17. Jahrgang | Nummer 10 | 12. Mai 2014

Michail Bulgakows Ukraine

von Renate Drommer

„Wie ein vielschichtiges Wabengebilde rauchte, rauschte und lebte die STADT. Herrlich lag sie bei Frost und Nebel auf den Bergen am Dnepr. Ununterbrochen wand sich aus den zahllosen Schloten Rauch zum Himmel […] Tagsüber fuhren mit angenehm gleichmäßigen Surren die Straßenbahnen mit ihren weichen, nach ausländischer Art gefertigten gelben Strohsitzen. Von einer Steigung zur anderen fuhren schreiend die Droschkenkutscher, und die dunklen Kragen aus schwarzem und silbergrauem Pelz machten die Frauengesichter schön und geheimnisvoll“, so beschreibt Michail Bulgakow Kiew in seinem Erstlingswerk: Die weiße Garde.
Das friedliche Bild der STADT wechselt schon bald zu einem bedrohlich düsteren. Täglich drängen Neuankömmlinge hinein, geflohen aus Moskau und Petersburg. Die Flüchtlinge sind Bankiers, Industrielle, Kaufleute, Hausbesitzer, Offiziere, Fürsten, Zeitungsschreiber, Schauspieler und Schriftsteller. Alle suchen sie ein sicheres Plätzchen, alle hassen sie die Bolschewiki. Nachts wird geschossen. Wer hat geschossen? Niemand weiß es. Gerüchte wabern durch die überfüllten Lokale und hell erleuchteten Nachtklubs. Tagsüber sind die Deutschen präsent und verbreiten das Gefühl von Sicherheit.
„Ach, was war das für ein Regiment! Zottige Mützen saßen auf den stolzen Gesichtern, schuppige Riemen umspannten die steinernen Kinnladen, die roten Schnurrbärte zeigten wie Pfeile nach oben. Die Pferde in den Schwadronen waren eins wie das andere groß, fuchsrot, und die graublauen Uniformröcke lagen den sechshundert Reitern an wie die gusseisernen Uniformen ihrer üppigen deutschen Führer auf den Denkmälern des Städtchens Berlin.“
Vor einem vielschichtig angelegten Hintergrund entfaltet Bulgakow die Familiengeschichte der Turbins. Ihre kulturelle Tradition ist die des 19. Jahrhunderts. Tolstoi und Dostojewski stehen im Bücherschrank. In der gemütlichen Wohnung mit der alten Uhr, den roten Plüschmöbeln und dem herrlich warmen Kachelofen scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Hier lebt Jelena mit ihrem Mann und den beiden Brüdern. Die drei Männer sind zarentreue Offiziere. Aber wo ist der Zar? Wir schreiben das Jahr 1918. Unbarmherzig brechen die Ereignisse in die Familienidylle. Jelenas Mann, Sergej Iwanowitsch Talberg, flieht, Hals über Kopf verlässt er seine Frau. Warum heute Nacht? „Versteh doch, die Deutschen lassen den Hetman im Stich, und es ist möglich, sehr möglich sogar, dass Petljura die Stadt einnimmt“, flüstert er Jelena zu. Ein hell erleuchteter Salonzug wartet auf dem Bahnhof. Mit ihm fährt der Stab des Generals von Bussow um ein Uhr nachts nach Deutschland. Talberg fährt mit. Ein Karrierist und Lump, denkt Alexej, der ältere Turbin, der gerade von der Front heimgekehrt ist.
Die Tage des Hetman sind gezählt. Wer kommt nach ihm? Petljura kommt, raunen die Leute. Peturra, wie die Deutschen sagen. Wer ist dieser Mann? Bulgakow ironisiert ihn zur Operettenfigur. Doch im Jahr 1918 endet jede Operette blutig und sei sie noch so clownesk.
Semjon Petljura (1877-1926), ein ukrainischer Nationalist und Antisemit, gründet nach dem Sturz des Zaren die Rada. Sie proklamiert die Unabhängigkeit der Ukraine und den Austritt des Landes aus der Russischen Föderation. Als die Rote Garde im Januar 1918 Kiew besetzt, flieht die Rada nach Shitomir. Semjon Petljura, Kriegsminister der Rada, ruft die Deutschen zur Hilfe. Im Schutz der kaiserlichen Truppen unter Generaloberst Hermann von Eichhorn kehrt die Rada nach Kiew zurück. Deutschland und Österreich schließen einen Separatfrieden mit der Ukraine. Zum Dank dürfen sie das Land ausplündern. Brot- und Futtergetreide wird den Bauern rücksichtslos abgenommen und nach Deutschland transportiert. Es kommt zu Unruhen. Die Bauern revoltieren.
„Oh, viel, sehr viel hatte sich in diesen Herzen angesammelt: Stockschläge ins Gesicht, Schrapnellfeuer gegen unbeugsame Dörfer, von Serdjuksoldaten mit Ladestöcken zerfleischte Rücken und auch Bescheinigungen auf Papierfetzen, geschrieben von der Hand der Majore und Leutnants der deutschen Armee: „Das russische Schwein erhält für das bei ihm gekaufte Schwein 25 Mark.“ Und das gutmütige, geringschätzige Lachen über die, die mit solchen Bescheinigungen zum Stab der Deutschen in die STADT kamen. Und die requirierten Pferde und das beschlagnahmte Getreide und die Gutsbesitzer mit ihren dicken Gesichtern, die unter dem Hetman auf ihre Güter zurückgekehrt waren […] Das alles gab es“.
Im Bericht einer Sozialrevolutionärin heißt es nüchtern: „Im Verlaufe seiner Herrschaft und seines Kommandos in der Ukraine hatte Eichhorn das reiche blühende Land mit Galgen und mit Leichen übersät, die unbestattet liegen blieben.“
Dennoch wird der deutsche General nicht Herr der Lage. Er macht Pawel Skoropadski, seinen Schwager, einen zaristischen General und Großgrundbesitzer zum Hetman. Das beruhigt die Gemüter für kurze Zeit. Die Ausplünderung des Landes geht weiter. Hetman Skoropadski läßt Petljura frei, der im Gefängnis sitzt, weil die Deutschen ihm nicht mehr trauen. Er sympathisiert mit den Siegermächten Frankreich und USA.
„Das zweite Vorzeichen ereignete sich im Sommer, als die STADT voll üppigen, staubigen Grüns war, als sie polterte und dröhnte und die deutschen Leutnants täglich ein Meer von Sodawasser austranken […] Am helllichten Tag wurde in der Nikolajewskaja Straße, genau an der Stelle, wo die Droschken standen, kein andere als der Oberbefehlshaber der deutschen Armee in der Ukraine, Feldmarschall Eichhorn, ermordet, der unantastbare und stolze General, furchterregend in seiner Macht, der Stellvertreter Kaiser Wilhelm höchst selbst.“
Die Offensive der Deutschen an der Westfront bricht zusammen. Der deutsche Kaiser dankt ab.
„Da ging es wie ein elektrischer Strom durch die Hirne der Klügsten von denen, die mit harten gelben Koffern und üppigen Frauen durch das stachlige bolschewistische Lager in die STADT geschlüpft waren. Sie begriffen, dass das Schicksal sie an die Besiegten band, und ihr Herz füllte sich mit Grauen […] Alles aus. Die Deutschen verlassen die Ukraine. Das bedeutet also, dass die einen fliehen und andere, neue, sonderbare Gäste in der Stadt empfangen werden.“
Die neuen Gäste verkünden ihr Kommen mit drohendem Geschützdonner. Petljura nähert sich. Die Turbins, der jüngere Nikolka und der ältere Alexej sowie ihre Freunde folgen dem Aufruf zur Verteidigung und melden sich freiwillig. Getreu ihrer anerzogenen Gesinnung wollen sie kämpfen, wenn das Vaterland in Gefahr ist. Sie fühlen sich als aufrichtige Offiziere, sie sind die wahre Weiße Garde.
Mit unerbittlicher Satire entzaubert Bulgakow das Ideal der Brüder Turbin, das sich auf Zar Alexander I. beruft und dem Geist von Borodino verpflichtet ist. Bitter ist der Verrat, den sie erleben. Der Hetman verlässt in einer deutschen Uniform nachts heimlich die Stadt. Die Freiwilligen sind unzulänglich ausgerüstet. In klirrender Winterkälte fehlt es an Filzstiefeln. Skrupellose weiße Offiziere verraten ihre Untergebenen. Der ukrainische Führungsstab gibt unsinnige, sich widersprechende Befehle, schließlich löst er sich auf und überlässt die Kämpfenden ihrem Schicksal. Die bunte Truppe der Petljura Soldaten erobert die Stadt. Besonders gefürchtet sind die berittenen Haidamaken, die Jagd auf Juden und Offiziere machen und mit ihren Säbeln Köpfe rollen lassen. Nikolka und Alexej Turbin entkommen nur knapp dem Tode. Petljuras Herrschaft in Kiew dauert genau siebenundvierzig Tage. Im Februar 1919 naht die Rote Armee.
Michail Bulgakow schreibt seinen Roman 1923/24, zeitnah zu den Ereignissen in Kiew. Der Reiz des Authentischen, die biografischen Bezüge zum älteren Turbin, die satirische und phantastischen Überhöhung der Figuren und der Handlung machen „Die weiße Garde“ zu einem Werk von Weltgeltung. Es liest sich in diesen Tagen verblüffend aktuell.

Die Zitate sind entnommen aus:
Michail Bulgakow: Die weiße Garde, Verlag Kultur und Fortschritt, 1969.