17. Jahrgang | Nummer 5 | 3. März 2014

Die bulgarische Buchela

von Frank-Rainer Schurich

In einem Runderlass des Preußischen Innenministeriums vom 3. April 1929 war das Verbot der Beschäftigung sogenannter Kriminaltelepathen mit dem ausdrücklichen Hinweis ausgesprochen worden, dass bei der polizeilichen Aufklärungsarbeit nur Hilfsmittel benutzt werden dürfen, die sich einer Nachprüfung aufgrund sinnlich wahrnehmbarer Tatsachen und auf dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft fußender Methoden nicht entziehen.
Eric Jan Hanussen, mit bürgerlichem Namen Hermann Steinschneider, war in den 1930er Jahren als Hellseher ein Begriff. Sein Stern erlosch aber genauso schnell, wie er aufgegangen war, als man ihm die Anwendung betrügerischer Mittel nachsagte. Hanussen wurde 1933 von den Nazis ermordet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den westlichen Besatzungszonen eine nicht geringe Anzahl von Hellsehern, die sich in den Dienst der strafaufklärenden Behörden stellte. Noch 1954 erklärte Ernst Seelig in der 8. Auflage des berühmten Gross’schen „Handbuch der Kriminalistik“, dass Telepathen die Gabe besitzen, den Ausdruck eines Menschen genau zu erfassen. Wenn der Untersuchungsführer nicht über diese Eigenschaft verfüge, solle er sich nicht scheuen, einen Telepathen zur Vernehmung oder Durchsuchung hinzuziehen.
Franz Meinert, seit 1951 Leiter des Zentralamtes für Kriminalidentifizierung und Polizeistatistik des Landes Bayern und dann bis 1959 Präsident des Bayerischen Landeskriminalamtes in München, hatte sich in seinen umfangreichen Schriften auch der Vernehmung gewidmet. In den früheren Auflagen seiner „Vernehmungstechnik“ propagierte er noch die Chirologie oder Chiromantie als polizeiliches Hilfsmittel für die Befragung. Diese „Handlesekunst“ sollte aus den Schicksalslinien Erkenntnisse über die Persönlichkeit des Beschuldigten bringen.
In den 1950er Jahren war es dann Gerhard Belgardt alias „Hanussen II“, der Bevölkerung, Presse und Gerichte durch seine okkulten Fähigkeiten in den Bann zog. Am 17. August 1947 war er erstmalig vom Amtsgericht des Seebades Ahlbeck wegen Betruges zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er als Astrologe wertlose Charakterbeschreibungen als wissenschaftliche Horoskope verkauft hatte. Das Landgericht Berlin verdonnerte ihn, weil er aus dem Glauben der Mitmenschen an das Mystische und Okkulte skrupellos Kapital geschlagen hatte, am 8. Juni 1959 zu 15 Monaten Zuchthaus und 5.000 DM Geldstrafe.
Am 20. Januar 1969 wurde mitten in der Nacht die Wache des Fallschirmjäger-Bataillons 261 der Bundeswehr in Lebach überfallen. Vier Wachsoldaten starben, einer wurde schwer verletzt, und die Täter entkamen unerkannt mit Waffen und aus dem Wachbuch herausgerissenen Seiten. Nach dem Motto „Wer für Abrüstung und Verständigung ist, ermordet auch schlafende Bundeswehrsoldaten!“ verfolgte man unter der Leitung des Oberstaatsanwaltes Siegfried Buback mehr als 2.600 Spuren in linker Richtung, fand aber nichts.
Der Wahrsagerin Madame Buchela, die eigentlich Margarethe Goussanthier hieß und die Adenauer angeblich den Wahlsieg 1953 vorausgesagt haben soll, war dann schließlich der entscheidende Tipp zu verdanken. Ein „Dr. Sardo“, der sich bei einer Sitzung außerordentlich nervös benahm, schien der Dame irgendwie verdächtig, so dass sie seine Autonummer notierte. Als dann in den Zeitungen von Erpresserbriefen die Rede war, mit denen Millionäre dieser Republik unter Hinweis auf Lebach („Ihnen wird es genauso ergehen!“) und mit Original-Wachbuchseiten als Anlage um Millionen erleichtert werden sollten und die mit „Dr. Sardo“ unterzeichnet waren, informierte sie die Polizei. Gefasst wurden drei Herren aus guten Häusern – ein Justizsekretär, ein Bankkaufmann, ein Zahntechniker –, aber nur, weil die Telepathin, die auch die „Wahrsagerin von Bonn“ genannt wurde, ausnahmsweise ihren gesunden Menschenverstand eingesetzt hatte.
1966 stellte der Gerichtsmediziner Otto Prokop fest, dass in der Sowjetunion wieder einer neuen Ära der Telepathieforschung entgegengesehen wird. Dabei bezog er sich unter anderem auf Publikationen vom Führer der russischen Telepathen Professor L. L. Wassiljew (so „Suggestion auf Entfernung“, erschienen im Staatlichen Verlag für politische Literatur und „Experimentelle Forschungen der Gedankenübertragung“), der sich eklektisch aus dem okkultistischen „Gedankenplunder” des vorigen Jahrhunderts bedient habe.
Die Tatsache, dass Wassiljews Werke von einem staatlichen Verlag gefördert wurden, lässt das Ende der Sowjetunion vorhersehen. Offenbar hatten deren führende Politiker schon immer auf anderweitige Welterklärungen gesetzt.
Den Beweis dafür lieferte Gerhard Lauter 2012 in seinem Buch „Chefermittler. Der oberste Fahnder der K in der DDR berichtet“. Im Dezember 1987 verschwand der vierjährige Mitja, Sohn von Hauptmann Iwan Rudko, des Kompaniechefs der sowjetischen Panzereinheit vor Ort. Die Rudkos wohnten am südlichen Stadtrand von Bernau in einer Neubausiedlung mit DDR-Bürgern zusammen. Mitja war vom Spielen nicht zurückgekehrt. Die intensive Suche nach dem Kind sowie Fahndungsaufrufe brachten keine Ergebnisse. In der Nacht nach dem Verschwinden setzte enormer Frost ein, sämtliche Tümpel froren zu.
Der „Chefermittler“ Lauter wurde in die sowjetische Botschaft Unter den Linden einbestellt. Nach Auffassung des 1. Botschaftsrates und der anwesenden hohen Militärs befanden sich die DDR-Kriminalisten auf dem Holzweg. Mitja sei von der CIA entführt worden, denn Hauptmann Rudko befehligte modernste Panzer, von denen die NATO noch überhaupt nichts wisse.
Für einen politisch motivierten Erpressungsversuch gab es aber keinerlei Hinweise. So wurde Lauter 14 Tage später wiederum in die sowjetische Botschaft geladen. Der gleiche Botschaftsrat und die gleichen Generäle. Der Ton war schärfer geworden, die Atmosphäre frostig. Auch Mitjas Eltern tauchten in diesem Stück auf, und der „Chefermittler“ hörte, dass sich der Hauptmann an Gorbatschow gewandt hatte. Dieser habe ihm Unterstützung zugesagt – in Form einer Hellseherin! Sein alter Kumpel Todor Shiwkow, der Chef der bulgarischen KP, mobilisierte seine Haus-und-Hof-Wahrsagerin, eine blinde Mathematikprofessorin, die zugleich Oberst der bulgarischen Staatssicherheit gewesen sein soll.
Hauptmann Rudko wurde von der bulgarischen Buchela, die an der türkischen Grenze lebte, sofort mit den Worten empfangen, dass er wohl eine nahestehende Person vermisse. Woher sie das wohl wusste? Dann sah sie in die Kugel, obwohl sie gar nicht sehen konnte, mehr im übertragenen Sinne, und es kam ihr eine optimistische Prophezeiung in den Sinn und über die Lippen: Mitja lebe. Sie sehe ihn an einem großen Tisch sitzen, inmitten einer Familie, gerade zu Abend essend. Das Ganze spiele sich in einem Einfamilienhaus am Rande einer großen Stadt in der Nähe eines Flusses ab.
Der 1. Botschaftsrat ergänzte noch, wohl um den Aussagen der Hellseherin noch mehr Wahrhaftigkeit zu verleihen, dass Todor Shiwkow selbst diese Dame einmal in der Woche besuche. Ein Autoritätsbeweis der allerersten Güte! Die Schlussfolgerung der sowjetischen Seite war folglich, dass die DDR-Kripo alle Einfamilienhäuser rund um Berlin durchsuchen müsse.
Gerhard Lauter meinte, dass das nicht ginge. Woher die vielen Polizisten nehmen? Und außerdem könne die Volkspolizei ohne richterlich begründete Durchsuchungsbeschlüsse keine Privaträume inspizieren. Punkt.
Man winkte ab: „Euch wird schon noch etwas einfallen.“
Im Januar darauf gab es einen Wärmeeinbruch, und das Eis auf den Tümpeln und Teichen schmolz. Der Leichnam des kleinen Mitja kam zum Vorschein. Er war, wie vermutet wurde, ertrunken; die Obduktion ergab keinerlei Spuren einer Gewalteinwirkung auf das Kind, das beim Spielen abrutschte und in das kalte Wasser fiel.
Es war ein Unfall, womit bewiesen wurde, dass Frau Oberst blind in den falschen Kaffeesatz geschaut hatte.