17. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2014

Stadtbildbetrachtung

von Erhard Weinholz

Wenn ich genug gearbeitet habe, nicht mehr schreiben, nicht einmal mehr lesen mag, dann gehe ich hinaus und durchstreife ein Stück Berlin. Seit vierundvierzig Jahren lebe ich hier, die Stadt ist mir vertraut, keine Straße – zumindest im Ostteil des Ringbahnbereichs –, die ich nicht schon einmal durchlaufen hätte. Im Vertrauten droht allerdings die Ortsblindheit. In Weißensee sah ich einmal ein Kachelmosaik an der Hausfront, stilisierte Tauben. Ich fragte einen alten Mann, der schräg gegenüber müßig aus dem Fenster schaute, ob er wisse, was die zu bedeuten haben; erstaunte Antwort: „Was für Tauben?“ Zwei Übungen, das Sehen zu trainieren: Den Blick höher richten, nicht immer nur aufs Erdgeschoss, auch mal auf die Fassaden darüber – natürlich nicht gerade, wenn man den Fahrdamm überquert. Oder: In eine Straße hineinschauen und dabei jede Erinnerung, die sich mit ihr verbindet, ausblenden, sie anschauen, als sähe man sie zum ersten Mal. Es klappt nicht immer, aber wenn, dann finde ich zum Beispiel sogar die langweilige Torstraße auf einmal schön.
Meist jedoch habe ich das Naheliegende im Auge. Die Kartons mit der Aufschrift „Zum Mitnehmen“ etwa, die hier und da auf Fenstersimsen oder dem Bürgersteig stehen, bescheidene Nachkommen der Ostberliner Sperrmüllcontainer, die mitunter ganze Nachlässe aufnahmen. Manches Mal bin ich dort mit Suchenden ins Gespräch gekommen, am liebsten mit jungen Frauen. Nie wurde gestritten um die Funde; das Stöbern sollte ein Vergnügen sein. Im Herbst 1990 war Schluss damit; im Westen, so hieß es, gebe es das schon lange nicht mehr. „Scheiß-Westen“, habe ich damals notiert, „sollen lieber auch dort welche aufstellen. Dann würden sich Ausflüge nach Westberlin vielleicht lohnen.“ Denn in den Kartons findet sich nur Kleinkram, und über ein paar Tassen und Teller, ein zerbeultes Sieb, zwei angeschlagene Eierbecher und ein halbes Dutzend Plastelöffel lohnt auch kein Gespräch. Immerhin: Wer nicht gerade anspruchsvoll ist, kann damit kostenlos seine kahle Küche ausstatten. Mich dagegen locken eher die Bücher. Gern geboten werden Sprachführer und alte Merian-Hefte, DDR-Drucke auf Klopapier und broschierte Bände, auf deren Umschlag schöne Frauen an der Brust starkarmiger Helden dahinschmelzen. Egal, ich schaue die Stapel jedes Mal hoffnungsvoll durch.
Auch Plakate, skurrile Aufkleber und Aushänge verschiedenster Art sammle ich ein. Wände für Mitteilungen zu nutzen ist ja ein uralter Brauch, allerdings musste man die Nachricht früher mühsam in den Stein ritzen: „Septimus säuft und hat Schulden“. Das blieb dann aber auch ein paar Jahrhunderte stehen. Ihre größte Zeit hatten die Kleinanzeigen im Freien nach dem Ende des letzten Krieges – kaum jemand, der nicht jemanden vermisste. Später kam Ordnung in die Sache: Einfach irgendwo einen Zettel „Suche…“ oder „Verkaufe..“ anzupinnen wurde polizeilich untersagt. Man tat es trotzdem. Eine alte Frau aus meinem Hause in der Schwedter Straße bot für wenig Geld Kristallglas an, wahrscheinlich reichte die Rente nicht. Obwohl sie immer nur Salem gelb rauchte, die billigste Sorte damals. Ich glaube, sie bestand zum größten Teil aus Kippen, die in den Kneipen gesammelt und alle Vierteljahre abgeholt wurden.
Auch ich habe einmal mit so einem Aushang mein Glück versucht. Mein schönes, noch gar nicht so altes Fahrrad war geklaut worden (ja, schon zu DDR-Zeiten gab es das, nicht erst seit dem Jahre ’90), ich hatte darauf ein gebrauchtes gesucht. Auf mein Zeitungsinserat meldete sich ein alter Mann, der mit seinem Rad einst lange Touren unternommen hatte. Es fuhr sich gut, war obendrein vorn gefedert, nur war es dadurch, wie ich gleich auf der nächsten Bahnhofstreppe merkte, auch bleischwer. Also machte ich an der Linde vor unserer Kaufhalle das Angebot „Gut erhaltenes altes He.-Rad“ publik, und tags darauf war es verkauft.
Heute geht es bei den Anschlagzetteln, jedenfalls in unserem schönen Viertel, oft ums Wohnen; meist wird Wohnraum gesucht, seltener geboten. Eine andere Spezies sind die Warnungen – vor Spritzen am Spielplatz oder vergiftetem Hundefutter im Park. Unschön fanden manche die Schwabenschelte, die hier einige Zeit betrieben wurde. Na gut … aber wer hat denn angefangen mit der Hetze? Die Berliner haben die Zuzügler freundlich begrüßt und ihnen in einer Infobroschüre mit dem Titel „Berlin für Bonner“ – und den Rest der Welt ebenso – viele nützliche Tipps gegeben. Was war der Dank? „Hier spricht Berlin. Geschichten aus einer barbarischen Stadt“, ein übles Herumgemeckere eben dieser Zuzügler, das es bis 2005 auf vier Auflagen brachte; zwei Jahre später folgte „Schaut auf diese Stadt. Neue Geschichten aus dem barbarischen Berlin“. Ja, denn brauchense sich auch nich zu wundern. Inzwischen scheinen sich die Gemüter auf beiden Seiten beruhigt zu haben.
Das Gros der bewussten Aushänge stellen die privaten Verlust- und Vermisstenanzeigen. Verloren wurden in den letzten Monaten unter anderem ein Rock – „HILFE ICH HABE MEINEN NEUEN ROCK VERLOREN FINDALON Das war ein Gescheng von meina Oma“, alles handschriftlich, dazu mit Farbstiften ein Bild des Rocks –, des weiteren Schlüsselbunde, Eheringe und ein Laptop mit der kompletten, nirgendwo kopierten Doktorarbeit im Speicher. Personen wurden seit längerem keine vermisst, dafür mehr als ein Dutzend Katzen. Einmal hatte jemand für Hinweise eine eigene Mailadresse eingerichtet. Ein anderes Mal war auf dem Zettel vermerkt „Im Asia Wok gefunden um die Ecke“. Ein einziges Mal wurde ein Hund gesucht, ein recht großer, gefährlich wirkender schwarzer Köter. „Wird vermisst!“ stand auf dem gelben A4-Blatt. Und von wem? Keine Angabe… wozu dann diese Zettelkleberei? Ich hatte nämlich noch zwei ähnliche dieser Art gefunden. Nach einer Weile kam die Erleuchtung: Das war Kunst, und sie trug vermutlich eine Botschaft in sich. Der Hund war vielleicht ein Nachkomme von Muck, Hitlers erstem Schäferhund. Auch der war schwarz gewesen. Statt auf dem Obersalzberg steht er nun vor dem Tor einer Garage, bewacht des Deutschen liebstes Spielzeug. Das „Wird vermisst!“ war also ironisch gemeint. Schon die frühe Avantgarde wollte ja die Kunst im Alltag aufgehen lassen. Das hier war aber noch etwas anderes – ein Versuch, sie in den Alltag einzuschmuggeln. Deshalb waren die Blätter auch unsigniert. Oder war das Ganze nur ein Scherz? Aber Kunst kann vielleicht auch ungewollt entstehen.