von Erhard Weinholz
Unser lange Jahre unbescholtenes Bötzowviertel hat es hart getroffen: Es ist, las ich in einem Prospekt, zum Szenekiez geworden, den ein „interessanter Mix aus Anwälten, höheren Angestellten, Politikern und Kreativen“ bevölkert. Doch leider haben die „Prenzlauer Gärten“ nahe beim Märchenbrunnen, für deren Townhouses man so um Käufer warb, keinerlei Verbindung zum Viertel, gehören also gar nicht dazu. Und der einzige Politiker, der meines Wissens hier – in der Hufelandstraße – seine Wohnung hatte, war ein Berliner SPD-Landesgeschäftsführer, der vor ein paar Jahren Schulden halber aus dem Leben schied.
Aber vielleicht ist mancher auch mit einem Mix der übrigen drei zufrieden. Obwohl gerade sie den einstigen guten Ruf der Gegend („wo Berlin ein bißchen nach Paris aussieht“) in den letzten Jahren ruiniert haben. Von Bio-Fimmel ist die Rede und aufdringlicher Demonstration der Elternrolle. Mich stört‘s nicht. Klammheimlich gefreut habe ich mich aber, als Neu-Anwohner der Hufelandstraße, die gegen angeblich zu dichte Baumbepflanzung protestiert hatten, per Plakat, leider anonym, eins übergezogen kriegten. Die richtig großen Bäume dort sind sowieso längst verschwunden, wurden in den 80ern Opfer defekter Gasleitungen.
Schön war die Gegend schon damals, auch wenn die Prachtfassaden bröckelten. Ruhige Straßen, viele kleine Läden, von denen nur zwei überlebt haben. In der Eckkneipe an der Lilo-Hermann-Straße kam man bei billigem Bier mit Alteinwohnern ins Gespräch. 2004 wurden hier ein paar Sequenzen von Sommer vorm Balkon gedreht. Doch Zulauf brachte auch das nicht, eines Tages gab der Inhaber ohne jede Vorankündigung auf.
Quer durchs Viertel fuhr der 9er Bus. Zweimal um die Ecke, schon war man am Alex. Bald nach der Währungsunion machten zwei schäbig gekleidete ältere Männer gleich neben der Haltestelle Bötzow-/Ecke Dimitroffstraße einen Pornoladen auf. Lange hielt er sich nicht, denn Kunden trauten sich da wahrscheinlich nur rein oder raus, wenn kein Wartender in Sicht war. Später wurde die Linie 9 zur 257, und einige Zeit darauf – wann eigentlich? – war trotz aller Proteste Schluss mit Bus. Auch das Postamt an der Bötzowstraße, NO 74, später 1074 Berlin, hat man vor Jahren schon geschlossen. Retten konnten die Anwohner hingegen ihre Bücherei, die Kurt-Tucholsky-Bibliothek, die der Bezirk kostenssparender Zentralisierung opfern wollte; seit sechs Jahren wird sie von Pro Kiez Bötzowviertel e. V. ehrenamtlich betrieben. Der rotbraune Klinkerbau in der stillen Esmarchstraße hat sich im Lauf der Zeit zum Kiezkulturhaus entwickelt: Ein Chor probt hier, Lesungen finden statt, der Spieleclub trifft sich, und alle paar Wochen diskutieren ein paar Leute vom Lesezirkel sozialistische Ideen von anno dazumal mit Blick auf die Praxis von morgen.
Ob die Zugewinne die Verluste wettmachen, muss jeder für sich selbst entscheiden. Auf alle Fälle aber hat unser Viertel an Wohlstand gewonnen. Schon am frühen Nachmittag sieht man viel Volk vor den Cafés in der Hufeland- und Bötzowstraße sitzen, vermutlich Kreative, die es sich leisten können, denn die Rechtsanwälte und höheren Angestellten haben zu der Zeit wohl noch in den Büros zu tun. Zudem sah ich an der Straßenbahnhaltestelle unlängst eine – leere, versteht sich – Flasche Moët & Chandon Imperial Brut stehen. Eine Pulle für 30 Euro einfach so an der Haltestelle auszuleeren, das ist Lebensart! Und neulich fand ich im Einkaufswagen, den ich mir vor der Kaufhalle gegriffen hatte, eine große, stramme echt ungarische Salami. Manche haben’s eben dicke. Oder hatte eine alte Frau das teure Stück vergessen? Von den letzten Euro ihrer kärglichen Rente hatte sie sich diese Wurst gekauft, um einmal im Leben richtig zu genießen, und nun muss sie, wie es im Kapitalismus Sitte ist, in ihrer kahlen, zugigen Dachkammer verhungern. Ich hätte die Wurst zwar trotzdem mitgenommen, sie jedoch unter Tränen verzehrt. Zum Glück fiel mir dann ein, dass es im Bötzowviertel gar keine armen alten Frauen gibt. Wann die letzte verschwunden ist, auch das weiß ich nicht mehr.
Allem Wandel standgehalten haben ein paar alteingesessene Trinker respektive Sprittis, wie das Volk sie liebevoll nennt. Gern sitzen sie, den Wohlstandbürgerinnen und -bürgern zum Trotze, in der Hufelandstraße vor der Thai-Pagode und lassen sich in Buddhas Namen volllaufen. Und es gibt es noch kleine Mädchen, die wie eh und je auf dem Bürgersteig spielen. Sie stehen im Kreis und skandieren: „Michael Jackson“, bei jeder Silbe werden die Hände gegen die der Nachbarinnen geklatscht, „fuhr nach Spanien, kaufte sich drei Damen. Die erste…“, dazu werden die Beine etwas gegrätscht, „sagte olala, die zweite…“, die Beine werden weiter gegrätscht, „sagte tschatschatscha, die dritte…“, und dann geht es von vorn los. Mit diesen Versen ist Michael Jackson nun in die Volksdichtung eingegangen wie vor vielen Jahren Caterina Valente, meist fälschlich Catarina genannt: „Catarina Valente / hat‘n Kopp wie ’ne Ente, / hat‘n Arsch wie ’ne Kuh, / und ab bist du.“ Solange kleine Mädchen auf der Straße Spielen nachgehen, die in keine Karrierepädagogik passen, muss uns um das Viertel nicht bange sein.
Wer sich für das Bürgerengagement im Viertel interessiert, dem sei die Seite www.prokiez.wordpress.com empfohlen.
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