16. Jahrgang | Sonderausgabe | 16. Dezember 2013

Gleichheit des Besitzes*
(Auszüge)

von Thomas Morus

„[…] Wenn ich freilich ganz offen meine Meinung kundgeben soll, mein lieber Morus, so muß ich sagen: ich bin in der Tat der Ansicht, überall, wo es noch Privateigentum gibt, wo alle an alles das Geld als Maßstab anlegen, wird kaum jemals eine gerechte und glückliche Politik möglich sein, es sei denn, man will dort von Gerechtigkeit sprechen, wo gerade das Beste immer den Schlechtesten zufällt, oder von Glück, wo alles unter ganz wenige verteilt wird und wo es auch diesen nicht in jeder Beziehung gut geht, der Rest aber ein elendes Dasein führt.
So erwäge ich denn oft die so klugen und ehrwürdigen Einrichtungen der Utopier, die so wenig Gesetze und trotzdem eine so ausgezeichnete Verfassung haben, daß das Verdienst belohnt wird und trotz gleichmäßiger Verteilung des Besitzes allen alles reichlich zur Verfügung steht. Und dann vergleiche ich im Gegensatz dazu mit ihren Gebräuchen die so vieler anderer Nationen, die nicht aufhören zu ordnen, von denen allen aber auch nicht eine jemals so richtig in Ordnung ist. Bei ihnen bezeichnet jeder, was er erwirbt, als sein Privateigentum; aber ihre so zahlreichen Gesetze, die sie tagtäglich erlassen, reichen nicht aus, jemandem den Erwerb dessen, was er sein Privateigentum nennt, oder seine Erhaltung oder seine Unterscheidung von fremdem Besitz zu sichern, was jene zahllosen Prozesse deutlich beweisen, die ebenso ununterbrochen entstehen, wie sie niemals aufhören. Wenn ich mir das so überlege, werde ich Plato doch besser gerecht und wundere mich weniger darüber, daß er es verschmäht hat, für jene Leute irgendwelche Gesetze zu erlassen, die eine auf Gesetzen beruhende gleichmäßige Verteilung aller Güter unter alle ablehnen. In seiner großen Klugheit erkannte er offensichtlich ohne weiteres, daß es nur einen einzigen Weg zum Wohle des Staates gibt: die Einführung der Gleichheit des Besitzes. Diese ist aber wohl niemals dort möglich, wo die einzelnen ihr Hab und Gut noch als Privateigentum besitzen. Denn, wo jeder auf Grund gewisser Rechtsansprüche an sich bringt, soviel er nur kann, teilen nur einige wenige die gesamte Menge der Güter unter sich, mag sie auch noch so groß sein, und lassen den anderen nur Mangel und Not übrig. Und in der Regel ist es so, daß die einen in höchstem Grade das Los der anderen verdienen; denn die Reichen sind habgierige, betrügerische und nichtsnutzige Menschen, die Armen dagegen bescheidene und schlichte Männer, die durch ihre tägliche Arbeit dem Gemeinwesen mehr als sich selbst nützen. Ich bin daher der festen Überzeugung, das einzige Mittel, auf irgendeine gleichmäßige und gerechte Weise den Besitz zu verteilen und die Sterblichen glücklich zu machen, ist die gänzliche Aufhebung des Privateigentums. Solange es das noch gibt, wird der weitaus größte und beste Teil der Menschheit die beängstigende und unvermeidliche Last der Armut und der Kümmernisse dauernd weiterzutragen haben. Sie kann wohl ein wenig erleichtert werden, das gebe ich zu; aber sie völlig zu beseitigen, das ist, so behaupte ich, unmöglich. Man könnte ja für den Besitz des einzelnen an Grund und Boden ein bestimmtes Höchstmaß festsetzen und ebenso eine bestimmte Grenze für das Barvermögen; man könnte auch durch Gesetze einer zu großen Macht des Fürsten und einer zu großen Anmaßung des Volkes vorbeugen. Ferner könnte man die Erlangung von Ämtern durch allerlei Schliche oder durch Bestechung und die Forderung von Aufwand während der Amtstätigkeit unterbinden. Andernfalls nämlich bietet sich Gelegenheit, sich das verausgabte Geld durch Betrug und Raub wieder zu verschaffen, und man sieht sich gezwungen, reichen Leuten die Ämter zu geben, die man lieber Fähigen hätte geben sollen. Durch solche Gesetze kann man die erwähnten Übelstände wohl mildern und abschwächen, ebenso wie man kranke Körper in hoffnungslosem Zustande durch unablässige warme Umschläge zu stärken pflegt. Aber auf eine vollständige Behebung der Übelstände und auf den Eintritt eines erfreulichen Zustandes darf man ganz und gar nicht hoffen, solange jeder noch Privateigentum besitzt. Ja, während man an der einen Stelle zu heilen sucht, verschlimmert man die Wunde an anderen Stellen. So entsteht abwechselnd aus der Heilung des einen die Krankheit des anderen; denn niemandem kann man etwas zulegen, was man einem anderen nicht erst weggenommen hat.“
„Aber ich bin gerade der entgegengesetzten Meinung“, erwiderte ich, „daß man sich nämlich niemals dort wohl fühlen kann, wo Gütergemeinschaft herrscht. Denn wie könnte die Menge der Güter ausreichen, wenn jeder sich um die Arbeit drückt, weil ihn ja keine Rücksicht auf Erwerb zur Arbeit anspornt und weil ihn die Möglichkeit, sich auf den Fleiß anderer zu verlassen, träge werden läßt? Aber wenn auch die Not die Menschen zur Arbeit anstacheln sollte, würde man da nicht dauernd durch Mord und Aufruhr in Gefahr schweben, falls niemand auf Grund irgendeines Gesetzes das, was er erwirbt, als sein Eigentum schützen könnte? Zumal wenn die Autorität der Behörden und die Achtung vor ihnen geschwunden ist, wie könnte dann für beides Platz sein bei Menschen, zwischen denen keinerlei Unterschied besteht? Das kann ich mir nicht einmal vorstellen.“
„Über diese deine Ansichten wundere ich mich gar nicht“, erwiderte Raphael; „denn von einem solchen Staate hast du entweder gar keine Anschauung oder nur eine falsche. Wärest du jedoch mit mir in Utopien gewesen und hättest du dort mit eigenen Augen die Sitten und Einrichtungen kennengelernt, wie ich es getan habe, der ich über fünf Jahre dort gelebt habe und gar nicht wieder hätte fortgehen mögen, außer um die Kenntnis von dieser neuen Welt zu verbreiten, so würdest du entschieden zugeben, du habest nirgends anderswo ein Volk mit einer guten Verfassung gesehen außer dort.“ […]

Aus – Thomas Morus: Utopia. Erstes Buch.

* – Überschrift – die Redaktion.