17. Jahrgang | Nummer 2 | 20. Januar 2014

Khobragade versus USA

von Edgar Benkwitz

In der Vorweihnachtszeit, am 12. Dezember, wird in New York auf offener Straße eine junge Frau verhaftet und in Handschellen abgeführt. Sie hatte gerade ihre beiden kleinen Töchter in einer Vorschule abgegeben. Im Gefängnis wird sie in eine Zelle mit Kriminellen gesperrt und entwürdigenden Prozeduren ausgesetzt. Schließlich wird sie gegen eine Kaution von 250.000 Dollar freigelassen, ihr Pass wird einbehalten.
Die so Behandelte ist Devyani Khobragade, eine indische Diplomatin, die in New York ihr Land als stellvertretende Generalkonsulin vertritt. Den Haftbefehl hat der Staatsanwalt von Manhattan angeordnet. Er gibt als Grund falsche Angaben im Visaantrag für die Hausangestellte (eine indische Staatsbürgerin) der Diplomatin an, außerdem erhalte diese ein Gehalt, das unter der gesetzlich festgelegten Mindestlohngrenze des Staates New York liege.
Man reibt sich beim Lesen dieser Vorwürfe verwundert die Augen, zumal Frau Khobragade als Diplomatin vor juristischen und polizeilichen Handlungen ihres Empfangsstaates weitgehend geschützt ist. Das garantiert das Völkerrecht, festgelegt in den Wiener Konventionen zum Diplomaten- und Konsularrecht von 1961 beziehungsweise 1963. Darüber hinaus gilt allgemein, dass bei Verstößen gegen Regeln des Gastlandes (zum Beispiel Verkehrsdelikte) diese im guten Einvernehmen gelöst werden. Im Ernstfall greifen die Gesetze des Entsendestaates. Doch hier wurden im Gegenteil unverhältnismäßige Mittel angewandt.
In Indien rief die Aktion der US-Behörden einen Sturm des Protestes hervor, zumal bekannt wurde, dass am Tag der Verhaftung die Staatssekretärin im Außenministerium zu Arbeitsgesprächen in Washington weilte. Doch über den Vorfall fiel kein Wort. Vor dem Parlament in Neu Delhi betonte der Außenminister, dass seine Diplomatin unschuldig und die US-Aktion unberechtigt sei. Er sicherte zu, die Würde der Diplomatin wiederherzustellen. „Falls ich nicht erfolgreich bin, werde ich vor diesem Haus nicht mehr auftreten“, so Minister Kurshid. Von der US-Regierung wurde die Rücknahme des Haftantrags und eine offizielle Entschuldigung gefordert. Die amerikanischen Behörden hielten sich jedoch bedeckt, erst wurde geschwiegen, dann laviert – eine Rücknahme der Aktion und gar eine Entschuldigung erfolgten nicht.
Nun griff die indische Regierung zu Gegenmaßnahmen. Frau Khobragade wurde zu ihrem Schutz zunächst vom Generalkonsulat in die UN-Vertretung Indiens in New York versetzt, da hier die diplomatische Immunität umfassender als in einer konsularischen Vertretung ist. Das indische Außenministerium legte ferner fest, dass ab sofort die US-Diplomaten in Indien strikt nach den Wiener Konventionen und dem Prinzip der Reziprozität behandelt werden. Damit wurden bisher großzügig gewährte Privilegien entzogen. Das betrifft die Annullierung von Diplomatenausweisen für das konsularische Personal, die Streichung von Flugplatzausweisen, die Steuerprüfung für in Indien erworbene Einkünfte von Angehörigen der Diplomaten sowie die Limitierung der zollfreien Einfuhr für das Botschaftspersonal. Verkehrsdelikte mit CD-Fahrzeugen werden zukünftig polizeilich geahndet, Straßenbarrieren um die US-Botschaft in Neu Delhi entfernt. Weiterhin wurde die US-Botschaft in Neu Delhi aufgefordert, gewerbsmäßige Aktivitäten auf ihrem Gelände zu unterlassen. Darunter fallen die Betreibung eines Restaurants, der Videoclub, die Bowlingbahn, Fitnesszentrum mit Freibad, Sportplätze, Schönheitssalon und ein Supermarkt.
Unterdessen wurden Details zur Vorgeschichte des Falls bekannt. Wie den Mitteilungen der indischen Botschaft in den USA an die zuständigen Stellen seit Juni 2013 zu entnehmen ist, war die besagte indische Hausangestellte, Frau Seema Richards, seit Juni letzten Jahres unter Mitnahme von Geld, Handy und Dokumenten verschwunden. Im Juli tauchte sie in Begleitung einer Anwältin wieder auf, forderte erpresserisch eine hohe Geldsumme sowie die Umwandlung ihres Dienstpasses in einen Reisepass. Indien entzog daraufhin Frau Richards den Pass, so dass diese sich illegal in den USA aufhielt. Auf diese Mitteilungen der Botschaft erfolgte keine Reaktion, eine angebotene Amtshilfe wurde ignoriert. Eine weitere Zuspitzung erfolgte, als zwei Tage vor der Verhaftung von Frau Khobragade der Ehemann der Hausangestellten, bis dahin in Delhi bei der Botschaft eines afrikanischen Staates beschäftigt, mit einem kurzfristig ausgestellten Sondervisum der US-Botschaft und auf deren Kosten zusammen mit zwei Kindern Neu Delhi in Richtung USA verließ.
Wo laufen nun bei den vielen Details die Fäden zusammen? Eine schlüssige Antwort gibt es nicht, zumal der Staatsanwalt ethnisch ein Inder ist. Preet Bharara ist einer der bekanntesten Staatsanwälte der USA, er hat sich bei der Bekämpfung von Terrorismus, organisiertem Verbrechen und Korruption einen Namen gemacht. So brachte er 2012 den US-Spitzenbanker, Rajat Gupta, ethnisch auch ein Inder, hinter Gitter. Also eventuell nur ein  Rachefeldzug zwischen Ausgewanderten und der einheimischen Elite Indiens, denn Frau Khobragade gehört einer Familie von hochangesehenen Dalits (ehemals Kastenlose, Unberührbare) an, ist also zudem ein sozialer Aufsteiger? Oder eine geschickt eingefädelte, nicht legale Einwanderung in die USA, die auf dem Rücken der indischen Diplomatin ausgetragen wird? Oder steckt gar eine geheimdienstliche Tätigkeit hinter der ungewöhnlichen Affäre? Hierauf weist der indische Brigadegeneral i.R. V. Mahalingam hin und erwähnt einen Vorgang von 2004. Ein Offizier des indischen Auslandsgeheimdienstes arbeitete damals offensichtlich für die CIA. Um seiner Enttarnung zu entgehen, setzte er sich über Nepal nach den USA ab. Seine Familie wurde auf ähnliche Weise in die USA gebracht wie jetzt die Familie der Hausangestellten.
Während die Spekulationen ins Kraut schossen, konzentrierte sich die indische Regierung auf die wesentlichen Fragen. Sie warf den USA eine Verletzung des Völker- und Diplomatenrechts vor und forderte eine Zurücknahme der Anschuldigungen. Sie protestierte auch gegen die Art und Weise, wie indische Bürger nach den USA „evakuiert“ werden. Das stelle eine Unterminierung des indischen Rechtssystems dar.
Der 9. Januar wird schließlich zum Schicksalstag für Frau Khobragade. Eine „Grand Jury“ der US-Behörden entscheidet, dass die Anklage aufrechterhalten bleibt. Die indische Regierung wird aufgefordert, die diplomatische Immunität Frau Khobragates – die die USA mittlerweile bestätigen mussten – aufzuheben, damit sie gerichtlich belangt werden kann. Anderenfalls solle sie schleunigst das Land verlassen. Das Ansinnen nach Immunitätsaufhebung wird zurückgewiesen, Frau Khobragade reist in ihre Heimat aus. Im Gegenzug werden die USA aufgefordert, den Diplomaten Wayne May aus Neu Delhi zurückzuziehen. Er ist Chef des diplomatischen Sicherheitsdienstes der Botschaft und war bei der Evakuierung der indischen Familie behilflich. Der schlechte Verlierer in diesem unwürdigem Spiel meldet sich noch einmal: Frau Khobragade wird auf die Liste der Personen gesetzt, die nicht mehr in die USA einreisen dürfen. Für diese eine Tragödie, denn ihr Mann ist amerikanischer Staatsbürger und arbeitet als Professor für Philosophie an der Universität Pennsylvania. Auch die beiden Kinder, vier und sieben Jahre alt, müssen zurückbleiben.
Der Schaden für die intensiven gegenseitigen Beziehungen ist da, ihr Rhythmus gestört. In Verkennung tatsächlicher Kräfteverhältnisse haben die USA wieder ein Stück Vertrauen verspielt, die oft betonte „strategische Partnerschaft“ zeigt sich an einigen Stellen hohl. Das aufstrebende Schwellenland lässt sich von einer Supermacht USA nicht mehr alles bieten. Bleibt festzuhalten, dass das oft in deutschen Medien geschmähte Indien in den Fragen seiner Souveränität und der Menschenwürde Biss zeigt. In Deutschland, das in der NSA-Affäre durch die USA regelrecht vorgeführt und düpiert wurde, handelt man aber offensichtlich weiter nach der Devise: „Unter Freunden tut man so etwas nicht!“