, Verantwortung in einer konfliktreichen Welt zu übernehmen. Sich auf diesem Gebiet besonders zu engagieren, stünde uns Deutschen vor dem Hintergrund unserer kriegerischen Geschichte gut an.

Mit freundlichen Grüßen,
Helmut Donat-von Bothmer