17. Jahrgang | Nummer 15 | 21. Juli 2014

Mitte links

Gastbeitrag von Heino Bosselmann

Gibt es noch eine kraftvolle Linke links der Mitte, die sich ihrerseits gerechtigkeitsrhetorisch ja längst selbst barrierefrei als irgendwie links empfindet?

Man sollte sich Gedanken über die Linke machen. Vielleicht sogar Sorgen. Eigentlich ist sie vom kritischen Potential her hervorragend ausgestattet. Nur einer der großen Modernen, vielleicht der Letzte, sei benannt: Eric Hobsbawn. Tragisch jedoch, dass die politisch präsente Linke namentlich in Deutschland an ihr großes theoretisches und praktisch kämpferisches Erbe kaum mehr anknüpft, sondern weitestgehend in der oralfixiert-hedonistischen Konsensgesellschaft der sogenannten Mitte aufgeht.
Weshalb scheint die intellektuelle Linke so erschöpft und auf Gefühligkeiten beschränkt? Selbst radikal-kritische Äußerungen bleiben Theaterdonner.
Die verhängnisvolle Illusion mag zuerst darin bestehen, pauschal und kritiklos einem hochgehaltenen Vermächtnis der Aufklärung zu folgen, ohne je willens zu sein, deren eigenen selbstkritischen Prozess – mindestens über Max Weber, die Frankfurter Schule, Georges Bateilles und anderer – zur Kenntnis zu nehmen.
Das Mitte-Links-Establishment und das von ihm betreute Bildungssystem verhalten sich „sozialkundlich“ ebenso. Offenbar schließt die Vermittlung geistesgeschichtlicher Inhalte mit der Aufklärung ab und damit, was im emanzipatorisch gestimmten 19. Jahrhundert daraus wurde. Der gesamte idealistische Ballast des „Zeitalters der Aufklärung“, Surrogat der christlichen Heilslehre, wird von der Linken des 21. Jahrhundert mitübernommen. Kennzeichen dessen ist die gegenwärtige Hegel-Renaissance, für die man wohl dankbar sein kann, die aber mindestens geschichtsphilosophisch die alte Überlast des deutschen Idealismus im Politischen nicht reduziert.
Welt-, Geschichts- und Menschenbild bleiben so dem 18. und 19. Jahrhundert verhaftet, anstatt aufmerksam revidiert zu werden, beispielsweise unter Einbeziehung der neuen, naturalistisch fundierten Bewusstseinstheorie, wie sie etwa durch den Philosophen Thomas Metzinger oder den Neurobiologen Gerhard Roth vertreten wird, vor allem mit gravierenden Konsequenzen für das Problem des freien Willens. Ebenso ergiebig wäre das Studium der durchaus am Leben geschulten konservativen bis reaktionären Anthropologie und politischer Philosophie, mindestens von Schopenhauer bis Carl Schmitt. Man infiziert sich nicht, wenn man so souverän wie offen die Welt-Anschauung der anderen zur Kenntnis nimmt. Weshalb noch immer diese Lukács-Harich-Angst vor der dunklen Seite des Menschen? Hinsehen lernen!
Nein, es soll beim Als-ob bleiben: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Selbstverständlich ist dieser Wunsch – im Konjunktiv – statthaft und ehrenwert, nur erwächst aus einem schönen Anspruch noch keine schöne Realität. Allenfalls politischer Kitsch, dem jede mephistophelische Tiefe fehlt. Es ist allerdings bequem, ja wohltuend, bei einer durchweg positiven Anthropologie zu bleiben und Menschenrechte für Naturrechte zu halten.
Deswegen ist selbst unter Lehrern so viel von Kant die Rede, obwohl gerade sie ihn kaum bis in seine philosophische Differenziertheit hinein durchlesen. Deshalb Lessings „Nathan der Weise“ – nicht als Problem-, sondern als Beweisstück – und weiterhin das Hohelied auf die Weimarer Klassik, als wäre mit Schillers „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ und mit geistreichen Gesprächen am Ilmpark die Humanität beschlossene Sache gewesen und der Mensch endlich bei sich angekommen. Vielleicht noch Habermas hinterdrein, weil Diskursethik in der Labergesellschaft als so eingängiger wie freundlicher Begriff erscheint und die gealterten achtundsechziger Bürgersöhnchen gerade Gegenstand ihrer eigenen Legendenbildung sind.
Unerfindlich, wie mit religiöser Inbrunst Wunschvorstellungen eines die spätfeudale Welt kritisierenden Denkens nachgesprochen werden, als hätte die jüngere Geschichte dazu kein weiteres Material hinterlassen. Spätestens Max Weber wusste um den langen Schatten des Siegeszuges betriebsrationaler Vernunft: „Heute ist ihr Geist (jener der Menschen – H. B.) aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr. […] Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werde, oder aber – wenn keines von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die ‚letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung das Wort Wahrheit werden: ‚Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.‘“
Der schon 1920 verstorbene Weber befürchtete, dass die im „stahlharten Gehäuse“ festsitzenden, von den „äußeren Gütern“ faszinierten und korrumpierten Menschen sich – „der Besinnungslosigkeit des gesellschaftlichen Mechanismus ausgeliefert“ (Gerhard Gamm) – irgendwann einem totalitären Staat sich zu überantworten bereit wären. Wie leider geschehen! Und die Anknüpfung von Theodor Adorno und Max Horkheimer – unter anderem: „Die Dialektik der Aufklärung“ – bestand in der erschreckenden Einsicht, dass die Aufklärung verdrängte, wovon sie neuzeitlich ausgegangen war – die Janusköpfigkeit des von Weber beschriebenen Rationalisierungsprozesses.
Denn die große Verheißung Kants, den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuführen – wurde sie je eingelöst? Vielmehr fand sich der Mensch im zwanzigsten Jahrhundert in ganz neuen Gefangenschaften wieder. Die „Dialektik der Aufklärung“ konstatierte: Denken verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablaufenden, automatischen Prozeß, der Maschine nacheifernd, die er (der Mensch – H.B.) selber hervorbringt, damit sie ihn schließlich ersetzen kann.“ Was nicht quantifizierbar und nützlich erscheint, erweckt den Argwohn der Aufklärung. Die „Entzauberung der Welt“(Max Weber) führt auf ihre Weise zu einem Verlust von Freiheit und Sinngebung.
Die Hoffnung jedenfalls, „den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen“, erscheint schon Adorno und Horkheimer gescheitert und vergeblich. In Totalitarismus und Faschismus wäre solcherart nicht der Rückfall hinter die Ideale der Aufklärung zu erkennen, sondern das Ergebnis der von ihr ausgelösten „rastlosen Zerstörung“. Die schlimmsten Perversionen des letzten Jahrhunderts hätten ihre Ursache im epistemologisch wie moralisch veranschlagten, aber dabei auf Ermächtigung und Herrschaft gerichteten Vernunftbegriff selbst.
Sind Hitler und Stalin – jeweils auf verschiedene Weise – Ausdruck dessen geworden? Die „Dialektik der Aufklärung“ beklagte: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.“ Dies ließe sich eher erweitert anthropologisch und staatsphilosophisch als nur eng ökologisch begreifen. Aber insofern die neue und ökologische Linke maßgeblich von 1968 ausgeht und den Menschen nach wie vor als aller guten Möglichkeiten voll ansieht, wird sie den Satz nicht verstehen wollen.
In „Eros und Civilisation“ sah ebenso Herbert Marcuse, dass die Gräuel der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht den „Rückfall in die Barbarei“ bedeuteten, sondern umgekehrt Folge des bejubelten Wissenschaftszeitalters und der damit verbundenen Formen von Herrschaft waren. Den Aspekt der sagenhaften Befreiung kommentiert der Darmstädter Philosoph Gerhard Gamm, von Marcuse ausgehend, so: „Wir sind befreit, aber auf eine konsumistische oder pornografische Weise. Wie für Marx die Befreiung der Arbeitskraft aus den feudalistischen Fesseln nur dazu dient, die Arbeitskraft auf dem kapitalistisch organisierten Arbeitsmarkt verkaufen zu können, so dient die Befreiung der Sexualität aus den Zwängen der bürgerlichen Moral und Gesellschaft nur dazu, die Sexualität den Konsumenten und Leistungszwängen auszuliefern und im Tausch die eigene wie die fremde Sexualität als Konsumartikel zu verbrauchen.“– Sex sells!
Nun ist das in Ergebnis eines historischen Prozesses wohl nicht anders zu haben, aber gerade deswegen muss man die tragischen Entwicklungslinien mitbedenken, anstatt auf den Optimismus hegelianischer Geschichtsphilosophie und deren marxistischer Umpolung zu setzen. Gerade links! Vorsicht mit Begriffen wie Volk und Freiheit, vor allem Vorsicht mit inflationärem Gebrauch davon! Die Linke träumte von einem Sozialismus mit menschlichem Gesicht – was immer das sein mag. Sie bekam – nicht zuletzt im Ergebnis des rousseauistischen Erbschadens des Marxismus – den stalinistischen Realsozialismus, und sie bekam Mao und Pol Pot. Das „funktionierte“, allerdings nur zum Preis zahlloser Opfer und namenlosen Leids.
Als Nachwendepartei des „demokratischen Sozialismus“ und nunmehr revisionistisch gestimmt wie vormals Eduard Bernstein, dürfte die Linke jetzt von einem Kapitalismus mit menschlichem Antlitz träumen. Es müsste sie aber befremden, dass mittlerweile schon alle irgendwie „links“ sind, die gesamte Mitte. Oder umgekehrt: Dass alle „Mitte“ sind, selbst die nicht radikale Linke. Als sehe die ganze Welt schon aus wie der glückliche Prenzlauer Berg an einem sonnigen Sonntagvormittag, betrachtet von den Freisitzen vor den Cafés am Kollwitz-Platz.