17. Jahrgang | Nummer 8 | 14. April 2014

Eine Zukunft des Lesens*

von Jan Meier

3.
Man fragt sich, ist das in Zukunft wirklich alles? Und wohin verschwinden eigentlich die ganzen Bestseller der jeweiligen Vormonate? Und wo sind die zehn, zwanzig Jahre alten, vergriffenen Bücher, auf die der Verlag zwar das Copyright beansprucht, sie aber auch nicht mehr rausrückt? Will man sich ernsthaft auf Schatzsuche begeben, muss man sich in internationale Gewässer begeben, wo der starke Arm deutscher und amerikanischer Justiz nicht hinreicht. Einige, auch deutschsprachige Uploader, haben schon vor ein paar Jahren ihre Liebe fürs Inselkönigreich Tonga entdeckt; der König von Tonga vergibt nämlich zu gut-bürgerlichen Tarifen völlig anonyme, nicht zurückverfolgbare Domains mit der Kennung „.to“.
Für deutschsprachige eBuch-Schatzsucher ein wahres Schlaraffenland betreibt hier unter dem Namen www.ebook-hell.to eine Webseite. Sie lagern allerdings nicht selbst ihre Geschenkartikel, sondern präsentieren die Sachen wie in einem Versandkatalog. Möchte man was haben, erhält man einen Link direkt zu dem betreffenden Hoster, bei dem man dann das Gewünschte geschenkt bekommt. Hier findet man so ziemlich das gesamte aktuelle eBuch-Sortiment der letzten Jahre. Ältere eBücher und Fachliteratur sind allerdings eher selten zu finden.
Auf www.gutenberg.org liegen circa 60.000 Texte in nahezu allen irgendwann gedruckten Sprachen; diese Texte sind älter als 50 Jahre und daher frei verfügbar, allerdings sind es unformatierte Rohtexte (Unicode.txt), die also stark überarbeitet werden müssen (Seiten-Layout, Schriftgröße und so weiter), bevor man sie auf seinem eBook-Reader lesen kann. Auch ist es keine planmäßig angelegte Sammlung, die Texte sind einfach nur ehrenamtlich gescannte Spenden. Vieles fehlt denn auch.
Die wirklich ganz großen Schatzkammern befinden sich aber nicht auf Tonga, sondern auf russischen Servern. Man wird hier schmerzlich immer wieder daran erinnert, dass Russland nicht bloß eine überdachte Tankstelle im Besitz despotischer Mafiabosse und Oligarchen ist, sondern lebendiger Teil alter europäischer Geisteskultur.
Das Netzwerk besteht aus drei Web-Seiten: libgen.org, www.bookza.org, und www.bookfi.org, die auf ihren Servern schätzungsweise 40 Millionen eBook-Titel aufbewahren. In allen relevanten Sprachen, selbst in Altchinesisch, Sanskrit und Esperanto. Es handelt sich bisweilen um gescannte Manuskripte, um längst vergriffene hundert Jahre alte Titel, meist aber mit OCR (Texterkennung) aufbereitete Dateien. Im Unterschied zu „Google-Books“, die sich mehr Gedanken ums Copyright machen als um die Qualität der gescannten Texte, interessieren sich die Hoster bei libgen.org ausschließlich für das Sammeln lesbarer und lesenswerter Bücher. Sie sind ebenso wie ihre historischen Vorläufer in Alexandria oder Beijing monomanische Bibliothekare, die Bücher als Gemeineigentum der Menschheit betrachten und nicht als Privatbesitz von Milliardären.
Wer dort nachgräbt, findet auch praktisch die gesamte deutsche Literatur wieder –von Goethe, Hegel, Kant bis Marx, Mann, Brecht und Honeckers Moabiter Tagebuch. Wer nur fehlt, sind zum Beispiel Goebbels oder Hitler. Aber die fehlen ja nicht wirklich. Hitler kann man sich im Übrigen irgendwo von US-Servern runterladen, diesmal vom FBI unbelästigt, obwohl auch das eine klare Urheberrechtsverletzung darstellt. Denn das Copyright auf „Mein Kampf“ hält immer noch die bayerische Staatsregierung, die eigentlich, wie üblich, auch hier drakonisch gegen Raubkopierer vorgehen müsste. Aber bei Adolf dem Hitler, da kann man schon mal das eine oder andere rechte Auge zudrücken.
Wer auf diesen Servern etwas gefunden hat, klickt es an und lädt es sich auf seine Festplatte. Anonym, umsonst. Nur ganz bescheiden rechts oben ein kleiner „Donate please“ Schaltknopf. Bitte eine kleine Spende. Und das für die Möglichkeit, sich in der größten frei zugänglichen Bibliothek aller Zeiten und Kulturen umsonst bedienen zu dürfen.

4.
Wir sind nun fast unmerklich mitten in der fernen Zukunft gelandet. Die Gegenwart der Zukunft des Internet ist wie ein Weltmeer: reichhaltig, unglaublich vielfältig, voller interessanter und bizarrer Lebewesen, total verschmutzt, verseucht und durchkreuzt von Akteuren mit bösartigsten Absichten; es tobt ein mörderischer Kampf zwischen Privatbesitz und gesellschaftlich verfügbarem Eigentum, es ist eine genaue Widerspiegelung des Zustandes und Weges der Weltbevölkerung.
Die Frage eingangs war: Wie werde ich diese gigantische Masse Information, den Rohstoff, in Zukunft gewinnen und wie werde ich diesen Rohstoff, sinnvoll zu Wissen verarbeitet, anwenden? Die gegenwärtige Tendenz deutet darauf hin, dass die gesamte Ex-und-Hopp-Literatur auf Papier, vom Taschenbuchkrimi bis zur Illustrierten, in den nächsten Jahrzehnten vom Markt verschwindet.
Auch dicke gedruckte Wörterbucher und Enzyklopädien sind in absehbarer Zeit so obsolet wie die mittelalterlichen Schreiberstuben und die mechanische Schreibmaschine. Ein Übersetzer, ein Autor sitzt schon heute nur noch am Rechner, und was immer er wissen will, holt er sich von seiner Festplatte oder vom Internet.
Solang aber eBook-Reader derart überteuerte Geräte mit eingebautem Verfallsdatum und winzigem Gebrauchswert sind, wird kein Profi so schnell umsteigen vom gedruckten Handbuch, in dem er gezielt suchen und ohne Lupe studieren kann. Das eingebaute Verfallsdatum, etwa bei den Akkus von Handy und eBook-Reader, hängt eng zusammen mit der den Marktgesetzen anhaftenden Update-Zwangspsychose. Durch die wahnhafte Gleichung im Kopf, „neu=gut; alt=veraltet“, sehen sich Produzenten und Marktteilnehmer unter Druck, permanent auch bestens funktionierende Hardware und Software im Jahrestakt zu entsorgen. Dies betrifft nicht zuletzt die Formate und Formatierungen aller Information, und deren Verfügbarkeit wird ebenso unzuverlässig wie eine Glühbirne oder ein nicht austauschbarer Handy-Akku.
Dies ist die Lehre, die eigentlich alle hätten ziehen müssen aus dem Desaster bei der NASA, die plötzlich ihre alten Filme und Fotos nicht mehr wiedergeben konnte, weil Atari und Commodore längst toter sind als ein Mayacodex, den man wenigstens teilweise noch entziffern kann.
2.800 Jahre alte chinesische Seidenmanuskripte kann man dagegen auch heute noch ziemlich mühelos lesen, weil das Kaiserreich Schrift und Sprache auf hohem Niveau und ohne Druck privater Profitzwänge verbindlich standardisiert und tradiert hatte.
Und solange Kapitalismus als Weltreligion herrscht, kommt nur das auf den Markt, was Geld bringt: Waffen, Pornos, Heroin, Sklaven, Wegwerf-Elektronik, Plastikmüll, Desinformation, Superman und Starwars, Genmais, Genkartoffel, Pestschwein und Pesthuhn. Was gut ist, gut tut, nützlich, brauchbar oder überlebensnötig wäre, dafür kannst du dich ganz hinten anstellen, in der langen, langen Warteschlange.
Trotzdem: Eine bestimmte Art haltbaren Wissens wird es also sicher noch ziemlich lange auch gedruckt zu lesen geben. Die Ästhetik des Widerstands, Sedgewicks Algorithmen-Handbuch, die Gedichte vom Kalten Berg, Das Kapital, oder Patanjalis Yogasutra möchte wahrscheinlich auch in 50 Jahren niemand nur am PC-Monitor oder eBook-Reader lesen.
Echte Bücher waren lange Zeit zuverlässige Freunde. Google-Books und Microsoft-PDFs sind niemandes Freund. Ich sehe nicht, warum sich daran so bald was ändern sollte.

Epilog
Wer die oben erwähnten Webseiten selbst irgendwann in Augenschein nehmen will – hier ein todernst gemeinter Rat: Im Internet auf „Hochseefahrt“ gehen grundsätzlich nur über Proxies, die die eigene IP- (bei jeder Einwahl vergeben und über Vorratsdatenspeicherung dem Internetteilnehmer zugeordnet) oder MAC-Adresse (die dem Rechner zugeordnete Kennung) unsichtbar machen (zum Beispiel das „Tor-Project-Bundle“ und „Hide MAC“). Und eine gut konfigurierte Antispy-Software verwenden wie zum Beispiel Malwarebytes oder Antivir (das aber langsame Rechner zu stark ausbremst). Die Webseiten selbst sind wie ein Bahnhofsviertel bei Nacht – es treibt sich viel Gesindel rum.

P.S.: Blättchenschreiber erhalten bekanntlich kein Honorar. Ihre knauserigen Leser zahlen ihnen, weil langzeitarbeitslos, nicht mal Nahles’schen Mindestlohn, im Gegenteil. Damit Sie, werter Leser, das oben Geschriebene alles mit eigenen Augen lesen, und möglichst auch noch selber glauben, werd ich Ihnen bei Gelegenheit, wenn wir uns mal wieder treffen bei McDonalds am Zoo, einen hollandtomatenfreien Biokaffee mit naturidentischen Verdickungsmitteln spendieren, oder Ihnen, falls Sie mir doch lieber einen eBrief schreiben, heimlich irgend ein eBuch zustecken, das ich selber irgendwo mit eigenen Augen aufgelesen habe.

* – Der erste Teil dieses Berichtes erschien in Ausgabe 7/2014.