von Wolfgang Brauer
Jürgen Kuczynski äußerte einmal, dass man aus Honoré de Balzacs „La Comédie humaine“, wie überhaupt der schönen Literatur jener Zeit, mehr über die seinerzeitigen französischen Zustände erfahre als aus den meisten gelehrten Büchern. Das trifft auch auf die DDR zu. Wer sie verstehen will, wird um die Werke Hermann Kants und Christa Wolfs, Erich Loests und Erwin Strittmatters, Maxie Wanders und Volker Brauns nicht herumkommen. Und er wird immer wieder auf Christoph Hein stoßen. Mir sind dessen Bücher wichtig. Obwohl die nun alles andere als empathieverdächtig sind. „Er lässt den Leser mit Berichten allein, die ihm schmerzvoll sind“, brachte Irmtraud Gutschke das vor fünf Jahren im Neuen Deutschland auf den Punkt. Hein zwingt seine Leser zum Gebrauch des eigenen Verstandes. Populär ist das nicht. Aber wer das nicht will, greift sowieso zum Paperback am Zeitschriftenstand.
1982 erschien im Aufbau-Verlag die Novelle „Der fremde Freund“ (bei Luchterhand „Drachenblut“) des bis dato kaum bekannten Autoren. Es ist die Geschichte der jungen Ärztin Claudia, die nichts und niemanden an ihr tiefstes Innerstes heranlässt und offenbar zufrieden vor sich hinlebt: „Was mir Spaß macht, kann ich mir leisten. Ich bin gesund. Alles, was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. […] Mir geht es gut.“ Dieses „nur“ oberflächlich vor sich hinplätschernde Buch – einen „dramatischen Handlungsfaden“, ein außergewöhnliches Ereignis gibt es im strengsten Sinne des Wortes nicht – war für das „Leseland DDR“ (Klaus Höpcke) ein Schock. Christoph Hein tat nicht mehr und nicht weniger, als die moralische Selbstlegitimation der DDR zu hinterfragen. Seine scheinbar gefühlskalt agierende Heldin, selbst der Tod des Freundes Henry stört ihr mit der Apothekerwaage austariertes inneres Gleichgewicht kaum, ist ein Gegenbild zum offiziell proklamierten Menschenideal. Nicht konstruiert, das war von allen tagtäglich erlebbar. Heins Befund ist gnadenlos: Der humanistische Anspruch der sozialistischen Gesellschaft war bislang nicht nur nicht eingelöst worden – er ging irgendwann über Bord. „Ich leiste was – ich leiste mir was!“, plakatierte zeitgleich die SED-Propagandaabteilung.
Im Jahr darauf brachte Alexander Lang in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin Heins „Die unglaubliche Geschichte des Ah Q. Nach Lu Xun“ heraus. In Berlin ging das Stück 45mal über die Rampe. Vor dem Ende der DDR wagte wohl nur noch das Theater Schwedt im Jahre 1987 eine Inszenierung in des Dichters eigenem Lande.
In seiner Prosa wirft Christoph Hein (1985 „Horns Ende“, 1989 „Der Tangospieler“) den Blick auf die Alltagsrealitäten der DDR. „Der Stoff ist der Autor selbst“, sagte er 1982 auf einer Tagung des Berliner Schriftstellerverbandes. Seine Dramatik hingegen verhandelt Herrschaftsangelegenheiten. 1980 führte das Cottbuser Theater das Schauspiel „Cromwell“ auf: Oliver Cromwell, Revolutionär mit hehren Idealen, muss erfahren, dass das Volk, dem er Gutes bringen will, sich zunehmend abwendet. Er wird zum Diktator und watet durch ein Meer von Blut. Schließlich landet der blutbesudelte Idealist selbst am Galgen. Postum allerdings. Das mochte für Naivlinge noch als Historienstück durchgegangen sein. Kunst verhandelt jedoch immer gegenwärtige Dinge.
„Die unglaubliche Geschichte des Ah Q“ war nicht mehr fehl-interpretierbar. Hier wird eine Revolution in einer großartigen Parabel in doppeltem Wortsinne vorgeführt: Die führenden Köpfe bereichern sich maßlos, den idealistischen – die auch nicht ganz koscher sind – wird der ihrige abgeschlagen. Letztlich scheitert die Revolution „an der Untätigkeit ihrer Akteure“, wie Frank Hörnigk bemerkte. Sechs Jahre später passierte das tatsächlich. Die „Akteure“ saßen am Tisch und waren so untätig, dass alle Versuche, das damalige Geschehen heute trotz bester Quellenlage irgendwie auf die Bühne zu bringen, zur mehr oder weniger langweiligen Farce verkommen müssen.
Das eigentlich atemberaubende Stück zur „Wende“ hingegen stammt von Christoph Hein und wurde am 12. April 1989 vom Dresdner Staatsschauspiel in der Regie von Klaus Dieter Kirst uraufgeführt. Es heißt „Die Ritter der Tafelrunde“. Das ist kaum verschlüsselt und beschrieb eigentlich schon alles, was dann auch passieren sollte: „[…] Artus. Du solltest zuallererst einsehen, daß wir gescheitert sind.“ (Parzival) – „Ihr lebt in einem Traum und weigert euch aufzuwachen. […] Ich will aber keinen Gral suchen. Ich will ihn nicht finden, und ich will ihn nicht einmal geschenkt haben.“ (Mordret). Und der Schluß-Dialog. Artus: „Ich habe Angst, Mordret. Du wirst viel zerstören.“ Mordret: „ Ja, Vater.“ Ende. Das Neue Deutschland nannte das am 3. Mai 1989: „Ein zukunftsbewußtes, optimistisches Theater.“ Ein grandioser Irrtum. Der Rest steht in den Geschichtsbüchern.
Christoph Hein blieb nach dem Untergang der DDR seinem von extremer Genauigkeit beim Blick auf die Wirklichkeit dieser Welt und von großer Nüchternheit geprägten Erzählstil treu. Bernd Willenbrock („Willenbrock“, 2001) und Bernhard Haber („Landnahme“, 2004) stehen in einer Reihe mit der Heldin des „Fremden Freundes“. „In seiner Kindheit ein Garten“ (2005), „Frau Paula Trousseau“ (2007) und „Weiskerns Nachlass“ (2011) reflektieren Zustände eines Landes, das angesichts dieser Befunde durchaus Anlass zur Sorge haben sollte. Gute Literatur hat seismographische Qualitäten. Geringfügigste Erschütterungen können große Beben ankündigen. Man muss nur Messwerte lesen können.
Die Gabe dazu hat Hein wohl nur ein einziges Mal verlassen. 2004 folgte er den Lockrufen des Berliner Kultursenators Thomas Flierl (PDS) und wollte die Intendanz des Deutschen Theaters übernehmen. Die daraufhin gegen ihn losgetretene Hasskampagne erinnerte an die kalte Front der Ablehnung, die sich vor Stefan Heym aufbaute, als er am 10. November 1994 die Eröffnungsrede zur 13. Wahlperiode des Bundestages hielt. „Man hielt Hein vor, er würde da eine Art letztes Aufgebot von ostdeutschen Künstlern hinstellen“, fasste Leander Haußmann den damaligen Pressetenor im Spiegel zusammen. Christoph Hein warf entnervt das Handtuch – und blieb sich selbst treu: „Ich gehöre zu den Ausgegrenzten, dort war, dort ist mein Platz. […] Ich gehöre zu ihnen und nicht zu den Ausgrenzern. Ausgegrenzt zu werden, ist durchaus misslich, aber dem Rückgrat und der Kunst förderlich.“ Das schrieb er 2009 in einem Offenen Brief an die Bundesregierung, die ihn zur Mitwirkung an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes einladen wollte. Hein reagierte damit auf die regierungsamtliche Kunstzensur der Jubiläumsaustellung im Berliner Gropius-Bau, von der die ostdeutschen Künstlerinnen und Künstler ausgeschlossen wurden, weil sie in einer Diktatur gelebt und gearbeitet hätten.
Das passt trefflich zu einer Anekdote, die Christoph Hein in einer 2010 für den freitag geschriebenen Laudatio auf Christa Wolf (anlässlich ihres Romans „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“) erzählt: Nachdem er erfahren habe, dass in der Gauck-Behörde mittlerweile 82 Journalisten seine Akte angefordert hätten, erschienen bei ihm drei Journalisten einer großen Tageszeitung zum Interview. Deren erster Satz habe gelautet: „Herr Hein, wir haben leider nichts gegen Sie in der Hand.“
Wir haben etwas in der Hand: das Werk eines der großen Autoren der deutschen Literatur. Am 8. April wurde Christoph Hein 70 und Das Blättchen gratuliert von Herzen!
Nachsatz: Im Gespräch mit Klaus Hammer spottete Hein 1982 (!), dass „wenn wir nur etwas Geduld und Seelenstärke“ aufbrächten, zum 50. Jubiläum seines Todestages Inszenierungen seiner Stücke erlebbar wären: „Unsere Theater haben ein prächtiges, ungebrochenes Verhältnis zum Erbe.“ Gelegentlich sehe ich Christoph Hein in diversen Berliner Theaterkorridoren. Er scheint das Theater nicht ganz aufgegeben zu haben. Das lässt hoffen.
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