16. Jahrgang | Sonderausgabe | 16. Dezember 2013

Über Lügner, Kannibalen und anderes mehr*
(Auszüge)

von Michel de Montaigne

Die Lügner

[…] Das Lügen ist tatsächlich ein verfluchtes Laster: nur durch das Wort werden wir zum Menschen, nur durch das Wort stehen wir miteinander in Verbindung. Wenn wir uns bewußt würden, was für eine scheußliche und ernste Sache das Lügen ist, würden wir mit Feuer und Schwert dagegen vorgehen, mit mehr Recht als gegen andere Untaten. Ich finde es recht unangebracht, daß man Kinder gewöhnlich wegen harmloser Kleinigkeiten bestraft und ihnen Leicht­fertigkeiten schwer anrechnet, die keine Spuren hinterlassen und keine Folgen haben. Den Hang zum Lügen und, etwas weniger bedenklich, die Dickköpfigkeit, halte ich für die beiden einzigen Anlagen, die man energisch bekämpfen muß, schon wenn sie sich zuerst zeigen und dann, wenn sie überhandnehmen: sie wachsen nämlich ganz von selbst; und wenn man sich erst an den falschen Zungenschlag gewöhnt hat, ist es geradezu wunderbar zu beobachten, wie unmög­lich es ist, davon wieder loszukommen. So kommt es, daß wir bei sonst ganz ehrenwerten Menschen beobachten kön­nen, daß der Hang zum Lügen sie unterjocht und be­herrscht. Ich kenne einen guten Schneidergesellen, der nie­mals ein wahres Wort spricht, selbst dann nicht, wenn die Wahrheit vorteilhaft für ihn wäre.
Wenn die Lüge nur ein Gesicht hätte wie die Wahrheit, da wäre es nicht so schlimm; denn wir könnten das Gegen­teil von dem, was der Lügner sagt, als richtig annehmen; aber die Gegenseite der Wahrheit hat hunderttausend Ge­sichter und einen unendlich weiten Spielraum. Die Pythagoräer nennen das Gute bestimmt und begrenzt, das Böse un­begrenzt und unbestimmt. Vom Ziel weg führen tausend Wege, zum Ziel hin nur einer. Ich bin nicht sicher, ob ich es über mich bringnen könnte, durch eine freche, in feierli­cher Form vorgetragene Lüge eine Gefahr zu parieren, auch wenn es dabei offenbar um Kopf und Kragen geht.
Ein alter Kirchenvater sagt, es sei besser für uns, mit einem Hund zusammenzuleben, den wir kennen, als mit einem Menschen, dessen Sprache wir nicht verstehen. „Ein Fremder ist ja eigentlich für den Menschen kein Mensch.“ Und wieviel mehr wird die menschliche Gemeinschaft durch unwahre Rede als durch Schweigen zerstört. […]

Über die Kannibalen

Ich habe lange mit einem Mann verkehrt, der zehn oder zwölf Jahre in dieser anderen Welt gelebt hat, die in unse­rem Jahrhundert entdeckt worden ist, in Brasilien, an der Küste, wo Villegaignon landete. Er nannte das Land antark­tisches Frankreich. […]
Es war ein einfacher, ungebildeter Mann; gerade dieser Umstand macht sein Zeugnis glaubwürdig. Denn kultivierte Leute sind zwar wißbegieriger und sehen mehr, aber sie wollen alles erklären; und um ihre Deutung wahrscheinlich und für andere einleuchtend zu machen, laufen sie Gefahr, die Tatsachen etwas zu fälschen. […] Für unseren Zweck aber muß der Berichterstatter absolut zuverlässig sein, oder so einfach, daß er nicht in der Lage ist, sich etwas auszudenken und seinen Erfindungen den Anschein der Wahrheit zu ge­ben; er darf sich nicht in seine Vorstellungen verliebt ha­ben. Das traf bei meinem Gewährsmann zu; außerdem hat er mir mehrmals Matrosen und Kaufleute gezeigt, die er auf dieser Reise kennengelernt hatte. So stütze ich mich denn auf diesen Gewährsmann und berücksichtige die Darstellun­gen der Kosmographen nicht. […]
[…] Jeder Sieger bringt als Trophäe den Kopf des Feindes, den er getötet hat, mit und befestigt ihn an der Tür seiner Wohnung. Die Ge­fangenen werden zunächst sehr gut behandelt; dann lädt der Sieger seine Genossen zu einer großen Versammlung. Er fesselt einen Arm des Gefangenen mit einem Strick und hält ihn daran, einige Schritte von sich entfernt, damit die­ser ihm nichts tun kann; seinen besten Freund läßt er den anderen Arm in gleicher Weise festhalten; und dann ste­chen sie ihn vor der ganzen Versammlung tot. Hierauf bra­ten sie ihn, essen alle gemeinsam Stücke von ihm und schicken auch ihren Freunden- etwas, die nicht haben kommen können. Das geschieht nicht, wie man denken könnte, um ihren Hunger zu stillen; sondern diese Handlung ist eine symbolische Darstellung der äußersten Rache. […]
Ich habe durchaus nichts dagegen einzuwenden, daß man in einem solchen Vorgehen eine furchtbare Barbarei sieht; wohl aber dagegen, daß wir zwar ihre Fehler verdammen, aber so blind gegen unsere eigenen Fehler sind. Es ist doch viel barbarischer, einen lebenden Menschen zu martern, als ihn nach dem Tode aufzuessen; einen Körper, der noch al­les fühlt, zu foltern, ihn langsam zu verbrennen, ihn von Hunden und Schweinen totbeißen und totquetschen zu las­sen (wie wir das nicht nur in alten Berichten lesen können, sondern wie wir es eben noch erlebt haben, und zwar nicht alten Feinden gegenüber, sondern unter Nachbarn und Bür­gern derselben Gemeinde, und, was die Sache noch schlim­mer macht, unter dem Vorwand von Glauben und Frömmig­keit), als ihn zu braten und zu verspeisen, nachdem er gestorben ist. […]
Wir können die Wilden also Barbaren nennen, wenn wir ihr Vorgehen von der Vernunft aus beurteilen, aber nicht, wenn wir sie mit uns vergleichen; denn wir sind in vieler Beziehung barbarischer.

Über die Wertlosigkeit des Redens

Ein Rhetor aus dem Altertum definierte seinen Beruf ein­mal so: „Kleine Dinge groß erscheinen zu lassen.“ […]
Die Schönheitskünstler, welche die Frauen herrichten und schminken, richten weniger Schaden an als solche Wortverdreher. Ist doch wenig verloren, wenn man die Frauen nicht so sieht, wie sie wirklich aussehen; während die anderen sich direkt rühmen, daß sie uns täuschen, daß sie nicht bloß unsere Augen, sondern unser Urteil verne­beln und daß sie das Wesen der Dinge verdrehen und ent­stellen. In den Staaten, deren gute Politik und Verwaltung sich lange hat halten können, wurde auf die Redner wenig gegeben. Ariston definiert die Rhetorik treffend als „Wis­senschaft, wie man das Volk überrede“. Sokrates nennt sie in Platos Gorgias „Die Kunst zu täuschen und zu schmeicheln“. …° Sie ist nur ein Mittel zum Zweck. Zum Beispiel kann man damit eine aufgeregte Volksmenge dahin bringen, wohin man will, oder sie aufhetzen. Man braucht sie nur für kranke Staaten, wie man die Medizin nur für kranke Men­schen nötig hat. […]
Die Redekunst hat in Rom zu der Zeit in der höchsten Blüte gestanden, in der die Politik am unsichersten war und in der sie dauernd vom Bürgerkrieg bedroht wurde: wie das Unkraut am meisten auf solchen Feldern wuchert, die brach­liegen und nicht richtig in Kultur gehalten werden. Es scheint deshalb, daß die Staatsformen mit monarchischer Spitze die Redekunst weniger nötig haben als die anderen. Denn ein einzelner kann vor der Wirkung dieses Giftes durch Erziehung und Beratung leichter geschützt werden als eine Volksmenge, die leicht umzustimmen ist. Sie läßt sich, sozusagen an den Ohren, durch die verführerischen Klänge dieser Kunst hierhin und dorthin führen, und es ge­lingt ihr dabei nicht, ruhig abzuwägen und durch vernünfti­ges Nachdenken zu ermitteln, was richtig ist.
Mein Thema paßt auch auf einen Italiener, dem ich vor kurzem begegnet bin; er war beim Kardinal Caraffi bis zu dessen Tode als Haushofmeister beschäftigt gewesen. Ich bat ihn, mir etwas über dieses sein Amt zu berichten. Da hat er mir einen langen Vortrag über diese Maulwissenschaft gehalten, so feierlich und dozierend, so als wenn er ein tie­fes theologisches Problem zu behandeln gehabt hätte. Zum Beispiel hat er mir aufgezählt, was für verschiedene Appe­tite es gibt, etwa vor dem Essen und nach dem zweiten oder dritten Gang; dann, wie man diese verschiedene Art Appetit in Rechnung stellt; einmal soll es nur gut schmecken, ein andermal appetitanregend, und dann wieder appetitreizend sein; dann kam die Politik der Soßen; erstens Soßen im all­gemeinen; zweitens die Zutaten im besonderen, wie sie ein­zeln beschaffen sein müssen und wie sie auf das Ganze der Soße wirken; es folgte das Kapitel über die Salate und ihre Unterarten, eingeteilt nach Jahreszeiten, oder danach, ob sie warm oder kalt serviert werden müssen, schließlich danach, wie sie äußerlich hergerichtet und auch für das Auge lockend gestaltet werden können. Hiernach verbreitete er sich über die äußere Ordnung der Mahlzeiten: Decken, Reihen­folge der Gänge usw., wieder durchsetzt mit schönen und tiefen Sprüchen; und das alles in einer aufgeblasenen, ho­hen und großartigen Sprache und mit Benutzung derselben Ausdrücke, die am Platze sind, wenn man über die Regie­rung eines Reiches spricht. […]

Über die Erfahrung

[…] Meine Erfahrung hat mich dazu gebracht, daß ich dem menschlichen Verstand seine Unzulänglichkeit vorwerfe; diese Erkenntnis ist, meiner Ansicht nach, das sicherste Er­gebnis dessen, was die Welt uns lehrt. Wer sich innerlich zu dieser Schlußfolgerung nicht durchringen kann, weil mein Beispiel oder sein eigenes ihm dazu nicht ausreicht, der mag sie deshalb anerkennen, weil Sokrates, der Meister aller Meister, das Nichtwissen gelehrt hat. […]

Aus – Michel de Montaigne: Les Essais.

* – Überschrift – die Redaktion.