17. Jahrgang | Nummer 8 | 14. April 2014

Neunzehn Fünfzehn. Als die Armenier spazieren gingen

von Mely Kiyak

Der eifrige Gouverneur von Diyarbakir, Dr. Reschid Bey, telegrafierte nach Istanbul, dass es ihm gelungen sei, 126.000 Christen aus dem türkischen Diyarbakir nach Nordsyrien zu deportieren. Er benötigte für die Aktion bloß drei Tage. Es war der August 1915. Um diese Zeit kocht Diyarbakir vor Hitze und wer tagsüber etwas Abkühlung benötigt, kann in den uralten Steingemäuern der alten Karawanserei einen Tee schlürfen. Vali Dr. Mehmed Reschid Bey war von Beruf eigentlich Arzt und gebürtiger Tscherkesse. Man konnte über ihn sagen, was man will, fleißig war er. Das ganze Jahr hindurch tötete er unermüdlich Menschen. 700 Christen auf einen Streich in Mardin, ein paar im Vorbeigehen irgendwo. In historischen Dokumenten von französischen Diplomaten liest man über Dr. Reschid Wörter wie abschlachten und Bluthund.
Diyarbakir ist die Stadt der Wassermelonen und jene Sorte, die dort wuchs, war im August eigentlich noch nicht reif. Und so trauten die übrig gebliebenen Menschen ihren Augen nicht, als sie sahen, wie im Tigris Wassermelonen schwammen. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass es sich um abgeschnittene Köpfe handelte. So erzählen es sich die Alten in Diyarbakir.
126.000 Menschen, egal ob religiös oder nicht, hatten allesamt eine Gemeinsamkeit. Sie waren Christen. Und sie waren erfolgreich. Erfolgreich im Handel, erfolgreich im Parlament, sie waren Handwerker, Schmiede, Apotheker und sie wurden zunehmend im osmanischen Reich gehasst, verachtet, verfolgt, verbrannt, ihre Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht.
Nur wenn man das weiß, versteht man, warum es so leicht war, 130.000 Menschen aufzufordern, sofort ihre Heimat zu verlassen. Weil sie schon seit Monaten, ach was, seit Jahren und Jahrzehnten sahen, zu was ihre muslimischen Nachbarn in der Lage waren: zuzusehen und zu schweigen. Die Christen versammelten sich vor den Toren Diyarbakirs und traten ihren Marsch nach Nordsyrien an. Zuvor aber kamen noch Bewohner des Landstrichs und nahmen den Vertriebenen, was sie selbst noch meinten, gebrauchen zu können. Kinder, Schmuck, Kleidung. Manch einer vergewaltigte noch schnell eine Frau.
In historischen Dokumenten tauchten nach 1915 immer wieder Zahlen auf, die von 2,5 Millionen vertriebenen, ermordeten, auf der Vertreibungsroute zusammengebrochenen Christen sprechen. Dr. Reschid Bey ist seiner Verurteilung durch Flucht und Selbstmord entkommen, so wie viele andere Täter auch.
Für die Überlebenden und ihre Nachfahren ist es bis heute nicht möglich, zu erfahren: Aus welcher Familie komme ich, wer ist für die Deportation oder Tötung meiner Vorfahren verantwortlich, was geschah mit dem Familienbesitz?
Nun gibt es Menschen, für die die Frage, ob es sich bei diesen Taten um einen Genozid oder Völkermord handelt, überlebenswichtig ist. Zum Beispiel Professor Hakki Keskin, ehemaliges Mitglied der SPD und ehemaliger Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, heute Mitglied von Die Linke, für die er auch schon im Bundestag saß, und Hochschulprofessor einer deutschen Universität. Wann immer der Linke Keskin den Begriff Armenischer Völkermord hört, schreibt er Briefe, in denen er um Begrifflichkeiten kämpft, als ginge es darum, Menschenleben zu retten.
Im Gorki Theater wurde im Februar dieses Jahres das Musiktheaterstück „Dede Korkut – Die Kunde von Tepegöz“ von Marc Sinan und den Dresdener Sinfonikern aufgeführt. Die Künstler verstanden die Kunde von Tepegöz als Gleichnis über die Schwierigkeit des Menschen, mit unlöschbarer Schuld umzugehen. In dem Stück selbst wurde eine Interviewpassage der türkischen Gegenwartsautorin Sema Kaygusuz eingeblendet, die von Tepegöz aus dem 15. Jahrhundert eine Parallele zu 1915 zog und darin „ein Bild für die heutige Türkei ohne Gedächtnis“, sah. Eine Türkei, die sich in Abwehrhaltung stelle und so reagiere: das können wir nicht getan haben, weder das Massaker an den Armeniern, noch das Massaker an den Kurden in Dersim.
Hakki Keskin schrieb noch vor der Aufführung eiligst einen Brief, der das Gorki über Umwege erreichte. Darin konnte er sich die grobe Instrumentalisierung dieses Theaterstückes nur so erklären, dass es sich um ein Machwerk von armenischen Lobbyisten handele, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre eingefrorene Haltung zu 1915 aufoktroyieren.
Ein weiterer, namentlich anonymer Brief irgendeiner aserbaidschanischen Lobbyvereinigung, adressiert ans Gorki, reagierte sogar mit Entsetzen auf Sema Kaygusuz‘ Zitat, das im Programmheft des Gorki zu Dede Korkut zitiert wurde. Der Brief ist lang und wirr und hektisch verfasst – vielleicht sogar von Hakki Keskin geschrieben, denn wer schon einmal Briefe von ihm gelesen hat, weiß, dass das seine stilistischen Merkmale sind – und wimmelt nur so von Begriffen aus dem Wörterbuch der Wehleidigkeit: befremdlich, diskriminierend, bedauerlich, beleidigend
Keskin selber ist übrigens Mitglied einer Lobbygruppe: „Türkisch-Aserbaidschanische Vereinigung in Deutschland e.V.“, beide Nationen verbindet, dass sie im Konflikt um die unabhängige Bergkarabach Region im Kaukasus an einem Strang ziehen. Im Kampf gegen wen? Gegen Armenien und die Armenier, denn die überwiegende Mehrheit der Bewohner in Bergkarabach sind Armenier.
Vor einigen Tagen wollte das Stadttheater in Konstanz den Roman „Das Märchen vom letzten Gedanken“ von Edgar Hilsenrath in der Regie von Mario Portmann auf die Bühne bringen. Der Roman behandelt die Deportation der Armenier aus der Türkei. Wieder ging es bei der anschließenden Reaktion um die Verwendung eines Wortes auf der Homepage des Theaters. Der Generalkonsul der Türkei, Serhat Aksen, beklagt in einem Brief, dass bezüglich der Ereignisse von 1915 der Ausdruck „armenischer Völkermord“ verwendet wird. Das wäre nicht rechtens, so Aksen, denn ein Völkermord stelle eine Straftat dar und die Türkei habe niemals von einem zuständigen Gericht ein solches Urteil erhalten. Wer wäre eigentlich das zuständige Gericht? Ist sein Sitz in der Türkei, in Armenien, in Den Haag?
Weiterhin fordert der Generalkonsul, dass vor jeder Aufführung sein Brief verlesen und auf der Webseite des Theaters veröffentlicht werde. Diesem Wunsch ist das Theater umgehend gefolgt, wer sich zu dem Stück informieren möchte, findet den Brief des Generalkonsuls auf der Seite des Konstanzer Theaters. Die Reaktion der Armenischen Gemeinde Baden-Württemberg zu dem Vorgang findet sich nicht auf der Homepage.
Es nützt alles nichts. Wir, die wir Wurzeln in der Türkei haben und in Deutschland leben – ausgerechnet dem Land, das sich, den Völkermord an den Armeniern zum Vorbild nehmend, seine jüdische Bevölkerung ausgelöscht hat und dem grausamsten Täter des armenischen Völkermords, Talât Pascha, in Berlin Unterschlupf und Schutz bot – müssen ruhig und besonnen allen Hass und Zwietracht säenden Menschen entgegentreten.
Denn wir haben in den Dörfern gelebt, in denen erst Christen, dann Aleviten, später Kurden, vertrieben und getötet wurden. Wir kennen das Verleugnen und Aufbäumen in all seinen Sprachen, Dialekten und Facetten. Die frechen und vorlauten Äußerungen der feinen Herren in den Generalkonsulaten. Wir kennen die Drohungen und Beschimpfungen der Herren, die ihre Nation, ihr Blut und ihre Ehre notfalls bis zum letzten Atemzug verteidigen, zur Genüge.
Doch wir kennen auch das beschämte Schweigen der Überlebenden und ihrer Kinder und das beschämte Schweigen der Nachfahren, die wussten, dass ihre Großeltern tatenlos zusahen.
He, ihr Herren in den Generalkonsulaten und Lohnempfänger des türkischen Staates, die ihr bezahlt werdet als Unruhestifter: Nennt das, was passiert ist, wie ihr wollt. Sagt, dass eine halbe, eine oder zwei Millionen Menschen 1915 ihre Heimat verließen, weil sie ein wenig spazieren gehen wollten, nennt es Holocaust oder Genozid oder Vertreibung oder Auslöschung oder einfach einen moralischen Totalausfall, nennt es wie ihr wollt, es spielt keine Rolle mehr.
Wenn ich hier sagen kann, dass ich meine Freundinnen und Freunde liebe, deren Eltern ihnen noch heute sagen, Halte dich von Kurden fern, halte dich von Armenien fern, halte dich von Aleviten fern, halte dich von Kopftuchmädchen fern, von Moslems, fern von Christen, fern von Juden!, wenn ich weiß, dass die Eltern meiner Freunde faschistisch oder nationalistisch oder islamistisch oder rechtsnationalistisch oder irgendwas wählen und ich mit diesen Frauen und Männern trotzdem verbunden und verwoben bin und in meiner Küche an meinem Herd sitze, dann sage ich es gerne noch und noch mal:
He, ihr Friedensverhinderer und Geiferer: Eure Zeit ist abgelaufen. Eure Worte sind abgenutzt. Eure Kämpfe längst verloren. Ihr wollt einen Keil zwischen uns, die nachfolgenden Generationen, treiben, ihr wollt, dass wir denken, lügen, verleugnen und hassen, wie ihr es tut. Diesen Gefallen können wir euch leider nicht erfüllen.
Euer Gift erreicht uns nicht.

Übernahme aus Kiyaks Theater Kolumne mit freundlicher Genehmigung der Autorin.