17. Jahrgang | Nummer 6 | 17. März 2014

Justizirrtum?

von Renate Hoffmann

Er hatte alles gründlich vorbereitet; war zweimal nach Tangermünde gefahren, um das Lokalkolorit aufzunehmen. Skizzierte die Lage der Handlungsorte, notierte Eindrücke und Gedanken. Zum Beispiel über den Kirchplatz der Stadt: „ … nüchtern, leer und langweilig. Die Phantasie hat hier alles zu tun.“ „St. Stephan. Große gotische Kirche. Jetzt kahl. […] Die beiden Patrizier-Häuser der Mindes und Zernitz. Facade. Grundriß. Die Zimmer-Verteilung.“ Er plante den Ablauf der Novelle Nr. 1 Grete Minde gewissenhaft.
An Paul Lindau, Herausgeber der Monatsschrift „Nord und Süd“, schreibt Theodor Fontane (1819-1898) am 6. Mai 1878: „Ich habe vor, im Laufe des Sommers eine altmärkische Novelle zu schreiben. […] Heldin: Grete Minde (eigentlich: Minden R.H.), ein Patrizierkind, das durch Habsucht, Vorurteil und Unbeugsamkeit von seiten ihrer Familie, mehr noch durch Trotz des eigenen Herzens, in einigermaßen großem Stil, sich und die Stadt vernichtend, zugrunde geht. Ein Sitten- und Charakterbild aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege.“
Emilie Fontane erfährt am 11. August 1878 von ihrem Mann: „Meine Novelle habe ich angefangen und sehe wenigstens, daß es geht. Bleibt mir Kraft und Gesundheit, so muß es etwas Gutes werden.“ Es wird etwas Gutes! Bereits im September beendet der Dichter den ersten Entwurf und berichtet Clara Stockhausen (10. September 1878): „Seit gestern abend hat nun Grete Minde, meine neue Heldin, Ruhe, ruht, selber Asche, unter der Asche der von ihr aus Haß und Liebe zerstörten Stadt.“
Da aber Fontane, wie er bekennt, „ein Bastler und Pußler“ ist und diese Eigenschaft auch nicht ablegen kann, so vergehen noch einige Monate bis zur Fertigstellung der Novelle. – Sie erscheint 1879 als Vorabdruck  bei Lindau, und die Buchausgabe folgt ein Jahr später.
Der Schriftsteller Paul Heyse (1830-1914) urteilte über das Werk: „Eine Dichtung von erschütternder Kraft und hoher poetischer Schönheit.“ Zutreffender lässt sich die Erzählung nicht beschreiben, zumal sich darin ein wahrer Kern verbirgt, der nicht weniger erschütternd ist, als in Fontanes empfindsamer  Schilderung. – Der Aufbau Verlag (Aufbau Taschenbuch) legte 2013 die Novelle Grete Minde erneut vor; Kommentar und Chronik sind angefügt.
Die Geschichte ist bekannt und bald erzählt. Es sei erlaubt, die von Theodor Fontane an Paul Lindau vorab gegebene Kurzfassung ein wenig auszuschmücken.
Obgleich die Handlung in freundlicher Umgebung und sommerlich heiter ihren Lauf nimmt, liegt sie doch von Anbeginn an unter einem düsteren Himmel. Grete und Valtin, Nachbarkinder, sind Halbwaisen. Sie – von zierlicher Gestalt, stolz und mit dem Temperament ihrer spanischen Mutter ausgestattet; dem Aussehen nach „eine Fremde“. Er – „ein echt märkischer Breitkopf“.
Grete lebt im Hause ihres Halbbruders und dessen frömmelnder Frau, die das junge Mädchen Abhängigkeit und Abneigung täglich spüren lässt. Mit Valtin vertraut, versucht Grete ihrem inneren Protest zu gebieten. Es gelingt der Stolzen nur schwerlich.
Nebenher erlebt man das Treiben der Stadt. Wie bunte Bilder sind die Ereignisse in die stille, fortschreitende Tragödie eingestreut. Puppenspieler ziehen durch Straßen und Gassen und werben für das Spiel vom „Jüngsten Gericht“. Vorahnung des Geschickes? Das Stück ist gut besucht – und lesenswert. Fontane, der langjährige Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, schaut durch die Zeilen. Man vermeint, wie Valtin und Grete, in der zweiten Reihe zu sitzen.
Zum Marienfest im Mai treffen sich die Tangermünder Bürger im Freien und feiern ausgelassen. Die Nachbarkinder sind dabei und gestehen sich das Gefühl ihrer Heimatlosigkeit. Verlaufen und zu spät zurückgefunden, kommt es zu einer harten Auseinandersetzung zwischen Grete und ihrer Schwägerin. Die Anspannung wächst.
Valtin und das Mädchen verabreden sich auf dem Burggelände und rasten an einer Stelle mit weitem Umblick: „Zu ihren Füßen hatten sie den breiten Strom (die Elbe R.H.) und die schmale Tanger, […] drüben aber, am anderen Ufer, dehnten sich die Wiesen, und dahinter lag ein Schattenstrich, aus dessen Lichtungen hier und dort eine vom Abendrot übergoldete Kirchturmspitze hervorblickte. Der Himmel blau, die Luft frisch; Sommerfäden zogen.“ – Die Stimmung ist dazu angetan, sich ihre gegenseitige Neigung zu gestehen. „Ja“, sagt Grete, „dich hab ich. Und ohne dich wär ich schon tot.“ Sie hat endlich einen Menschen gefunden, der sie liebt.
Sie beschließen zu fliehen und setzen es in die Tat um. Abenteuerlich durchqueren beide den nächtlichen Wald, von Zuversicht und Zweifeln begleitet. Böhmische Flößer nehmen Valtin und Grete auf. Die Fahrt elbabwärts führt durch eine malerische Auenlandschaft. Die Ängste jedoch des jungen Paares bleiben. – Fontane hebt das weitere Geschehen auf, und lässt es erst drei Jahre später wieder beginnen.
Valtin und Grete fanden irgendwann zu den Puppenspielern und wurden deren Mitglieder. Die Truppe spielt erneut in der Nähe von Tangermünde. Valtin liegt auf den Tod. Er bittet Grete mir ihrem gemeinsamen Kind in das Haus des Bruders zu gehen und sich um Versöhnung zu bemühen. Es scheitert. Sie wird barsch abgewiesen. Auch der Versuch, das ihr zustehende Erbe einzuklagen, schlägt fehl. Das Stadtgericht lehnt die Forderung ab. – „Es war ihr mehr auferlegt worden, als sie tragen konnte.“
Grete Minde legt Feuer. Die Stadt brennt. Sie steigt auf den Turm von St. Stephan und stürzt, nachdem auch hier das Feuer wütet, mitsamt Gebälk und Glocken in die Tiefe. –
Ich reise nach Tangermünde. Am historischen Rathaus mit seiner prächigen Schmuckfassade steht seit dem 22. März 2009 eine lebensgroße Bronzeskulptur der Margarete Minden (Künstler: Lutz Gaede). Hier fand der Prozess gegen sie statt, der mit dem Todesurteil endete und sie am 22. März 1619 auf den Scheiterhaufen brachte. Die Anschuldigung gegen die junge Frau lautete, am 13. September 1617 die Stadt in Brand gelegt zu haben. Das Großfeuer richtete schwere Schäden an.
Nach Durchsicht der Prozessakten, die im Stadtarchiv liegen („Acta Inquisitional g. Margarethen Mündten und Consorten in pct. Brandstiftung. 1620 … “; 230 Folioseiten), nimmt man gegenwärtig an, dass es sich im vorliegenden Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine juristische Fehlentscheidung handelte.
Die Prozessführung wird als oberflächlich und „verworren“ eingeschätzt. Verbürgte Aussagen von Entlastungszeugen erfahren keine Wertung. Unzulänglich geprüften Angaben ihres Mannes, einem Taugenichts, aufgegriffen wegen räuberischer Umtriebe, hingegen, schenkt man Glauben: Seine Frau, so gibt er vor, habe ihn zur Brandstiftung angetrieben und dabei mitgewirkt. Grund dafür sei die Verweigerung ihrer Erbansprüche durch den Rat und die ablehnende Haltung ihrer Familie gewesen. Erst unter der „Scharfen Frage“, der Folter, rang man ihr, erschöpft wie sie war, ein Schuldgeständnis ab. Die Hinrichtung geschah mit sadistischer Grausamkeit.
Auf der Pflasterung vor dem Rathaus steht Margarete Minden, barfuß, Hände und Füße in Ketten. Ihre Haltung ist leicht vorgebeugt. Sie trägt Anklage und Schmerz im Gesicht und die Frage, die sie den Richtern entgegen warf: „Wer hat mich dazu gebracht, daß ich muß so umgehen!“

Theodor Fontane: Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik, Aufbau Taschenbuch 2013, 126 Seiten, 8,99 Euro.