17. Jahrgang | Nummer 10 | 12. Mai 2014

Querbeet (XXXVIII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein weltenschwerer Sack Zement zum Berliner Theatertreffen, eine ätzende Meryl Streep, eine Geburtstagstorte für George Tabori und ein kecker Satz von Fritz Marquardt…

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„Was mich an der Geschichte interessiert, ist das Feuer, nicht die Asche. Ich wäre froh, wenn ‚Zement‘ begriffen würde als ein Beitrag gegen die politische Weltverschmutzung durch antisowjetische Propaganda.“ So schrieb Heiner Müller über sein Stück „Zement“, Anfang der 1970er Jahre verfasst nach Motiven des gleichnamigen, 1926 erschienenen Romans von Fjodor Gladkow, und handelnd vom hohen Pathos wie der schweren Not der Sowjetrevolution. Der Müllersche Satz richtete sich vornehmlich an die Genossen der sozialistischen Einheitspartei und ihre Zensur, um die Uraufführung von „Zement“ am 12. Oktober 1973 im Berliner Ensemble (Regie: Ruth Berghaus, Musik: Paul Dessau) nicht zu gefährden. Denn Müllers „Zement“ erzählt zwar auch vom utopisch-revolutionären Leuchten (keine Sklaven, keine Herren), doch sehr viel mehr von dessen frühem Verlöschen. Müllers tatsächliches Interesse galt der Asche, kaum dem Feuer (weshalb Manfred Wekwerth prompt das Stück mit deutlich entgegengesetzten Intentionen fürs DDR-TV verfilmte). Wobei Müller die tragische Geschichte Gladkows vom grausam scheiternden Aufbau einer „neuen“ Gesellschaft unter den Sowjets archaisch-mythologisch überwölbt und gleich setzt mit dem Kampf des Prometheus oder des Herakles mit der Hydra.

Just vor einem Jahr hatte Dimiter Gotscheffs Zement-Inszenierung am Münchner Residenztheater, wenige Monate vor dem Tod des Regisseurs, Premiere – sie eröffnete jetzt das 51. Berliner Theatertreffen. Ein starker, universalgeschichtlich kontaminierter Auftakt: Die Tragödie des Menschen zwischen Weltverbesserungssehnsucht und der blutgetränkten Vergeblichkeit, die Geschichte zum Besseren zu wenden.

Soviel zur Eröffnung dieses als Leistungsschau der Bühnen-Besten gedachten Festivals, dessen Kern, umrahmt von zahlreichen Extras, zehn so genannte bemerkenswerte Schauspiel-Produktionen aus den drei deutschsprachigen Ländern präsentiert. Eine siebenköpfige Jury sah weit über hundert Inszenierungen in 71 Städten, aber nur aus fünf kamen die zehn eingeladenen Produktionen – und die befinden sich, geographisch gesehen, fast ausschließlich im Süden (München, Zürich, Stuttgart, Wien), was an den finanziell dort deutlich besser gestellten Theatern liege, meint die Jury. Das provoziert die fragwürdige These: Produziert allein reiches Theater auch gutes Theater?

Immerhin, Festspiel-Intendant Thomas Oberender lobte heftig die Jury-Auswahl; ihn erfreute sonderlich, dass dabei die vehement um sich greifenden „performativen und installativen“ Formen als Zeugnis ihrer akuten Gegenwartsbezüglichkeit berücksichtigt worden sind. Was wiederum die ketzerische Frage aufwirft, ob diese sagen wir allgemein „postdramatischen“ Formen nicht das Kerngeschäft des Theaters ausdünnen: nämlich das Dramatische, die wirklich packend, also ziemlich linear und durch deutlich profilierte Figuren erzählte Story?

Der viel gespielte Berliner Dramatiker Moritz Rinke sagte es kürzlich so: „Buchverlage drucken ja eher Theaterstücke, die sie für wirklich literaturfähig, erzählend und figurenstark halten, und Regisseure fürchten sich eher vor solchen Stücken, die schon in der Fantasie des Lesers wie ein erzählender Theaterabend funktionieren.“ Die folglich, um Rinkes Gedanken weiter zu spinnen, den Autorentext zur Materialmasse umdefinieren, um mit loderndem Ehrgeiz etwas ganz, ganz anderes und obendrein viel, viel Besseres zu machen als der völlig uncoole Autor. Das Literarisch-Erzählende wird also möglichst extrem verfremdet, im modischen Jargon heißt das „aufgebrochen“ und „performativ-installativ“ umgeformt. Was dann das mehrheitliche Verständnis der Sache meist arg erschwert. – So hechelt das Theater einem Zeitgeist hinterher, bis es keine Luft mehr kriegt.

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Die perfekte, zugleich massenwirksam familiär-intime Klopperei unter Paaren wie zwischen Generationen liefert der grandiose Literat Tracy Lett mit seinem formidablen Film-Script „Im August in Osage Country“, das keinerlei Rücksicht nimmt auf gutbürgerliche Verklemmtheiten. Klar, dass sich da Stars wie Meryl Streep und Julia Roberts (in wahnsinnigen Hauptrollen) oder Star-Dramatiker Sam Shepard (in einer grimmigen Nebenrolle) nebst anderen Groß-Könnern des mimischen Gewerbes um die Mitwirkung in diesem US-Film von John Letts geradezu rissen.

Eine zutiefst beeindruckende, rabenschwarze Filmkomödie vom toll gelebten Leben und bedrohlich vor und in der Haustür stehenden Tod. – Super Schauspieler-Kino mit einem selten sarkastischen Drehbuch. Beides zusammen als unterhaltsam lebenspraller Mix aus Komik und Grauen ist außergewöhnlich für Hollywood. Ein Kino-Kunststück!

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Der Schauplatz: Baracke 6 im Vernichtungslager Auschwitz. Schon das allein eine Ungeheuerlichkeit. Und erst recht das Unsägliche, dass es im verzweifelten Überlebenskampf der zwölf gefangenen, unvorstellbar gequälten Insassen zu Kannibalismus kommt: einer ihrer Leidensgenossen wird verspeist. Das überstieg nahezu das Erträgliche – das Publikum war schwer geschockt, aber auch schwer irritiert bei der Uraufführung von George Taboris Farce-Comic-Requiem „Die Kannibalen“ 1968 in New York. Das mag sich noch gesteigert haben zur Europäischen Erstaufführung das Jahr darauf in der Werkstatt des Westberliner Schillertheaters, nur ein paar Kilometer entfernt von jener Villa am Wannsee, wo das Undenkbare ausgeheckt wurde: der Holocaust. Womöglich saßen damals gar einstige Schreibtischtäter mit Überlebenden oder Nachfahren der Opfer beisammen im Parkett.

Der Autor selbst, der nahezu seine ganze Familie in den Gaskammern verlor, sagt über sein „Stück“, es sei weder Dokumentation noch Anklage, sondern „eine schwarze Messe, bevölkert von den Dämonen meines eigenen Ich, um mich und diejenigen, die diesen Albtraum teilen, davon zu befreien; es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht ewig daran würgen sollen“. – Und eben das tut Taboris „Stück“, in dem der Horror nicht direkt dargestellt, sondern durch „Nachgeborene“ spielerisch (mit schauerlichem Witz und abgründigem Humor) rekonstruiert wird. Es erhebt, überhöht mit nervender Kühle das eigentlich nicht Darstellbare zum so sehr ergreifenden Spiel, zum großen Kunst-Stück, dessen einzigartige Wirkungsmacht bleiben wird für alle Zeit.

Es ist gut, dass auch im Hinblick auf George Taboris 100. Geburtstag am 24. Mai seine mit Sarkasmus, lustiger Musik („Ausgerechnet Bananen…“) und mit allmenschlicher Gewöhnlichkeit durchsetzte szenische Außergewöhnlichkeit – in der man wie nebenher und ganz selbstverständlich über Himmel und Hölle, Leben und Sterben, Vernunft und Moral schwadroniert –, dass dieser Tabori wieder auf die Bühne kommt. Philip Tiedemann inszenierte jetzt im Berliner Ensemble auf düster vernebelter Leerfläche das Schwere geradezu schwerelos – und doch zutiefst eindringlich und entsetzlich mit seinen Assoziationen. Nur zwei Spieler aus dem wunderbaren Ensemble seien genannt: Martin Seifert als komisch-trauriger Stubenältester, in dem der Autor seinen ermordeten Vater porträtiert, und Taboris letzte Ehefrau Ursula Höpfner-Tabori als sadistischer SS-Mann. Ein eisiger, leiser Engel des Todes in Stiefeln und Reitpeitsche, ein unvergessliches Sinnbild des Bösen. 90 Minuten großes Theater, die das Herz stottern lassen, nicht aber die Liebe.
Es gibt ein Tabori-Zitat, das auf diese Inszenierung passt: „Was nach Auschwitz unmöglich geworden ist, das ist weniger das Gedicht als vielmehr Sentimentalität oder auch Pietät.“

Das Berliner Ensemble, das sich so bewundernd versteht auf die hingebungsvolle Ehrung großer Künstler (ist selten geworden im rasenden Betrieb), veranstaltet eine Woche lang Tabori-Geburtstagsfestspiele vom 18. bis 24. Mai (Filmnächte, Gespräche, Hörspiel-Lounge, Repertoire-Stücke von G.T.) Am Vorabend von Taboris Hundertstem gibt es dann, köstlicher Höhepunkt, eine poetische Geburtstagstorte. Herrlich! Danke.

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Und gleich nochmal Künstler-Ehrung am Schiffbauerdamm: Eine Matinee erinnerte an den vor zwei Monaten im Alter von 85 Jahren verstorbenen Regisseur Fritz Marquardt; auch er wie Gotscheff ein treuer Gefährte von Heiner Müller, mit dem Berliner Ensemble seit Jahrzehnten eher lose, zuletzt aber (auch als Ko-Intendant) fest verbunden. Es gab die Lesung der 1965 geschriebenen, noch weithin unbekannten Marquardtschen Erzählung „Dokument oder Widder im Dornbusch“; 1993 veröffentlicht in „BE-Drucksache 3“. Auch dies, wie Müllers „Zement“, die tragisch und tödlich grundierte Geschichte einer frühen, erschütternden Desillusionierung bezüglich Revolution, Fortschrittspartei (SED), DDR-Sozialismus („Beschissmus“). Dazu sagt Marquardt in einem feinen Porträtfilm von Volker Koepp mit bitter sarkastischem (oder insgeheim grinsendem?) Unterton den Satz, den wohl auch die Genossen im Geiste Müller und Gotscheff hätten sagen können: „Kommunismus ist für Intellektuelle eine sehr bequeme Religion.“