17. Jahrgang | Nummer 13 | 23. Juni 2014

Brief aus Moskau

von Siegfried Fischer, Moskau

Mitte Mai gab Russlands Ministerpräsident Medwedew bekannt, dass der Bau des Hafens von Taman am Asowschen Meer sowie einer Brücke über die Lena in Jakutien „in Folge der Krim“ eingefroren werden. Die 112 Milliarden Rubel (rund 2,4 Milliarden Euro) sollen anderweitig eingesetzt werden. Steht Russland wirtschaftlich mit dem Rücken an der Wand? – fragte die Blättchen-Redaktion Siegfried Fischer.

Liebe Blättchen-Redaktion,
das deutsche Volk gilt auch heute noch als Volk der Dichter und Denker. Vielleicht kommt daher unsere Vorliebe für Metaphern. Schade nur, dass in letzter Zeit die Zahl der Journalisten, die gebildet damit umgehen können, erheblich gesunken ist, während die primitiven Schlagzeilenproduzenten Hochkonjunktur hatten und haben. Wenn wir also bei den Metaphern bleiben, dann ist meine Antwort auf Eure Frage: „Lieber mit dem Rücken zur Wand stehen, als hilflos auf den Knien liegen.“
Da ich inzwischen mehrfach „sehenden Auges“ auf der Krim war, konnte ich den Eindruck eines Déjà-vu nicht mehr loswerden. Mir wurde sofort die Sehnsucht der Krimbewohner nach „blühenden Landschaften“ verständlich und dass hier nicht „mit den Füssen abgestimmt“ wurde, sondern mit dem Kopf. Die Überwindung der Folgen der Ausplünderung dieses Landstrichs unter ukrainischer Verantwortung in den letzten mehr als zwanzig Jahren wird dem neuen Hausherren zweifelsohne teuer werden.
Aber auch ohne einen „Marshall-Plan“ für die Krim steht Russland vor außerordentlichen wirtschaftlichen Herausforderungen, wie Medwedjew am 29. Mai seinen oben genannten Äußerungen hinzufügte: „In den folgenden Jahren müssen wir gezwungenermaßen vor dem Hintergrund einer anhaltenden Instabilität und Konjunkturverschlechterung auf mehreren Märkten agieren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass neue Risiken entstehen, die mit den Veränderungen in den Handelsbeziehungen zu einigen GUS-Staaten wie der Ukraine und Moldawien einhergehen.“
Wer die kapitalistische Entwicklung dieses Riesenlandes in den letzten zwanzig Jahren aufmerksam und unvoreingenommen verfolgt hat, wird außerdem festgestellt haben, wie schwer es für alle mit der Staatsmacht verbundenen Kräfte war und ist, einen eigenständigen stabilisierenden Weg in die Zukunft zu finden. Viele scheinbar leuchtende Beispiele entpuppten sich nicht nur als krisenanfällig, sondern auch von ihrer kolonialen Vergangenheit eingeholt. Was Wunder, wenn die russische Führung dem westlichen Kreuzzug der Werte skeptisch gegenüber steht, nach eigenen tragfähigen Werten sucht, andererseits aber die Welt nicht am russischen Wesen genesen lassen will.
Neurussischer Kapitalismus mit sozialer Abfederung, das heißt ohne Rückfall in den archaischen Klassenkampf und Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts und aufbauend auf einigen immer noch massenhaft als positiv empfundenen sowjetischen Realien, das ist nicht nur eine geistige sondern auch eine ökonomische Herausforderung für dieses Land. Ich kenne viele Politiker, Beamte und Unternehmer, die sich dieser Herausforderung nach der alten Faustschen Weisheit stellen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Insofern lohnt es sich, Medwedjew ernst zu nehmen, wenn er sagt, dass seine Regierung „alles unternehmen wird, um die Steuerbelastung der russischen Wirtschaft nicht zu steigern“. Ernst nehmen sollten wir auch die Fähigkeit dieser Gesellschaft als Ganzes, Stagnationen und Rückschläge, egal welcher Art, zu erkennen und auf russische Weise zu überwinden.
Die Entwicklung der Euro-Asiatischen Wirtschaftszone und die stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China wird dabei helfen, aktuelle Sonderbelastungen zu konterkarieren. Ernst & Young sieht bereits wieder „etwas Sonne im kalten Wasser“ und die Bank of America korrigierte sogar für 2015 das russische Wirtschaftswachstum nach oben auf 2,1 Prozent und den Dollarkurs von angenommenen 1:38 auf 1:36. Bis dahin ist noch ein langer Weg mit vielen Schlaglöchern. Eines steht aber fest: Die außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitische Arroganz westlicher Politiker wird die russische Elite weiter anspornen, überfällige Strukturreformen anzugehen und Investitionsbremsen abzubauen.
Außerdem hat die russische Führung durchaus verstanden, dass entgegen früheren Annahmen, in den Augen der westlichen Führungseliten nur der ernst genommen wird, der über eine vorzeigbare militärische Abschreckungsmacht verfügt. Im Gegensatz zu den Exzessen und der Arroganz der damaligen sowjetischen Führungselite handelt die neue russische Führung strikt nach dem Primat der Politik und nach der alten Müllerweisheit „Zuviel zerreißt den Sack!“ Das ist nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch sicherheitspolitisch zu verstehen.
Schade nur, dass einige westliche Führungseliten auf andere Länder und Völker herabschauen und glauben, diese gemäß ihrem Weltbild manipulieren und dirigieren zu können. Wen wundert es da, wenn diese sich (auch) mit dem Rücken an der Wand zur Wehr setzen (können).
Mit herzlichem Gruß aus Moskau!

Siegfried Fischer schied 1990 mit dem Dienstgrad Kapitän zur See aus der NVA aus. Er hatte zuvor an der Militärakademie „Friedrich Engels“ in Dresden gelehrt. Er war in den Folgejahren als Journalist, Analytiker und Buchautor auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik und ist seit 1993 als Geschäftsmann in Spanien und Russland tätig. Fischer lebt seit einigen Jahren überwiegend in Russland.