17. Jahrgang | Nummer 13 | 23. Juni 2014

Querbeet (XXXIX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Romantisches und Barockes aus Wien, Bowies Verbasizer, Autoklau von Achtklässlern und viehische Ackerei im Kino.

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Die Wiener Festwochen, in der späten Nachkriegszeit gegründet als Luxus-Schaufenster internationaler Hochkultur – aber auch und natürlich mit touristischen Hintergedanken als Ausruf an die Welt, dass die Kulturnation Österreich wieder da ist und wieder klasse mitspielt im großen Weltkonzert, dieses Festival ist mit der Zeit gegangen und – alle Kunst-Genres bedienend – mächtig in die Breite gewachsen; und franste dabei eben auch arg aus ins Randständige, Kleinteilige, Kleinkarierte. Nachdem Luc Bondy allzu viele Jahre dem kostspieligen Laden vorstand, übernahm jetzt Markus Hinterhäuser die Intendanz, flankiert von einer energischen Schauspieldirektorin, der weit gereisten und welterfahrenen Belgierin Frie Leysen (64), die für eine „neue Öffnung“ der Grenzen zwischen Sprechtheater, Performance und Bildender Kunst stramm steht. Und dabei gern die etablierten Hochleistungsträger ausspielt gegen die überhaupt nicht oder nur vage etablierten Kräfte. Auch trägt die erfahrene Kuratorin internationaler Groß-Festivals beim Programmbau liebend gern die korrekte soziologisch-politische Brille auf der meist hoch gereckten Nase; Künstlerisches ist für sie von eher nachrangiger Bedeutung, was immer wieder zu heftigen Kontroversen mit Publikum und Veranstaltern führte. Im Übrigen überraschte Frau Leysen jetzt zum Festwochen-Finale mit der forschen Ansage, alle nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Festivals von Avignon über Edinburgh bis Wien seien veraltet und „unrettbar verrostet“. Wohl der Hauptgrund, warum sie bereits nach dieser einen, ihrer ersten Spielzeit als Schauspielchefin abdankt…

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Nun, so neu ist besagte, auch von Frie Leysen so heftig beschworene „Öffnung“ der Theaterkunst längst nicht mehr, selbst wenn das von Teilen der Kritik wie Kulturpolitik immer wieder behauptet wird – zum Beispiel auch in Berlin. Etwa von der Direktion der dortigen Festspiele, die erst kürzlich wieder anlässlich des Theatertreffens die Dominanz „installativer und performativer“ Theaterformen ausdrücklich lobte, weil diese „neuen, grenzüberschreitenden“ Formen so prima ins Zeitgenössische griffen. Das Theatertreffen lehrte mich, dass es mit dem „prima“ so weit her nicht ist; klappte es doch nur selten künstlerisch wirklich überzeugend mit dem Installativen und Performativen im Schauspiel. Diese leidige Erfahrung durfte ich jetzt wieder in Wien machen. Beispielsweise bei zwei Produktionen, in denen man das – sagen wir – Klassische mit Performativem beziehungsweise mit bildender Kunst verquickte.

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Zum einen war es die Uraufführung von „Coup Fatal“, in der ein aus dem Kongo stammender Counter, der großartige Serge Kakudji, Arien von Gluck und Händel singt, die eine kongolesische Truppe aus Musikern (Gitarren, Percussions) mit afrikanischen und karibischen, aber auch jazzigen Klangfarben „übermalt“. Ergänzt wird diese simple Verfremdung des komplex Barocken durch schlichte, folkloristisch-rhythmische Bewegungsübungen mit akrobatischen Einlagen. Sympathisches Entertainment, das in jede Kreuzschifffahrt-Unterhaltung passt. Der berühmte Belgische Regisseur Alain Platel hat sich da nicht sonderlich viel einfallen lassen beim flotten Arrangement dieser schick schillernden Exoten-Show mit Gluck und Händel als dekorativem Hintergrund.

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Zum anderen war es „Winterreise“ von Wilhelm Müller und Franz Schubert mit dem Bariton Matthias Goerne und dem Pianisten (und Festwochen-Intendanten) Markus Hinterhäuser. Ein fantastisches Gespann, das die so bittere Poesie dieses singulären Kunstwerks zum vollkommenen, abgründigen Blühen brachte. Eine Unvergesslichkeit! Dennoch wurde die schwarze Blüte überflüssigerweise angestrahlt mit grafisch-filmischen Arbeiten des weltberühmten südafrikanischen Künstlers William Kentridge. Ich konnte den künstlerischen Mehrwert dieser Zutat nicht erkennen, sie hat mich eher abgelenkt von Müllers Dichtung, Schuberts Komposition und der von jeder Effekthascherei freien, zutiefst wahrhaftigen Interpretation durch Goerne-Hinterhäuser. Freilich, Kentridges hoch artifiziell filmische Vignetten sind betörend, auch aufregend und teils erschütternd, und sie sind keine „Winterreise“-Bebilderung, sondern autonome fantastische Bildschöpfungen. Doch muss man einem musikalisch-poetischen Großkunstwerk noch eins der bildenden Kunst überstülpen?

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Er ist der Großmeister eines gigantischen (Welt-)Pop-Theaters: David Bowie; geboren in London vor 67 Jahren als David Robert Jones. – Der hatte eine wenig glückliche Kindheit, fand in der Musik Trost und Kraft und die Möglichkeit zur Flucht nach vorn ins wilde Abenteuer Leben. Bowies Kunst-Prinzip ist: Überrumpelung des Publikums durch immerwährende Wandlung, durch frappierende Selbstneuerschaffung. Und Bowie sagt: „Kunst ist immer unscharf. Es gibt keine einzig richtige, sondern nur verschiedene Deutungen.“ Eine uralte Weisheit: Kunst ist Spiel!

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Bowies mannigfaltige Spielarten (auch privat, jenseits der Arenen) werden jetzt im Berliner Martin-Gropius-Bau illustriert in einer prachtvollen Ausstellung, einem Gastspiel des Londoner Victoria and Albert Museums. Selbstredend ist da auch die Rede von Berlin, von den 14 Monaten zwischen 1976 und 1978, als David, nach gefährlichen Drogenexzessen in Los Angeles, Zuflucht fand in der Schöneberger Hauptstraße 155, im damals ummauerten, eingegrenzten Westteil der Stadt. Außerdem interessierte ihn an Berlin nicht nur das popartistisch wie sexuell und alternativ-politisch aufgeladene Kreuzberger Labor SO36 (nebst deren Queen Romy Haag), sondern vor allem der verflossene Kulturbetrieb in den Zeiten der Weimarer Republik, dessen Exzesse und avantgardistische Erfindungen ‑ diesen phänomenalen Katalysator der Moderne.
Ein interessantes Detail der tollen Schau: Ein „Verbasizer“, von dem sich der Texter Bowie seit Mitte der 1990er Jahre inspirieren lässt. Das Ding zerlegt Sätze nach dem Zufallsprinzip in immer neue Sätze, was, so Bowie, „Traumzustände“ erzeuge – seine Grundlage fürs Dichten

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Endlich einmal wieder seit langem ein rundum glücklich machender Abend in Berlins Deutschem Theater, das mir doch sehr am Herze hängt, selbst wenn dort allzu oft die Kunst so sehr schief liegt. Doch diesmal ist alles gut und schön, verrückt und klar, lachhaft und traurig und im Kleinen sehr groß. Ich rede von Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“, den Robert Koall so trefflich dramatisiert und Alexander Riemenschneider mit wunderbar fantasievoller Leichtigkeit inszeniert hat. – Zwei Achtklässler klauen ein Auto und rasen los nach Irgendwo ins Abenteuer. Nach ein paar Tagen schon der große Knall, Unfall, Ende, aus. Doch in den paar Tagen haben die Jungs schon beinah alles erlebt, erfühlt und begriffen, was man im Leben begreifen und erfühlen kann. Ein fantastischer Schnelldurchlauf. Zum Heulen komisch, aber total ernst und voll cool. So wie die beiden Schauspieler Sven Fricke und Thorsten Hierse.

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„Wachse oder weiche“. Das ist die uralte Grundregel für bäuerliche Betriebe; und letztlich nicht nur für diese. Denn wenn das liebe Vieh und der bestellte Acker nicht mehr genug Geld abwerfen und wenn sich die Bestände oder Flächen nicht vergrößern lassen, dann muss man aufhören – mit einem bestimmten Tier oder einer bestimmten Aussaat. Oder eben überhaupt mit allem. Davon erzählt Tobias Müller in seinem Film mit dem irdisch-saftigen Titel „Sauacker“.
Keine Angst, das ist kein Lehrfilm für landwirtschaftliche Akademien. Das ist vielmehr eine äußerst spannende, ja hoch dramatische Geschichte aus dem Landleben von heute, aus „dem Herzen der Wirklichkeit“. Und die ist gezeichnet von einem derart starken Rationalisierungsprozess, wie ihn kein anderer Industriezweig hierzulande erlebt. Die Folgen sind beispielsweise Agrarfabriken, in denen ein Großteil unserer Lebensmittel fabriziert wird. Kleinere, seit Generationen bestehende Familienbetriebe haben da kaum eine Chance. Sie sind vom Aussterben bedroht; erst recht durch die Brüsseler Subventionspolitik, deren Gesetze die Übervorteilung eines Produktionssystems verursachen – etwa Agrargasanlagen, die von Mais betrieben werden, den man in gigantischen Monokulturen anbaut.

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„Sauacker“ erzählt nun vom Ringen einer alteingesessenen süddeutschen Bauernfamilie namens Kienle, ihre tradierten Produktionsweisen (Vieh und Acker) einigermaßen zu bewahren und damit zu überleben. Vater Konrad Kienle versucht es auf die eine, sein Sohn Philipp auf andere Art. Sie rackern sich redlich ab bis zum Umfallen und geraten dabei aufs heftigste aneinander. Doch es sieht nicht gut aus für die Zukunft…
Das Faszinierende des Films ist die schonungslose Offenheit, mit der die beiden ihre (letztlich auch privaten, innerfamiliären) Probleme bloßlegen. Ein Familiendrama! Und nebenher ein Lehrstück über die immerhin allgemeingefährliche Ökonomie moderner Landwirtschaft, die letztlich die Schändung unserer Umwelt einkalkuliert. Wer sich da gänzlich raushalten will, der muss wohl weichen. Doch auch Kompromisse sind kostspielig und äußerst risikoreich. Die entsprechenden Konflikte, die Vater und Sohn quälen, erleben wir überwältigend hautnah in diesem großartigen Film, dessen Besonderheit gerade darin liegt, dass die Protagonisten, also die Betroffenen (also keine Schauspieler) so rückhaltlos, so herzerfrischend oder auch dramatisch reden über alles, sogar übers Intime. – Ein erschütternder Einblick in ein liebenswertes, doch womöglich aussterbendes Milieu – und also in eine problematische Zukunft, die letztlich uns alle angeht.
Sohn Philipp lässt sich vor seinem 30. Geburtstag, an dem er den elterlichen Hof überschrieben bekommen wird, diesen Satz auf den Arm tätowieren: „Jeder isch dr Schmied vo seim Glück“. In Sütterlinschrift, wie sie sein Großvater einst in der Dorfschule noch lernte.