17. Jahrgang | Nummer 13 | 23. Juni 2014

Erlebnis auf Rädern

von Erhard Weinholz

Zuerst, vor bald hundertfünfzig Jahren, gab es hier in Berlin die Pferdebahn. Vielleicht stammt aus jener Zeit der Spruch „Besser schlecht gefahren als gut gelaufen“. Das Publikum klagte über schmutzige Wagen und über versoffene Kutscher, die die Fahrgäste anschnauzten und die Gäule prügelten. Später wurden die Strecken Stück für Stück elektrifiziert, man fuhr dort nun mit der Elektrischen. Das Wort hielt sich lange; in den 80ern, als die letzte Pferdebahn längst verschwunden war, hörte ich meine Großtante sagen: „Fährste bis Vinetastraße und denn weita mitta Elektrischen.“ So, wie mancher auch Bohnenkaffee noch sagte und Perlonstrümpfe.
Ihre große Zeit hatte die Berliner Straßenbahn in den 20er, 30er Jahren; wie ein Schnittmusterbogen sieht der Netzplan von 1936 aus. Aber noch nach Kriegsende kam man mit ihr quer durch die ganze Trümmerstadt, vom hohen Norden bis in die südlichen Randgebiete, Schönefeld, Teltow, Stahnsdorf – natürlich nur mit Umsteiger, für 30 Pfennige also. 24 DM kostete 1951 die Netzkarte. Strapazenbahn wurde die Straßenbahn damals genannt. Halbwegs komfortabel wurden die Fahrten erst ab 1974 mit den Tatra-Wagen. Wer etwas auf sich hielt, verschmähte die Gothaischen Rumpelkisten und wartete, bis Besseres kam.
Das war im Osten. Im Westen hatte man die Straßenbahn derweil aus dem Verkehr gezogen. Dabei ist sie doch ein Ort der Freiheit. Mit einer kleinen, harmlosen Eiswaffel in der Hand komme ich in keinen Bus. Wieso? Eis stinkt doch nicht. In der Straßenbahn dagegen kann man sich einen zwiebelstrotzenden Döner gönnen, man kann Bier und Wein trinken und sogar mal eine rauchen. Regt sich jemand auf, sagt man einfach: „Halt’s Maul!“ Meist ist die Stimmung aber freundlicher, manchmal sogar richtig angenehm. So neulich abends in der M 10: Ein junger Mann klimpert ein wenig auf der Gitarre herum, beginnt dann leise zu singen; zwei, drei Mal singt seine Freundin ein paar Zeilen mit, und das alles ohne irgendein finanzielles Interesse.
Diese Bahnen heute, vom Westler gern Tram genannt, sind natürlich viel komfortabler als die in den 70ern, verlangen uns aber auch erheblich mehr ab. Früher warf man 20 Pfennige in eine Box, vielleicht war’s auch nur ein Groschen oder ein 20-Groszy-Stück, und hebelte ein Stück bedrucktes Klopapier heraus. Der Fahrkartenautomat dagegen hat viele Angebote, doch mal will er keine Scheine, mal passt ihm das Geldstück nicht; manchmal schluckt er Münze um Münze, um bei der letzten alle wieder auszuspucken. Es ist wie beim Jackpot, nur bekommt man nie mehr als den Einsatz heraus. Mitunter versagt die Technik völlig. Alles aussteigen! Die Bahn senkt den Stromabnehmer, hebt ihn wieder, bewegt die Türen wie ein sterbendes Insekt die Flügel und schleicht zuletzt ins Depot. Dann aber legt sie wieder los, saust um die Kurven, bremst, beschleunigt, bremst wieder. Wir Fahrgäste ohne Sitzplatz hüpfen hin und her, stellen die Beine mal so, mal so: Streetcar Dancing nennt man das. Die meisten meinen, dieser Tanzstil komme aus den USA, aus San Francisco wahrscheinlich. In Wahrheit stammt er aus Berlin, ist ein Beitrag der BVG zur Weltkultur.