16. Jahrgang | Sonderausgabe | 16. Dezember 2013

Der alte Staat und die Revolution
(Auszüge)

von Alexis de Tocqueville

Vorwort

Das Buch, das ich hiermit veröffentliche, ist keineswegs eine Geschichte der Revolution; diese Geschichte ist auf zu glänzende Weise geliefert worden, als daß ich an eine Wiederholung denken könnte; es ist vielmehr eine Studie über diese Revolution.
Die Franzosen haben im Jahre 1789 die größte Anstrengung gemacht, der ein Volk sich jemals unterzogen hat, um ihre Ge­schichte sozusagen in zwei Teile zu spalten und durch eine tiefe Kluft das, was sie bis dahin waren, von dem zu scheiden, was sie fortan sein wollten. Zu diesem Ende ergriffen sie alle möglichen Vorsichtsmaßregeln, um nichts aus der Vergangenheit in ihren neuen Zustand hinüber zu nehmen; sie taten sich allen möglichen Zwang an, um anders auszusehen als ihre Väter; kurz, sie verga­ßen nichts, um sich unkenntlich zu machen.
Ich war stets der Ansicht, daß ihnen dieses sonderbare Unter­nehmen weit weniger gelungen sei, als man im Ausland geglaubt und als sie es anfangs selbst geglaubt haben. Ich war überzeugt, daß sie, ohne es zu wissen, großenteils die Gesinnungen, Ge­wohnheiten, ja sogar die Ideen des alten Staates beibehalten hätten, mit deren Hilfe sie die Revolution, die ihn vernichtete, bewerkstelligten, und daß sie, ohne es zu wollen, sich seiner Trümmer bedient hätten, um das Gebäude der neuen Gesell­schaft aufzuführen, so daß man, um die Revolution und ihr Werk richtig zu verstehen, das gegenwärtige Frankreich einen Augen­blick vergessen und das ehemalige Frankreich in seinem Grabe befragen müsse. Das ist es, was zu tun ich hier versucht habe; es hat mich jedoch mehr Mühe gekostet, als ich annehmen konnte.
Die ersten Jahrhunderte der Monarchie, das Mittelalter, die Renaissance sind Gegenstand der bedeutendsten Werke und sehr gründlicher Forschungen gewesen, die uns nicht nur mit den damaligen Ereignissen, sondern auch mit den Gesetzen, den Gebräuchen, dem Geist der Regierung und der Nation in diesen verschiedenen Epochen bekannt gemacht haben. Bis jetzt hat sich noch niemand die Mühe gegeben, das achtzehnte Jahrhun­dert m dieser Weise und so aus der Nähe zu betrachten. Wir glauben die französische Gesellschaft jener Zeit sehr genau zu kennen, weil wir deutlich sehen, was an ihrer Oberfläche glänzte, weil wir die ausführliche Geschichte der berühmtesten Personen, ie damals gelebt haben, besitzen und weil uns eine geistreiche oder glänzende Kritik mit den Werken der hervorragenden Schriftsteller, die in jener Gesellschaft lebten, völlig vertraut gemacht hat. Verworren und oft falsch sind jedoch unsere Vor­stellungen von der Art, in der damals die Geschäfte geleitet, wie die Staatseinrichtungen gehandhabt wurden, von der wechselsei­tigen Stellung der verschiedenen Klassen, von der Lage und den Gesinnungen derjenigen Volksschichten, die sich noch nicht bemerklich machten, und überhaupt vom eigentlichen Wesen der Meinungen und Sitten.
Ich habe versucht, ins Innere dieses alten Staates einzudringen, der uns, was die Zahl der Jahre anlangt, so nahe ist, den aber die Revolution uns verdeckt.
Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich nicht nur die berühmten Bücher gelesen, die das achtzehnte Jahrhundert hervorgebracht hat, sondern auch viele Werke studiert, die minder bekannt sind und auch weniger verdienen, es zu sein, die aber in ihrer unge­künstelten Form das, was die Zeit bewegte, vielleicht um so deutlicher durchblicken lassen. Ich ließ es mir angelegen sein, alle öffentlichen Urkunden genau kennenzulernen, in denen die Franzosen, als die Revolution herannahte, ihre Meinungen und Wünsche ausgedrückt haben mochten. Die Protokolle der Ver­sammlungen der Stände und später die der Provinzialversammlungen haben mir in dieser Beziehung viel Aufklärung verschafft. Namentlich machte ich häufig Gebrauch von den im Jahre 1789 von den drei Ständen gesammelten Aktenstücken. Diese Ur­kunden, deren Originale eine lange Reihe handschriftlicher Bände bilden, sind gleichsam das Testament der alten französi­schen Gesellschaft, der letzte Ausdruck ihrer Wünsche, die au­thentische Kundgebung ihres letzten Willens. Sie bilden eine Sammlung, die in ihrer Art einzig ist; gleichwohl genügte sie mir noch nicht.
In den Ländern, in denen die Staatsverwaltung bereits macht­voll ist, werden sich nicht leicht Ideen, Wünsche, Nöte, Interes­sen oder Leidenschaften regen, ohne sich früher oder später ihr offen kundzugeben. Durchsucht man ihre Archive, so erlangt man nicht nur eine sehr genaue Kenntnis ihres Verfahrens, es offenbart sich darin zugleich das ganze Land. Ein Fremder, dem man gegenwärtig die gesamte vertrauliche Korrespondenz vorlegte, welche die Schränke des Ministeriums des Innern und der Präfekturen füllt, würde bald mehr von uns wissen als wir selbst. Im achtzehnten Jahrhundert war die Staatsverwaltung, wie man bei der Lektüre dieses Buches sehen wird, bereits sehr zentrali­siert, sehr mächtig und außerordentlich tätig. Man sah sie unab­lässig helfen, verbieten und gestatten. Sie hatte viel zu verspre­chen, viel zu geben. Sie übte bereits auf tausendfache Weise Einfluß nicht nur im allgemeinen auf die Leitung der Geschäfte, sondern auch auf das Schicksal der Familien und auf das Privatle­ben jedes Menschen. Sie war überdies ohne öffentliche Kontrol­le, und daher scheute man sich nicht, ihren Blicken selbst die geheimsten Gebrechen zu enthüllen. Ich habe eine sehr lange Zeit darauf verwendet, alles, was uns von ihr übriggeblieben ist, zu studieren, und zwar nicht nur in Paris, sondern auch in mehreren Provinzen.
Da fand ich denn, wie erwartet, die alte Staatsverwaltung in voller Lebensfrische mit ihren Ideen, ihren Leidenschaften, ihren Vorurteilen und Gewohnheiten. Hier redete jeder Mensch offen seine eigene Sprache und ließ seine geheimsten Gedanken erken­nen. So gelang es mir, über die ehemalige Gesellschaft vielfache Kenntnisse zu sammeln, welche die Zeitgenossen nicht erwerben konnten, denn mir lag offen vor, was ihren Blicken niemals preisgegeben worden ist. Während ich in diesem Studium weiterschritt, staunte ich, im damaligen Frankreich jeden Augenblick Züge wiederzufinden, die sich am heutigen Frankreich bemerklich machen. Ich fand dort eine Menge Anschauungen wieder, die ich für Ergebnisse der Revolution gehalten hatte, eine Menge Ideen, die ich bis dahin ausschließlich als ihre Erzeugnisse betrachtet hatte, tau­send Gewohnheiten, die wir von ihr allein erhalten zu haben glauben; allenthalben fand ich da die Wurzeln der gegenwärtigen Gesellschaft tief eingepflanzt im alten Boden. Je mehr ich mich dem Jahre 1789 näherte, um so deutlicher bemerkte ich den Geist, der die Revolution entstehen, sich entwickeln und wach­sen ließ. Ich sah nach und nach vor meinen Augen das ganze Antlitz dieser Revolution sich enthüllen. Schon gab sie ihr Tem­perament, ihren Geist kund; es war sie selbst! Ich erkannte nicht nur die Ursachen dessen, was sie bei ihrem ersten Anlauf ausfüh­ren, sondern noch deutlicher vielleicht die Ankündigung dessen, was sie weiterhin begründen sollte; denn die Revolution hat zwei streng getrennte Phasen gehabt: die erste, während der die Fran­zosen alles aus der Vergangenheit abschaffen zu wollen scheinen; die zweite, wo sie dieser Vergangenheit einen Teil dessen wieder entnehmen, was sie in ihr zurückgelassen hatten. Es gibt eine große Anzahl Gesetze und politische Gewohnheiten des alten Staates, die so im Jahre 1789 plötzlich verschwinden und die sich einige Jahre nachher wieder zeigen, wie manche Flüsse sich unter der Erde verlieren, um ein wenig später wieder zu erscheinen, indem sie neuen Ufern dasselbe Wasser zeigen.
Der eigentliche Zweck des vorliegenden Werkes ist, begreiflich zu machen, warum diese große Revolution, die sich gleichzeitig beinahe auf dem ganzen Festland Europas vorbereitete, bei uns früher als anderwärts ausbrach, warum sie ganz wie von selbst aus der Gesellschaft hervorging, deren Zerstörung ihr Werk sein sollte, und wie endlich die alte Monarchie so vollständig und so plötzlich zusammenbrechen konnte.
Hierbei darf jedoch das Werk, das ich unternommen habe, meiner Ansicht nach nicht stehenbleiben. Meine Absicht ist, wenn Zeit und Kräfte reichen, durch die Wechselfälle dieser langen Revolution diese selben Franzosen zu begleiten, mit denen ich so vertraut unter der alten Staatsverfassung gelebt habe, nach der sie sich gebildet hatten; zu betrachten, wie sie sich je nach den Ereignissen veränderten und umbildeten, ohne doch ihre Natur zu wechseln, und wie sie unablässig vor uns mit einer etwas veränderten, aber stets erkennbaren Physiognomie wieder erscheinen.
Zunächst werde ich mit ihnen jene erste Epoche von 1789 durchlaufen, wo ihre Herzen für Freiheit und Gleichheit ent­flammt sind, wo sie nicht nur demokratische, sondern auch freie Institutionen begründen, nicht nur Vorrechte zerstören, sondern auch Rechte anerkennen und bestätigen wollen; eine Zeit ju­gendfrischer Begeisterung, edlen Stolzes, hochherziger und ungeheuchelter Gefühle, die trotz ihrer Irrtümer unvergänglich im Gedächtnis der Menschen leben und noch lange alle aus dem Schlafe schrecken wird, die ihre Mitmenschen verderben oder knechten wollen.
Während ich den Lauf dieser Revolution rasch verfolge, werde ich zugleich nachzuweisen versuchen, durch welche Ereignisse, welche Fehler und Mißgriffe diese Franzosen veranlaßt wurden, sich von ihrem ursprünglichen Ziel abzuwenden und, die Frei­heit vergessend, nur noch die gleichgestellten Diener des Herrn der Welt werden wollten; wie eine stärkere und viel unum­schränktere Regierung als die durch die Revolution gestürzte nunmehr alle Gewalt an sich reißt und konzentriert, alle die so teuer erkauften Freiheiten unterdrückt, um nur noch deren Schattenbilder bestehen zu lassen, indem sie Volkssouveränität die Stimmen von Wählern nennt, die sich weder aufklären, noch sich vereinigen, noch frei wählen können, freie Steuerbewilli­gung die Zustimmung stummer oder geknechteter Versammlun­gen; und wie sie, obwohl sie der Nation die Fähigkeit der Selbstregierung, die wichtigsten Garantien des Rechts, die Frei­heit zu denken, zu reden und zu schreiben, d. h. von den Errun­genschaften der Revolution das Kostbarste und Edelste ent­zieht, sich trotzdem mit diesem großen Namen schmückt.
Ich werde bei dem Punkt innehalten, wo mir die Revolution ihr Werk ziemlich vollendet und die neue Gesellschaft gegründet zu haben scheint. Ich werde dann diese Gesellschaft selbst be­trachten; ich werde nachzuweisen suchen, inwiefern sie jener gleicht, die ihr vorausging, inwiefern sie sich von ihr unterschei­det, was wir bei jenem gewaltigen Umsturz aller Dinge verloren, was wir dabei gewonnen haben, und schließlich einen Blick in unsere Zukunft versuchen.
Ein Teil dieses zweiten Werkes ist entworfen, jedoch noch nicht wert, dem Publikum vorgelegt zu werden. Wird mir be­schieden sein, es zu vollenden? Wer kann es sagen? Das Schicksal des einzelnen ist noch dunkler als das der Völker.
Ich glaube, das vorliegende Buch ohne Vorurteil, behaupte aber nicht, es ohne Leidenschaft geschrieben zu haben. Einem Franzosen möchte es kaum erlaubt sein, unempfindlich zu blei­ben, wenn er von seinem Vaterlande spricht und an seine Zeit denkt. Ich gestehe also, daß ich, während ich unsere ehemalige Gesellschaft in allen ihren Teilen studierte, die neue nie gänzlich aus dem Auge verloren habe. Ich wollte nicht allein erkennen, welchem Übel der Kranke erlegen war, sondern auch, wie er sich vom Tode hätte erretten können. Ich machte es wie jene Ärzte, die in jedem abgestorbenen Organ die Gesetze des Lebens zu entdecken suchen. Mein Ziel war, ein Gemälde zu liefern, das streng richtig wäre und zugleich lehrreich sein könnte. Jedesmal daher, wenn ich bei unseren Vätern einer jener männlichen Tu­genden begegnete, die uns sehr nötig sein würden und die wir fast nicht mehr besitzen, z.B. einem echten Unabhängigkeitssinn, der Freude an erhabenen Dingen, dem Glauben an uns selbst und an eine Sache, habe ich sie stark hervorgehoben, auf der anderen Seite, wenn ich in den Gesetzen, in den Ideen, in den Sitten jener Zeit die Spür eines der Laster entdeckte, die, nachdem sie die alte Gesellschaft zugrunde gerichtet, auch uns noch zu schaffen ma­chen, es mir aber auch angelegen sein lassen, sie in helles Licht zu setzen, damit man genau erkenne, welchen Schaden sie uns getan haben, und um so deutlicher inne werden möchte, welches Un­heil sie uns noch bereiten können.
Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich, offen gestanden, nie Anstand genommen, irgendwen, einzelne Personen oder Klas­sen, Ansichten oder Erinnerungen, wie ehrwürdig sie auch sein mochten, zu kränken. Ich tat es oft mit Bedauern, aber stets ohne Reue. Mögen diejenigen, denen ich damit vielleicht mißfallen habe, mir mit Rücksicht auf das uneigennützige und gute Ziel verzeihen, das ich im Auge hatte.
Manche werden mich vielleicht beschuldigen, in diesem Buch eine sehr unzeitige Vorliebe für die Freiheit zu zeigen, die, wie man mir versichert, jetzt kaum irgend jemand in Frankreich am Herzen liegt.
Ich will diejenigen, die mir einen solchen Vorwurf machen sollten, nur bitten, in Erwägung zu ziehen, daß diese Neigung bei mir sehr alt ist. Vor mehr als zwanzig Jahren, als ich von einer anderen Gesellschaft redete, schrieb ich beinahe wörtlich fol­gendes:
Mitten durch das Dunkel der Zukunft vermag man bereits drei Wahrheiten sehr deutlich zu erkennen. Die erste ist, daß alle Menschen unserer Tage durch eine unbekannte Kraft fortgeris­sen werden, die man zu regeln und zu mäßigen, aber nicht zu besiegen hoffen kann und die sie bald langsam, bald mit heftigem Ungestüm zur Vernichtung der Aristokratie antreibt; die zweite, daß von allen Völkern der Welt diejenigen am schwersten dem Schicksal entgehen werden, lange Zeit das Joch einer absoluten Regierung zu tragen, bei denen die Aristokratie nicht mehr be­steht und nicht mehr bestehen kann; die dritte endlich, daß nirgends der Despotismus verderblichere Wirkungen hervor­bringen muß, als bei eben diesen Völkern; denn hier begünstigt er mehr als jede andere Regierungsform die Laster, denen diese Völker besonders unterworfen sind, und drängt sie so gerade nach der Seite hin, nach der sie sich, einem natürlichen Hange folgend, bereits neigten.
Die Menschen sind hier nicht mehr durch Kasten, Klassen, Korporationen und Geschlechter miteinander verbunden und sind daher nur zu sehr geneigt, sich bloß mit ihren besonderen Interessen zu beschäftigen, immer nur an sich selbst zu denken und sich in einen Individualismus zurückzuziehen, in dem jede öffentliche Tugend erstickt wird. Der Despotismus, weit ent­fernt, gegen diese Neigung zu kämpfen, macht sie vielmehr unwi­derstehlich, denn er entzieht den Bürgern jede gemeinsame Be­geisterung, jedes gemeinschaftliche Bedürfnis, jede Notwendig­keit, sich miteinander zu verständigen, jede Gelegenheit zu ge­meinschaftlichem Handeln; er mauert sie sozusagen im Privatle­ben ein. Sie waren bereits zur Absonderung geneigt: er isoliert sie; sie erkalteten füreinander: er läßt sie vollends erstarren.
Da in einer derartigen Gesellschaft nichts feststeht, fühlt sich jeder, teils durch die Furcht herunterzukommen, teils durch den Drang, sich emporzubringen, in beständiger Aufregung; und weil das Geld, während es zugleich das Hauptmerkmal gewor­den ist, das die Menschen klassifiziert und ihren Rangunter­schied bedingt, hier eine außerordentliche Beweglichkeit erlangt hat, indem es unaufhörlich aus einer Hand in die andere geht, die Lage der Individuen verändert, die Familien erhebt oder ernied­rigt, so gibt es hier fast niemand, der nicht genötigt wäre, ver­zweifelte und fortwährende Anstrengungen zu machen, um es sich zu sichern oder zu erwerben. Die Begierde, um jeden Preis reich zu werden, die Neigung, Geschäfte zu machen, die Ge­winnsucht, das Streben nach Wohlleben und sinnlichen Genüs­sen sind daher hier die üblichsten Leidenschaften. Sie verbreiten sich leicht unter allen Klassen, verschaffen sich selbst bei denen Eingang, die ihnen bis dahin fast ganz fern standen, und könnten bald die ganze Nation schwächen und degradieren, wenn ihnen durch nichts Einhalt getan würde. Es gehört aber gerade zum Wesen des Despotismus, sie zu begünstigen und auszubreiten. Diese schwächenden Leidenschaften kommen ihm zu Hilfe; sie lenken die Einbildungskraft der Menschen von den öffentlichen Angelegenheiten ab, beschäftigen sie fern von denselben und lassen sie bei dem bloßen Gedanken an Revolutionen erzittern. Nur der Despotismus kann ihnen die Verschwiegenheit und den Schatten verschaffen, unter deren Schutz die Habgier sich wohlfühlt und die es ihr gestatten, der Schande zu trotzen und unred­lichen Gewinn zu häufen. Ohne ihn wären diese Leidenschaften stark gewesen; mit ihm sind sie beherrschend.
Die Freiheit allein kann dagegen in derartigen Gesellschaften die ihnen eigenen Laster erfolgreich bekämpfen und sie auf dem Abhänge, den sie hinabgleiten, zurückhalten. Nur sie vermag die Bürger aus der Vereinzelung, in der gerade die Unabhängigkeit ihrer Lage sie leben läßt, herauszuziehen, um sie zu nötigen, sich einander zu nähern; sie, die Freiheit, erwärmt und vereinigt sie jeden Tag aufs neue durch die Notwendigkeit, sich in der Be­handlung gemeinsamer Angelegenheiten miteinander zu bespre­chen, einander zu überzeugen und sich wechselseitig gefällig zu sein. Sie allein ist fähig, die Bürger dem Kult des Geldes und den täglichen kleinlichen Plagen ihrer Privatangelegenheiten zu ent­reißen, um sie jeden Augenblick das Vaterland über und neben ihnen wahrnehmen und fühlen zu lassen; sie allein läßt von Zeit zu Zeit die Lust am behaglichen Leben durch tüchtigere und erhabenere Leidenschaften verdrängen, bietet dem Ehrgeiz edle­re Gegenstände als die Erwerbung von Reichtümern und erzeugt das Licht, das es gestattet, die Laster und Tugenden der Menschen zu erkennen und zu beurteilen.
Demokratische Gesellschaften, die nicht frei sind, können reich, raffiniert, gebildet, ja sogar glänzend und durch das Ge­wicht ihrer großen Masse mächtig sein; man kann dort Privattu­genden begegnen, guten Familienvätern, ehrlichen Kaufleuten und sehr achtbaren Grundbesitzern; man wird dort sogar gute Christen finden, denn deren Vaterland ist nicht von dieser Welt, und der Ruhm ihrer Religion besteht darin, sie inmitten der größten Sittenverderbnis und unter den schlechtesten Regierun­gen hervorzubringen. Das römische Reich war zur Zeit seines äußersten Verfalls voll von ihnen; was man aber in derartigen Gesellschaften niemals sehen wird, das sind, ich wage es zu sagen, große Bürger und namentlich ein großes Volk, und ich nehme keinen Anstand zu behaupten, daß das Durchschnittsni­veau der Herzen und Geister unablässig sinken wird, solange Gleichheit und Despotismus sich miteinander verbinden.
So dachte und so sprach ich vor zwanzig Jahren. Ich gestehe, daß seitdem in der Welt nichts geschehen ist, was mich hätte veranlassen können, anders zu denken und zu sprechen. Da ich die gute Meinung, die ich von der Freiheit hatte, zu einer Zeit kundgegeben habe, wo sie in Gunst war, wird man es mir nicht verübeln, daß ich dabei beharre, wenn man sie aufgibt.
Übrigens möge man erwägen, daß ich mich auch hierin von meinen Gegnern weniger unterscheide, als sie vielleicht selbst glauben. Wer ist der Mann, der von Natur so niedrig gesinnt wäre daß er lieber von den Launen eines seiner Mitmenschen abhängig sein, als den Gesetzen gehorchen möchte, bei deren Einführung er selbst mitgewirkt hat, wenn seine Nation ihm die erforderlichen Tugenden zu haben scheint, einen guten Ge­brauch von der Freiheit zu machen? Ich glaube, den Mann gibt es nicht, Selbst die Despoten leugnen nicht, daß die Freiheit etwas Vortreffliches sei; nur, sie wollen sie für sich allein und behaup­ten, alle anderen seien ihrer durchaus unwürdig. Man ist also nicht uneinig über die Meinung, die man von der Freiheit haben soll, sondern nur über die mehr oder minder große Achtung, die man den Menschen zu zollen hat; und daher kann man mit vollem Recht sagen, daß die Vorliebe, die man für die unum­schränkte Regierung bekundet, im genauen Verhältnis zu der Mißachtung steht, die man gegen sein Vaterland zu erkennen gibt. Ich bitte, daß man mir noch ein wenig zu warten erlaube, bis ich mich zu solcher Gesinnung bekehre.
Ich glaube ohne Selbstüberhebung sagen zu dürfen, daß das vorliegende Werk die Frucht eines sehr großen Fleißes ist. Es enthält manches ziemlich kurze Kapitel, das mehrjährige For­schungen erfordert hat. Ich hätte meine Seiten mit Fußnoten überladen können; ich zog es vor, sie nur in geringer Anzahl aufzunehmen und sie an das Ende des Bandes zu stellen, wo ich dann auf die Seiten des Textes verweise, auf die sie sich bezie­hen. Dort wird man Beispiele und Belege finden. Ich würde noch viele andere liefern können, wenn dieses Buch irgend je­mand der Mühe wert scheinen sollte, sie zu verlangen.

Erstes Buch
Erstes Kapitel
Widersprechende Urteile über die Revolution bei ihrem Ausbruch

[…]
In der Nähe beurteilt man das Ereignis nicht richtiger als aus der Ferne. In Frankreich hat man am Vorabend des Tages, an dem die Revolution ausbrechen sollte, noch keine bestimmte Vorstellung von dem, was sie bewerkstelligen wird. Unter den zahlreichen Urkunden finde ich nur zwei, in denen sich eine gewisse Besorgnis des Volkes kundgibt. Man fürchtet das große Übergewicht, das die königliche Macht, der Hof, wie man sie noch nennt, behalten soll. Man ist beunruhigt durch die Schwachheit und die kurze Dauer der Reichsstände. Man fürch­tet, ihnen werde Gewalt angetan werden. Namentlich dem Adel macht diese Furcht zu schaffen. „Die Schweizertruppen“, sagen mehrere dieser Urkunden, „sollen schwören, niemals gegen die Bürger von den Waffen Gebrauch zu machen, selbst nicht im Falle des Aufruhrs oder der Empörung.“ Sind die Reichsstände frei, so werden alle Mißbräuche leicht beseitigt werden; die bevorstehende Reform ist ungeheuer, aber sie bietet keine Schwierigkeit.
Indessen geht die Revolution ihren Gang. Als man das Haupt des Ungeheuers erscheinen sieht und seine seltsame und schreck­liche Physiognomie sich enthüllt; als es nach Zerstörung der politischen auch die bürgerlichen Institutionen abschafft, nach den Gesetzen auch die Sitten, die Gebräuche und selbst die Sprache umgestaltet; als es nach der Zertrümmerung der Staats­maschinerie auch die Grundlagen der Gesellschaft erschüttert und endlich Gott selbst angreifen zu wollen scheint; als eben diese Revolution sich bald darauf auch mit bis dahin unbekann­tem Verfahren nach dem Auslande wendet, mit einer neuen Taktik, mit mörderischen Maximen, mit bewaffneten Ansichten, wie Pitt sagte, mit einer unerhörten Macht, welche die Tore der Königreiche durchbricht, die Kronen zerschlägt, die Völker nie­derwirft und sie – seltsam genug! – zugleich für ihre Sache gewinnt; als all das geschieht, verändert sich nach und nach die Anschauungsweise völlig. Was anfangs den Fürsten und Staats­männern Europas als ein gewöhnliches Ereignis im Leben der Völker erschienen war, dünkt sie nun etwas so Neues, allem bis dahin in der Welt Geschehenen so Entgegengesetztes und gleich­wohl so Allgemeines, so Ungeheures, so Unbegreifliches, daß bei seinem Anblick der menschliche Geist sich keinen Rat weiß. Die einen glauben, diese unbekannte Macht, der nichts Nahrung zu geben, nichts Kraft zu entziehen scheint, die niemand zu hem­men vermöchte, die sich selbst nicht hemmen kann, werde die menschlichen Gesellschaften bis zu ihrer völligen und gänzlichen Auflösung drängen. Manche betrachten sie als den sichtbaren Einfluß des höllischen Geistes auf die Erde. „Die Französische Revolution hat einen satanischen Charakter“, sagt De Maistre bereits 1797. Dagegen entdecken andere in ihr einen wohltätigen Plan Gottes, der nicht nur Frankreich, sondern der ganzen Welt eine neue Gestalt geben und gewissermaßen eine neue Mensch­heit erschaffen wolle. Bei mehreren Schriftstellern jener Zeit findet man beinahe den religiösen Schauder wieder, den Salvian beim Anblick der Barbaren fühlte. Burke ruft aus, indem er seinen Gedanken wieder aufnimmt: „Seiner alten Regierung oder vielmehr jeder Regierung beraubt, schien Frankreich weit eher ein Gegenstand des Spottes und Mitleids als die Geißel und der Schrecken des Menschengeschlechts werden zu sollen. Aber dem Grabe dieser ermordeten Monarchie ist ein Wesen entstie­gen, formlos, ungeheuer und schrecklicher als irgendeines unter allen, die jemals die Einbildungskraft der Menschen gefesselt und unterjocht haben. Dieses häßliche und seltsame Wesen schreitet geradenwegs auf sein Ziel los, ohne Scheu vor Gefahr und unge­hemmt durch Gewissensbisse; alle überkommenen Grundsätze und alle gewohnten Mittel verachtend, zermalmt es diejenigen, die sein Dasein nicht einmal begreifen können.“
Ist das Ereignis in der Tat so außerordentlich, wie es einst den Zeitgenossen erschien? So unerhört, so gründlich zerstörend und erneuernd, wie sie glaubten? Was war die eigentliche Bedeutung, der wahre Charakter, was sind die dauernden Wirkungen dieser seltsamen und schrecklichen Revolution? Was hat sie wirklich vernichtet? Was hat sie geschaffen?
[…]

Zweites Kapitel
Hauptziel und Endzweck der Revolution war nicht, wie man geglaubt hat, die Vernichtung der religiösen und die Schwächung der politischen Macht.

[…]
Als man die Revolution plötzlich alle Einrichtungen und Gebräuche umstürzen sah, die bis dahin eine Hierarchie in der Gesellschaft aufrecht und die Menschen in gesetzlichen Schranken gehalten hatten, konnte man glauben, ihr Ergebnis werde die Zerstörung nicht bloß einer besonderen gesellschaftlichen Ordnung, sondern jeder Ordnung, nicht bloß dieser Regierung, sondern der staatlichen Macht überhaupt sein; und man konnte annehmen, daß ihre Natur wesentlich anarchisch sei. Und gleich-wohl wage ich zu behaupten, daß auch dies ein bloßer Schein war.
Weniger als ein Jahr nach dem Beginn der Revolution schrieb Mirabeau insgeheim dem König: „Vergleichen Sie den neuen Stand der Dinge mit dem alten Staat; daraus erwächst Trost und Hoffnung. Ein Teil der Beschlüsse der Nationalversammlung, und zwar der größere, ist offenbar der monarchischen Regierung günstig. Ist es denn nichts, ohne Parlament, ohne Provinzialstände, ohne geistliche, privilegierte und adlige Körperschaften zu sein? Der Gedanke, nur eine einzige Bürgerklasse zu bilden, würde Richelieu gefallen haben: diese gleiche Oberfläche er¬leichtert die Ausübung der Macht. Eine Reihe unumschränkt regierender Herrscher würde nicht so viel für die königliche Autorität getan haben wie dieses einzige Revolutionsjahr.“ Das hieß die Revolution als ein Mann begreifen, der fähig war, sie zu leiten.
Da die Französische Revolution nicht allein den Zweck hatte, eine alte Regierung zu. beseitigen, sondern auch die alte Form der Gesellschaft abzuschaffen, so mußte sie gleichzeitig alle bestehenden Gewalten angreifen, alle anerkannten Einflüsse vernichten, die Traditionen in Vergessenheit bringen, die Sitten und Gebräuche erneuern und den menschlichen Geist gewisserma¬ßen aller Ideen entledigen, auf denen bis dahin Respekt und Gehorsam beruht hatten. Daher ihr so besonders anarchischer Charakter.
Aber man räume diese Trümmer weg: man gewahrt dann eine ungeheure Zentralgewalt, die in ihrer Einheit alle Bestandteile von Autorität und Einfluß an sich gezogen und verschlungen hat, die vorher unter einer Menge von untergeordneten Gewalten, Orden, Klassen, Professionen, Familien und Individuen zersplittert und gleichsam im ganzen Gesellschaftskörper verstreut waren. Eine gleiche Macht hatte man seit dem Sturz des römischen Kaisertums nicht in der Welt gesehen. Die Revolution hat diese neue Macht geschaffen, oder vielmehr diese ist wie von selbst aus den Trümmern hervorgegangen, die das Werk der Revolution waren. Die Regierungen, die sie gegründet hat, sind allerdings zerbrechlicher, aber hundertmal mächtiger als irgendeine der von ihr gestürzten; zerbrechlich und mächtig aus denselben Gründen, wie ich an anderer Stelle erklären werde.
[…]

Zweites Buch
Sechstes Kapitel
Die Verwaltungspraxis im alten Staat

[…]
Das charakterisiert den alten Staat vollkommen: eine strenge Regel, eine milde Praxis; so ist sein Charakter.
Wer die Regierung jener Zeit nach der Sammlung ihrer Gesetze beurteilen wollte, würde in die lächerlichsten Irrtümer geraten. Ich finde eine königliche Verordnung vom Jahre 1757, die alle zum Tode verurteilt, die der Religion oder der bestehenden Ordnung zuwiderlaufende Schriften verfassen oder drucken. Der Buchhändler, der sie verkauft, und der Hausierer, der sie vertreibt, sollen die gleiche Strafe erleiden. Sind wir ins Jahrhun­dert des heiligen Dominicus zurückgekehrt? Nein, es ist dieselbe Zeit, in der Voltaire glänzte.
Man klagt oft, daß die Franzosen das Gesetz mißachten; ach, wann hätten sie lernen können, es zu achten? Man kann sagen, daß bei den Menschen des alten Staates die Stelle, die im mensch­lichen Geist der Begriff des Gesetzes einnehmen soll, leer war. Jeder Bittsteller verlangt, daß man zu seinen Gunsten von der bestehenden Regel abweiche, und zwar verlangt er es so dringend und entschieden, als verlangte er vielmehr, daß man zur Regel zurückkehre, und man hält ihm diese auch in der Tat nur entge­gen, wenn man Lust hat, ihn abzuweisen. Die Unterwürfigkeit des Volkes gegenüber der Obrigkeit ist noch vollkommen; aber sein Gehorsam beruht mehr auf Gewohnheit als auf bewußtem Willen; denn wird es etwa einmal unruhig, so läßt es sich durch die geringste Aufregung auch gleich zur Gewalttätigkeit verlei­ten, und fast stets sind es auch Gewalttätigkeit und Willkür, nicht das Gesetz, die es wieder zur Ruhe bringen.
Im 18. Jahrhundert hat die Zentralgewalt in Frankreich noch nicht die gesunde und kräftige Konstitution erlangt, die wir in der Folge an ihr gesehen haben; da es ihr jedoch bereits gelungen ist, alle vermittelnden Gewalten zu vernichten, und da zwischen ihr und den einzelnen Menschen nichts mehr als ein ungeheurer und leerer Raum vorhanden ist, so erscheint sie jedem schon von weitem als die einzige Triebfeder der sozialen Maschine, als einziges und notwendiges Agens des öffentlichen Lebens.
Nichts zeigt das deutlicher als die Schriften ihrer Feinde. Als das lange Unbehagen, das der Revolution vorausgeht, sich fühl­bar zu machen beginnt, sieht man auf allen Seiten neue Gesell­schafts- und Regierungssysteme auftauchen. Die Ziele, die sich diese Reformatoren stecken, sind verschieden, aber ihr Mittel ist stets das gleiche. Sie wollen die Hand der Zentralgewalt gebrau­chen, um mit ihrer Hilfe alles zu zerbrechen und alles wiederher­zustellen (nach einem neuen Plan, den sie selbst entworfen ha­ben); sie allein scheint ihnen imstande, eine solche Aufgabe zu lösen. Die Macht des Staates, sagen sie, muß schrankenlos sein wie sein Recht; es handelt sich nur darum, ihn zu bewegen, einen vernünftigen Gebrauch davon zu machen. Mirabeau der Vater, dieser Edelmann, der von den Rechten des Adels einen so über­spannten Begriff hat, daß er die Intendanten geradezu Eindring­linge nennt, und erklärt, daß, wenn man die Wahl der Magistrate der Regierung allein überließe, die Gerichtshöfe bald nur noch Banden von Kommissaren sein würden, selbst Mirabeau vertraut für die Verwirklichung seiner Phantasien nur auf die Macht der Zentralgewalt.
Diese Ideen bleiben keineswegs in den Büchern; sie erobern alle Köpfe, üben Einfluß auf die Sitten, verbinden sich mit den Gewohnheiten und durchdringen von allen Seiten das tägliche Leben.
Niemand glaubt, eine wichtige Angelegenheit zu einem guten Ende führen zu können, wenn der Staat sich nicht hineinmischt. Selbst die Landleute, die sich in der Regel gern gegen Vorschrif­ten auflehnen, sind zu glauben geneigt, daß die Regierung haupt­sächlich schuld sei, wenn die Landwirtschaft sich nicht vervoll­kommne, denn sie erteile ihnen weder Ratschläge noch Un­terstützung genug. Einer von ihnen schreibt gereizt an einen Intendanten, in einem Ton, der schon an die Revolution gemahnt: „Warum ernennt die Regierung nicht Inspektoren, deren Aufgabe es wäre, alljährlich einmal in die Provinzen zu gehen, um den Zustand der Kulturen kennenzulernen, die Landleute in dem besten Verfahren zu unterrichten, ihnen zu sagen, was man für die Viehzucht zu tun habe, wie man das Vieh züchten, mästen, verkaufen und wohin man es zu Markte bringen müsse? Diese Inspektoren müßte man gut besolden. Der Landwirt, der die besten Feldfrüchte lieferte, müßte Ehrenzeichen emp­fangen.“
Inspektoren und Orden! Das ist denn doch ein Mittel, auf das ein Pächter der-Grafschaft Suffolk niemals verfallen wäre!
In den Augen der meisten Leute ist nur noch die Regierung imstande, die öffentliche Ordnung zu sichern; das Volk fürchtet nur die Marechaussee; -die Grundeigentümer haben nur zu ihr Vertrauen. Für die einen wie für die anderen ist der Reiter der Marechaussee nicht nur der erste Beschützer der Ordnung, son­dern die Ordnung selbst. „Niemand“, sagt die Provinzialversammlung von Guyenne, „kann es entgangen sein, wie sehr der Anblick eines Reiters der Marechaussee geeignet ist, auch die zügellosesten Menschen in Schranken zu halten.“ Daher will auch jedermann eine Abteilung dieser Reiter vor seiner Tür haben. Das Archiv einer Intendantschaft enthält derartige Gesu­che in Menge; niemand scheint zu ahnen, daß unter dem Beschützer sich leicht der Gebieter verbergen könne.
Nichts fällt den Emigrierten bei ihrer Ankunft in England mehr auf als das Fehlen dieser Miliz. Das erfüllt sie mit Verwun­derung, bisweilen aber auch mit Verachtung gegen die Englän­der. Einer von ihnen, ein Mann von Verdienst, den aber seine Erziehung nicht auf das, was er hier sehen sollte, vorbereitet hatte, schreibt: „Es ist wirklich wahr, daß mancher Engländer sich glücklich schätzt, bestohlen worden zu sein, wenn er sich sagt, daß sein Land doch wenigstens keine Marechaussee habe. Manche, die alles hassen, was die Ruhe stört, trösten sich, wenn sie Unruhestifter in den Schoß der Gesellschaft zurückkehren sehen, mit dem Gedanken, daß der Buchstabe des Gesetzes doch alle Rücksichten überwiegt. Diese falschen Ansichten“, fügt er hinzu, „haben nicht durchweg alle Köpfe eingenommen; es gibt vernünftige Leute, die ganz anders denken, und am Ende muß die Vernunft die Oberhand behalten.“
Daß diese seltsamen Ansichten der Engländer in einem Zusam­menhang mit ihren Freiheiten stehen könnten, fällt dem Manne nicht ein. Er zieht es vor, die Erscheinung durch wissenschaftliche Ursachen zu erklären. „In einem Lande“, sagt er, „in dem die Feuchtigkeit und der Mangel an Spannkraft in der umgeben­den Luft dem Temperament eine düstere Färbung verleiht, ist das Volk geneigt, sich vorzugsweise mit ernsten Gegenständen zu befassen. Das englische Volk ist daher von Natur aus geneigt, sich mit Regierungsangelegenheiten zu beschäftigen; das franzö­sische Volk hält sich von ihnen fern.“
Wenn die Regierung so die Stelle der Vorsehung eingenommen hat, ist es natürlich, daß ein jeder sie in seinen Privatnöten anruft. Man findet dann auch eine Anzahl Gesuche, die sich zwar stets auf das öffentliche Interesse stützen, die jedoch nur kleine Privatinteressen betreffen. Die Schränke, in denen sie liegen, sind vielleicht die einzigen Orte, wo alle Klassen, aus denen sich die Gesellschaft des alten Staates zusammensetzte, sich gemischt haben. Sie bieten eine melancholische Lektüre: Bauern verlangen Entschädigung für den Verlust ihres Viehs oder ihres Hauses; wohlhabende Grundeigentümer bitten um Unterstützung, um ihre Ländereien vorteilhafter zu verwerten. Industrielle gehen den Intendanten um Privilegien an, die sie gegen lästige Konkur­renz schützen sollen. Häufig finden sich Fabrikanten, die dem Intendanten den schlechten Zustand ihrer Geschäfte anvertrauen und ihn bitten, beim Generalkontrolleur eine Unterstützung oder ein Darlehen zu erwirken. Man hielt, wie es scheint, eine gewisse Summe für solche Zwecke bereit.
Sogar die Adligen sind manchmal große Bittsteller; ihr Stand macht sich dabei fast nur dadurch kenntlich, daß sie in sehr stolzem Ton betteln. Die Steuer des Zwanzigsten ist für viele von ihnen das Hauptglied der Kette ihrer Abhängigkeit. Da ihr An­teil an dieser Steuer alljährlich vom königlichen Rat nach dem Bericht des Intendanten festgesetzt wird, so wenden sie sich gewöhnlich an diesen, um Fristen oder Ermäßigungen zu erzie­len. Ich habe eine Menge Gesuche dieser Art gelesen, die von Edelleuten, großenteils Herren der hohen Aristokratie, stamm­ten, die sich auf die Unzulänglichkeit ihrer Einkünfte oder den zerrütteten Zustand ihres Vermögens beriefen. Im allgemeinen nannten die Edelleute den Intendanten nur Herr; doch habe ich bemerkt, daß sie ihn in den hier erwähnten Fällen wie Bürgerliche stets gnädiger Herr nennen.
Bisweilen mischen sich Not und Stolz in diesen Bittschriften auf eine spaßhafte Weise.
Ein Edelmann schreibt dem Intendanten: „Ihr zartfühlendes Herz wird nimmermehr zugeben, daß ein Vater meines Standes bezüglich der Steueransätze so streng behandelt werde wie ein Vater aus dem Volke.“
In Zeiten der Hungersnot, die im 18. Jahrhundert so häufig waren, wendet sich die gesamte Bevölkerung jeder Provinz an den Intendanten und scheint von ihm allein ihre Nahrung zu erwarten. Es legt in der Tat bereits jedermann all sein Elend der Regierung zur Last. Selbst das unvermeidlichste Unglück ist ihr Werk; man geht so weit, ihr das ungewöhnlich schlechte Wetter zum Vorwurf zu machen.
Wundern wir uns nicht mehr, wenn wir sehen, mit welcher außerordentlichen Leichtigkeit im Anfang dieses Jahrhunderts die Zentralisation wiederhergestellt worden ist. Die Männer von 1789 hatten das Gebäude gestürzt; aber seine Grundlage war noch in der Seele seiner Zerstörer übriggeblieben, und auf dieser Grundlage hat man es plötzlich neu aufzuführen und fester zu bauen vermocht, als es jemals gewesen war.
[…]

Zehntes Kapitel
Die Zerstörung der politischen Freiheit und die Klassenunter­schiede haben fast alle Krankheiten verursacht, denen der alte Staat erlegen ist.

[…]
Hätten die Engländer seit dem Mittelalter die politische Frei­heit und alle lokalen Freiheiten, die ohne sie nicht lange bestehen können, verloren wie wir, so würden höchstwahrscheinlich die verschiedenen Klassen, aus denen ihre Aristokratie besteht, sich ebenso, wie es in Frankreich und mehr oder weniger auf dem ganzen Kontinent der Fall war, voneinander abgesondert und alle zusammen würden sich vom Volke getrennt haben. Die Freiheit zwang sie jedoch, einander stets nahe genug zu bleiben, um sich nötigenfalls miteinander verständigen zu können.
Es ist interessant, zu sehen, wie der englische Adel, gerade von seinem Ehrgeiz getrieben, es verstanden hat, sobald es ihm not­wendig schien, sich vertraulich mit den unteren Schichten abzu­geben und sich zu stellen, als betrachtete er sie als seinesgleichen. Der schon erwähnte Arthur Young, dessen Buch eines der lehrreichsten Werke über das alte Frankreich ist, erzählt, daß er einst, als er sich auf dem Lande bei dem Herzog von Liancourt befand, den Wunsch zu erkennen gab, einige der geschicktesten und reichsten Landwirte der Umgegend zu befragen. Der Herzog beauftragte seinen Intendanten, sie ihm herzubringen. Darüber bemerkt der Engländer: „Bei einem englischen Lord hätte man drei bis vier Landwirte [Farmers] kommen lassen, die mit der Familie und unter Damen von höchstem Rang gespeist hätten. Ich habe das wenigstens hundertmal auf unseren Inseln gesehen. In Frankreich würde man etwas Derartiges von Calais bis Bayonne vergebens suchen.“
Die englische Aristokratie war sicherlich von Natur stolzer als die französische und weniger geneigt, mit allem, was unter ihr lebte, vertraulichen Umgang zu pflegen; aber die Bedürfnisse ihrer Stellung nötigten sie dazu. Sie war zu allem bereit, um herrschen zu können. Seit Jahrhunderten sieht man bei den Engländern keine anderen Ungleichheiten der Besteuerung mehr als diejenigen, die nach und nach zugunsten der bedürftigen Klassen eingeführt wurden. Man betrachte nur, wohin verschie­dene politische Grundsätze Völker führen können, die einander so nahestehen! Im 18. Jahrhundert genießt in England der Arme Steuerfreiheit, in Frankreich der Reiche. Dort hat die Aristokratie die schwersten öffentlichen Lasten auf sich genom­men, damit man ihr die Regierung überlasse; hier hat sie bis zuletzt die Steuerfreiheit behauptet, um sich über den Verlust der Regierung zu trösten.
Im 14. Jahrhundert scheint der Grundsatz: Besteure den nicht, der nicht will [n’impose qui ne veut], in Frankreich ebenso festzustehen wie in England. Man wiederholt ihn oft; dagegen zu handeln, gilt stets für ein tyrannisches Verfahren; sich danach zu richten, für Rückkehr zum Recht. Um jene Zeit findet man, wie ich schon gesagt habe, eine Menge Ähnlichkeiten zwischen unse­ren politischen Institutionen und denen der Engländer; dann aber trennen sich die Geschicke der beiden Völker und werden ‘m Laufe der Zeit immer unähnlicher. Sie gleichen zwei Linien, die von zwei benachbarten Punkten, aber in etwas verschiedener Neigung ausgehen und sich dann immer weiter voneinander entfernen.
Ich wage zu behaupten, daß an dem Tage, da die Nation, der langen Unordnung müde, welche die Gefangenschaft des Königs Johann und den Wahnsinn Karls VI. begleitet hatte, es den gestattete, eine allgemeine Steuer ohne ihre Einwilligung einzuführen, und der Adel so niederträchtig war, den drit­ten Stand besteuern zu lassen, wofern nur er selbst befreit blieb, daß, sage ich, an diesem Tage die Saat fast aller Gebrechen und fast aller Mißbräuche gestreut wurde, die dem alten Staate wäh­rend seines weiteren Lebens zu schaffen gemacht und am Ende seinen plötzlichen Tod verursacht haben; […]
Seit dem Augenblick, wo die Steuer darauf zielte, nicht diejenigen zu treffen, die am fähig­sten waren, sie zu bezahlen, sondern diejenigen, die am unfähig­sten waren, sich dagegen zu wehren, mußte man zu der scheußli­chen Konsequenz hingeführt werden, sie dem Reichen zu erspa­ren und den Armen damit zu belasten. […]
Man muß die administrative und finanzielle Geschichte des alten Staates in ihren Einzelheiten studieren, um zu begreifen, zu welchen gewalttätigen und unehrlichen Kunstgriffen das Geld­bedürfnis eine milde, aber der Öffentlichkeit und Kontrolle ent­behrende Regierung nötigen kann, sobald einmal erst die Zeit ihre Macht geheiligt und sie von der Furcht vor Revolutionen, dieser letzten Schutzwehr der Völker, befreit hat.
Auf jedem Schritt findet man in diesen Annalen verkaufte und dann als unverkäuflich wieder in Beschlag genommene Krongü­ter, verletzte Verträge, mißachtete wohlerworbene Rechte; man sieht den Gläubiger des Staates in jeder Krise geopfert und das Vertrauen des Publikums unaufhörlich betrogen.
Auf ewige Zeiten bewilligte Privilegien werden zu allen Zeiten zurückgenommen. Könnte man Mitleid haben mit dem Mißver­gnügen, das eine törichte Eitelkeit verursacht, man würde das Los jener unglücklichen Geadelten beklagen, die man während des 17. und 18. Jahrhunderts von Zeit zu Zeit jene eitlen Ehrenti­tel oder die ungerechten Privilegien, die sie schon mehrmals bezahlt haben, abermals kaufen läßt. So annullierte z.B. Ludwig XIV. alle seit zweiundneunzig Jahren erworbenen Adelsbriefe, die großenteils von ihm selbst erteilt worden waren; man konnte sie nur gegen Zahlung einer neuen Summe erhalten, da, wie das Edikt sagte, alle diese Titel durch List erlangt worden waren. Ludwig XV. verfehlte nicht, achtzig Jahre später dieses Beispiel nachzuahmen.
Dem Soldaten verbietet man, sich einen Ersatzmann zu ver­schaffen, aus Furcht, heißt es, für den Staat den Preis der Rekru­ten zu steigern.
Städte, Korporationen, Spitäler werden gezwungen, ihre Ver­pflichtungen unerfüllt zu lassen, damit sie imstande seien, dem König Geld vorzuschießen. Man hindert Gemeinden daran, nützliche Bauten zu unternehmen, weil man fürchtet, daß sie so ihre Hilfsmittel zersplittern und deshalb die Taille weniger pünktlich entrichten werden.
Man erzählt, daß die Herren Orry und de Trudainc, der eine Generalkontrolleur und der andere Generaldirektor der Chaus­seen und Brücken, den Plan entworfen hatten, die Frone beim Wegebau durch eine Leistung in Geld zu ersetzen, welche die Einwohner jedes Bezirks zur Unterhaltung ihrer Straßen zahlen sollten. Der Grund, aus dem diese geschickten Administratoren ihren Plan aufgaben, ist lehrreich: Sie fürchteten, sagt man, daß man die Verwaltung der Finanzen nicht werde hindern können, die so erlangten Gelder in Beschlag zu nehmen und für ihre Bedürfnisse zu verwenden, so daß bald die Besteuerten zugleich die neue Abgabe und die Frone zu tragen haben würden. Ich nehme keinen Anstand zu sagen, daß kein Privatmann der Justiz entgangen wäre, wenn er sein eigenes Vermögen so verwaltet hätte, wie der große König in all seinem Glänze mit dem Staats­vermögen umging.
[…]
„Die Nation“, so klagt Turgot in einem geheimen Bericht an den König, „ist eine Gesellschaft, die aus verschiedenen schlecht verbundenen Ständen und einem Volke besteht, dessen einzelne Glieder nur eine schwache Verbindung untereinander haben und wo folglich jedermann nur mit seinem Sonderinteresse beschäf­tigt ist. Nirgends ist ein gemeinschaftliches Interesse sichtbar. Die Dörfer, die Städte haben ebensowenig wechselseitige Bezie­hungen wie die Bezirke, zu denen sie gehören. Sie können sich nicht einmal untereinander über die ihnen notwendigen öffentli­chen Arbeiten verständigen.
[…]

Elftes Kapitel
Über die Freiheit im alten Staat und ihren Einfluß auf die Revolution

Wer hier die Lektüre dieses Buches beendete, würde nur ein sehr unvollkommenes Bild von der Regierung des alten Staates haben und die Gesellschaft, von der die Revolution ausging, schlecht verstehen.
Wenn man so getrennte, so entschieden auf sich selbst be­schränkte Bürger und eine so ausgedehnte und so starke könig­liche Macht sieht, könnte man glauben, der Geist der Unabhän­gigkeit wäre mit den öffentlichen Freiheiten verschwunden und alle Franzosen hätten sich gleichmäßig unter das Joch gebeugt. Dem war keineswegs so; als die Regierung bereits allein und unumschränkt alle allgemeinen Angelegenheiten leitete, war sie doch noch weit davon entfernt, alle Individuen zu beherrschen.
Inmitten vieler schon für die unumschränkte Macht eingerich­teten Institutionen lebte die Freiheit noch; es war aber eine Freiheit so eigentümlicher Art, daß es heute schwer ist, sich eine Vorstellung davon zu machen, und man sie sehr genau untersu­chen muß, um den Nutzen und Schaden begreifen zu können, den sie uns zu bereiten vermocht hat.
Während die Zentralregierung alle lokalen Gewalten ver­drängte und mehr und mehr die ganze Sphäre der öffentlichen Macht ausfüllte, gab es doch Institutionen, die sie fortleben ließ oder die sie selbst eingeführt hatte, alte Gebräuche und Sitten und selbst Mißbräuche, die ihre Bewegungen hemmten, in den Gemütern einer großen Anzahl Individuen noch den Geist des Widerstandes wachhielten und vielen Charakteren noch ihre Kraft und ihre Haltung bewahrten.
Die Zentralisation hatte schon dasselbe Naturell, dasselbe Ver­fahren, dieselben Ziele wie in unseren Tagen, aber noch nicht dieselbe Macht. Die Regierung hatte in ihrem Wunsch, aus allem Geld herauszuschlagen, die meisten öffentlichen Ämter verkauft und sich so selbst der Fähigkeit beraubt, diese beliebig zu verge­ben und zurückzunehmen. Somit hatte die eine ihrer Leiden­schaften dem Erfolge der anderen bedeutend geschadet: ihre Habgier bildete ein Gegengewicht ihres Ehrgeizes. Sie war da­her, um handeln zu können, fortwährend genötigt, sich solcher Werkzeuge zu bedienen, die sie nicht selber geschaffen hatte und die sie nicht zerbrechen konnte. So begegnete es ihr oft, ihren entschiedensten Willen in der Ausführung ermatten zu sehen. Diese wunderliche und fehlerhafte Verfassung der öffentli­chen Ämter diente als eine Art politischer Garantie gegen die Allmacht der Zentralgewalt. Sie glich gewissermaßen einem un­regelmäßigen und schlecht gebauten Damm, der ihre Kraft brach und ihren Ansturm mäßigte.
Die Regierung verfügte auch noch nicht über jene unendliche Menge Begünstigungen, Unterstützungen, Ehrenstellen und Geldmittel, die sie heute austeilen kann; sie war somit weit weniger imstande, so gut zu verführen wie zu zwingen.
Sie kannte übrigens die Grenzen ihrer Gewalt selbst nicht genau. Keines ihrer Rechte war regulär anerkannt oder fest ge­gründet; ihr Wirkungskreis war schon ungeheuer, aber sie be­wegte sich darin noch unsicheren Schrittes, wie in einem dunklen und unbekannten Raum. Die gefahrvolle Finsternis, die damals die Grenzen aller politischen Gewalten verbarg und um alle Rechte herrschte, war zwar den Unternehmungen der Fürsten gegen die Freiheit der Untertanen, oft aber auch der Verteidi­gung dieser Freiheit günstig.
Im Bewußtsein ihres neuen Ursprungs und ihrer geringen Herkunft war die Verwaltung stets schüchtern in ihren Schritten, sobald sie dem geringsten Hindernis auf ihrem Wege begegnete. Liest man die Korrespondenz der Minister und der Intendanten des 18. Jahrhunderts, so ist es ein auffallendes Schauspiel zu sehen, wie bestürzt diese Regierung, die so anmaßend und abso­lut ist, solange der Gehorsam nicht verweigert wird, beim An­blick des geringsten Widerstandes ist, wie der leichteste Tadel sie beunruhigt, wie das kleinste Geräusch sie erschreckt, und wie sie dann stillsteht, zaudert, unterhandelt, sich mäßigt und oft weit diesseits der natürlichen Grenzen ihrer Macht bleibt. Der weich­liche Egoismus Ludwigs XV. und die Güte seines Nachfolgers begünstigten dies. Übrigens kam es diesen Fürsten niemals in den Sinn, daß man an ihren Sturz denke. Sie hatten nichts von dem unruhigen und harten Naturell, das die Furcht den Regierenden in der Folge oft gegeben hat. Sie traten nur Leute mit Füßen, die sie nicht sahen.
[…]
Man muß sich übrigens sehr hüten, die niedrige Gesinnung der Menschen nach dem Grad ihrer Gefügigkeit gegen die beherr­schende Macht zu messen; das hieße ein falsches Maß anlegen. Wie bereitwillig sich auch die Männer des alten Staates dem Willen des Königs fügten, es gab doch einen bestimmten Gehor­sam, der ihnen unbekannt war: Sie wußten gar nicht, was es heißt, sich einer illegitimen oder anfechtbaren Gewalt zu beugen, die man wenig ehrt, die man oft verachtet, der man aber bereit­willig gehorcht, weil sie nützt oder weil sie schaden kann. Diese entehrende Form der Knechtschaft blieb ihnen immer fremd. Der König flößte ihnen Gefühle ein, die keiner der absolutesten Herrscher, die später in der Welt erschienen sind, zu erwecken vermocht hat und die selbst für uns fast unbegreiflich geworden sind, so sehr hat die Revolution sie samt der Wurzel aus unseren Herzen ausgetilgt. Sie fühlten für ihn neben der Liebe, mit der man einem Vater zugetan ist, zugleich die Ehrfurcht, die man nur Gott schuldet. Indem sie sich selbst seinen willkürlichen Befeh­len unterwarfen, gehorchten sie viel weniger dem Zwang als der Liebe, und so konnte es oft geschehen, daß sie in der äußersten Abhängigkeit ihre Seele sehr frei erhielten. Für sie war das größte Übel beim Gehorsam der Zwang; für uns ist er das kleinste. Das schlimmste liegt in der knechtischen Gesinnung, die zum Gehor­chen treibt. Verachten wir unsere Väter nicht, wir haben nicht das Recht dazu! Wollte Gott, •wir könnten mit ihren Vorurteilen und ihren Mängeln ein wenig von ihrer Seelengröße wiederfinden!
Man würde also sehr unrecht haben, wollte man den alten Staat für ein Zeitalter der Servilität und Unselbständigkeit halten. Es herrschte da viel mehr Freiheit als in unseren Tagen; aber es war eine Art unregelmäßiger und vielfach unterbrochener Frei­heit, immer auf das abgegrenzte Gebiet der Klasse beschränkt, immer an die Idee von Ausnahme und Privileg geknüpft, eine Freiheit, die ebensosehr dem Gesetz wie der Willkür zu trotzen gestattete und die sich fast niemals so weit erstreckte, daß sie allen Staatsbürgern die natürlichsten und notwendigsten Garantien geboten hätte. So beschränkt und entstellt, war die Freiheit doch noch fruchtbar. Sie war es, die in einer Zeit, als die Zentralisation mehr und mehr bestrebt war, alle Charaktere gleichartig, ge­schmeidig und kraftlos zu machen, einer großen Anzahl Männer ihre angeborene Originalität, ihr Kolorit und ihr eigenes Geprä­ge erhielt, in ihren Herzen das Selbstgefühl nährte und darin oft die Liebe zum Ruhm zur vorherrschenden Leidenschaft machte. Durch sie bildeten sich jene starken Seelen, jene stolzen und kühnen Geister, die wir bald auftreten sehen und die die Franzö­sische Revolution ebenso zum Gegenstand der Bewunderung als des Schreckens der folgenden Geschlechter machen. Es wäre seltsam, wenn so männliche Tugenden auf einem Boden hätten wachsen können, wo es keine Freiheit mehr gab.
Während aber diese Art ungeregelter und ungesunder Freiheit die Franzosen vorbereitete, den Despotismus zu stürzen, machte sie sie vielleicht weniger als irgendein anderes Volk geeignet, an dessen Stelle das friedliche und freie Reich des Gesetzes zu gründen.

Zwölftes Kapitel
Die Lage der französischen Bauern war – trotz der Fortschritte der Zivilisation – im achtzehnten Jahrhundert zuweilen schlech­ter als im dreizehnten.

[…]
Ich muß hier ein Wort über die Art sagen, […] was für barbarische Gesetze in zivilisierten Jahrhunderten entstehen und sich erhalten können, sobald die aufgeklärtesten Männer der Nation an ihrer Abänderung keiner­lei persönliches Interesse haben.
Ich finde in einem vertraulichen Brief, den der Generalkon­trolleur 1772 eigenhändig an die Intendanten schreibt, folgende Schilderung der Taille, die an Genauigkeit und Kürze ein kleines Meisterstück ist. „Die Taille“, sagt dieser Minister, „willkürlich in ihrer Repartition, solidarisch in ihrer Erhebung, und im größ­ten Teil Frankreichs eine Personen-, nicht eine Vermögenssteu­er, ist in Folge all der Veränderungen, die jedes Jahr im Vermö­gen der Steuerpflichtigen eintreten, fortwährenden Variationen unterworfen.“ Das ist alles in wenigen Worten ausgedrückt; man könnte das Übel, aus dem man Vorteil zieht, nicht geschickter beschreiben.
Die Totalsumme, die eine Gemeinde zu entrichten hatte, wurde jedes Jahr festgesetzt. Sie variierte fortwährend, wie auch der Minister bemerkt hatte, so daß ein Bauer nie um ein Jahr voraussehen konnte, was er im nächsten Jahre werde zu zahlen haben. In der Gemeinde selbst wurde jedes Jahr der erste beste Bauer zum Einnehmer ernannt, der die Steuerlast auf alle ande­ren zu verteilen hatte.
Ich habe versprochen, die Lage dieses Einnehmers zu schil­dern. Lassen wir die Provinzialversammlung von Berry reden; sie ist nicht verdächtig, denn sie besteht nur aus Privilegierten, die die Taille nicht zahlen und vom König gewählt sind. „Da jedermann dem Amte des Einnehmers ausweichen -will“, sagte diese Versammlung im Jahre 1779, „muß es ein jeder der Reihe nach übernehmen. Die Erhebung der Taille ist sonach alle Jahre einem neuen Einnehmer anvertraut, ohne Rücksicht auf Befähi­gung oder Ehrlichkeit; daher verrät auch jedes Steuerregister den Charakter dessen, der es gemacht hat. Der Einnehmer drückt darin seine Furcht, seine Schwächen oder seine Laster aus. Wie könnte er es übrigens besser machen? Er tastet im Finstern; denn wer kennt genau das Vermögen seines Nachbarn und das Verhältnis dieses Vermögens zu dem eines anderen? Gleichwohl soll die Meinung des Einnehmers allein entscheiden, und er ist mit seinem ganzen Vermögen, ja mit seiner Person für die Einnahme verantwortlich. In der Regel muß er zwei Jahre lang die Hälfte seiner Zeit aufwenden, um zu den Steuerpflichtigen zu laufen. Diejenigen, die nicht lesen können, sind genötigt, in der Nach­barschaft jemand zu suchen, der ihnen hilft.“
Kurz zuvor schon hatte Turgot von einer anderen Provinz gesagt: „Dieses Amt bringt diejenigen, denen man es aufbürdet, zur Verzweiflung und fast stets an den Bettelstab; man stürzt auf diese Weise nach und nach alle wohlhabenden Familien eines Dorfes in Armut.“
Dieser Unglückliche war gleichwohl zum willkürlichsten Ver­fahren befugt; er war fast ebenso Tyrann wie Märtyrer. Für die Dauer dieses Amtes, in dem er sich selbst ruinierte, lag auch der Ruin aller anderen in seiner Hand. „Die Begünstigung seiner Verwandten“, so läßt sich die Provinzialversammlung weiter vernehmen, „seiner Freunde und Nachbarn, der Haß, die Rache gegen seine Feinde, das Bedürfnis eines Protektors, die Furcht, einem reichen Bürger, der ihm Arbeit gibt, zu mißfallen, be­kämpfen in seinem Herzen das Gefühl der Gerechtigkeit.“ Die Angst macht den Einnehmer oft unbarmherzig; es gibt Gemein­den, in denen der Einnehmer nur in Begleitung von Gerichtsdienern umhergeht. „Geht er ohne Gerichtsdiener“, meldet ein Intendant dem Minister im Jahre 1764, „so wollen die Steuer­pflichtigen nicht zahlen.“ – „In dem einzigen Wahlbezirk von Villefranche“, sagt wieder die Provinzialversammlung von Guyenne, „zählt man hundertundsechs Gerichtsvollzieher und sonstige Vollstreckungsbeamte, die beständig auf den Beinen sind.“
Um dieser gewalttätigen und willkürlichen Besteuerung zu entgehen, handelt der französische Bauer mitten im 18. Jahrhun­dert wie der Jude des Mittelalters; er stellt sich bettelarm, wenn er es zufällig einmal nicht wirklich ist; sein Wohlstand flößt ihm mit Recht Furcht ein. Ich habe dafür einen schlagenden Beweis in einem Dokument gefunden, das ich diesmal nicht in Guyenne, sondern hundert Meilen weit davon finde. Die Agrikulturgesell­schaft von Maine sagt in ihrem Bericht vom Jahre 1761, sie habe den Gedanken gehabt, als Preise und Aufmunterungen Vieh zu verteilen. Sie habe es unterlassen, sagt sie, „wegen der gefährli­chen Folgen, die eine niedrige Eifersucht für alle, die solche Preise davontrügen, herbeiführen könne, indem sie ihnen mit Hilfe der willkürlichen Besteuerung in den folgenden Jahren Bedrängnis bereiten könnte“.
Bei diesem Steuersystem hatte allerdings jeder Steuerpflichtige ein unmittelbares und beständiges Interesse, seine Nachbarn zu beobachten und dem Einnehmer die Zunahme ihres Vermögens zu verraten; man richtete so alle ab, in Angeberei und Haß zu wetteifern. Möchte man nicht glauben, diese Dinge geschähen im Gebiet eines indischen Radschas?
Trotzdem gab es damals in Frankreich Gegenden, wo die Steuer in regelmäßiger und schonender Weise erhoben wurde: es waren dies manche Ständeprovinzen. Diesen hatte man aller­dings das Recht gelassen, die Steuer selbst zu erheben. In Languedoc z.B. ist die Taille nur auf das Grundeigentum einge­führt und variiert keineswegs je nach dem Wohlstand des Ei­gentümers; sie hat zur Grundlage ein sorgfältig angefertigtes und alle dreißig Jahre erneuertes Kataster, in dem die Ländereien je nach ihrer Fruchtbarkeit in drei Klassen eingeteilt sind. Jeder Steuerpflichtige weiß im voraus genau, wie hoch sich die Steuer­quote belauft, die er zu entrichten hat. Wenn er sie nicht entrich­tet, so haftet allein er oder vielmehr allein sein Acker dafür. Glaubt er sich bei der Veranlagung benachteiligt, so ist er stets berechtigt zu verlangen, daß man seine Quote mit der eines anderen Einwohners, den er selber wählt, vergleiche. Wir nennen das heute die Berufung auf die verhältnismäßige Gleichheit.
Man sieht, daß alle diese Bestimmungen genau die gleichen sind, die wir gegenwärtig befolgen; man hat sie seit jener Zeit kaum verbessert, sondern nur verallgemeinert; denn es verdient bemerkt zu werden, daß, wenn wir auch der Regierung des alten Staates die Form unserer öffentlichen Verwaltung entlehnen, wir uns doch gehütet haben, sie in allem übrigen nachzuahmen. Nicht ihr, sondern den Provinzialversammlungen haben wir unsere besten Verwaltungsmethoden entlehnt. Wir übernahmen die Maschine, verwarfen aber ihre Produkte.
Die gewöhnliche Armut des Landvolkes hatte Maximen ent­stehen lassen, die nicht geeignet waren, ihr ein Ende zu machen. „Lebte das Volk im Wohlstand“, hatte Richelieu in seinem politi­schen Testament geschrieben, „so würde es sich nicht leicht in den gesetzlichen Schranken halten.“ Im 18. Jahrhundert geht man nicht mehr so weit, aber man glaubt noch, daß der Bauer nicht arbeiten würde, wenn er nicht beständig durch die Not angespornt wäre: die Armut erscheint als das einzige Mittel gegen die Trägheit.
[…]
Der seltsame Gedanke, daß es gut sei, die Unterhaltung der Straßen den Ärmsten und denje­nigen, die offenbar am wenigsten reisen, aufzubürden, dieser Gedanke, obwohl neu, wurzelt doch alsbald so fest im Geiste derer, die den Nutzen davon haben, daß sie sich bald gar nicht mehr vorstellen können, daß die Sache sich anders verhalten könnte.
[…]
Es gelingt Männern der höheren Klassen stets nur mit großer Mühe, deutlich zu erkennen, was in der Seele des Volkes und namentlich in der Seele der Bauern vorgeht. Erziehung und Lebensweise öffnen diesen Aussichten auf die menschlichen Dinge, die ihnen allein angehö­ren und die allen anderen verschlossen bleiben. Sobald aber der Arme und der Reiche fast gar kein gemeinsames Interesse, keine gemeinsamen Nöte und keine gemeinschaftlichen Angelegenhei­ten mehr haben, wird die Dunkelheit, die den Geist des einen dem Geist des anderen verbirgt, unergründlich, und diese beiden Menschen würden ewig nebeneinander leben können, ohne ein­ander jemals wirklich kennenzulernen. Man sieht mit Verwun­derung, in welcher seltsamen Sicherheit alle diejenigen lebten, die in dem Augenblick, als die Revolution ausbrach, die oberen und mittleren Stockwerke des Gebäudes der Gesellschaft innehatten, wie sie untereinander über die Tugenden des Volkes, über seine Sanftmut, seine Hingebung, seine unschuldigen Freuden sinnrei­che Gespräche führten, während sie bereits das Jahr 1793 unter den Füßen haben – lächerliches und schreckliches Schauspiel!
Verweilen wir hier, ehe wir weitergehen, um einen Augenblick, durch all die soeben geschilderten kleinen Umstände hin­durch, eines der größten Gesetze Gottes in der Führung der Völker zu betrachten.
Der französische Adel hält sich hartnäckig von den anderen Klassen getrennt; die Edelleute lassen sich endlich von den mei­sten der öffentlichen Lasten befreien, die jene drücken; sie wäh­nen, ihre Größe behaupten zu können, indem sie sich diesen Lasten entziehen, und anfangs scheint dem auch so zu sein; bald aber scheint eine innere unsichtbare Krankheit ihre Stellung befallen zu haben, die sich allmählich verringert, ohne daß sie selbst von jemand angetastet werden; sie verarmen in dem Maße, wie ihre Vorrechte zunehmen. Der Bürgerstand dagegen, mit dem sich zu vermengen sie sich so sehr scheuten, bereichert sich und bildet sich neben ihnen, ohne sie und gegen sie; sie hatten die Bürger weder zu Verbündeten noch zu Mitbürgern haben wol­len: sie sollen in ihnen erst Nebenbuhler, bald Feinde und end­lich Herren finden. Eine fremde Macht hat sie der Sorge überho­ben, ihre Vasallen zu leiten, zu schützen, zu unterstützen; da diese Macht ihnen aber zu gleicher Zeit ihre pekuniären Rechte und ihre Standesprivilegien gelassen hat, glauben sie, nichts ver­loren zu haben; da sie noch immer vorangehen, glauben sie, noch zu führen, und allerdings sind sie von Menschen umgeben, die sie in notariellen Urkunden ihre Untertanen nennen; andere nennen sich ihre Vasallen, ihre Zinsbauern, ihre Pächter. In Wahrheit folgt ihnen niemand, sie sind allein, und wenn man endlich auftreten wird, um sie niederzuwerfen, wird ihnen nur die Flucht übrigbleiben.
Obwohl das Schicksal des Adels und das des Bürgerstandes sehr verschieden gewesen ist, waren sie einander doch in einem Punkt ähnlich: der Bürger hat schließlich ebenso vom Volk abgesondert gelebt wie der Edelmann. Weit entfernt, sich den Bauern wieder zu nähern, hatte er die Berührung mit ihrem Elend geflohen; statt sich eng mit ihnen zu vereinigen, um ge­meinsam gegen die gemeinsame Ungleichheit zu kämpfen, hatte er nur getrachtet, neue Ungerechtigkeiten zu seinem Vorteil einzuführen: hatte man ihn doch ebenso eifrig gesehen, sich Vergünstigungen zu verschaffen, wie den Edelmann, seine Privi­legien zu behaupten. Diese Bauern, aus deren Mitte er stammte, waren ihm nicht nur fremd, sondern auch so gut wie unbekannt geworden, und erst nachdem er ihnen die Waffen in die Hand gegeben, merkte er, daß er Leidenschaften erweckt hatte, von denen er nicht einmal eine Ahnung gehabt, die er ebensowenig zu zügeln als zu lenken vermochte, und deren Opfer er werden sollte, nachdem er ihr Urheber gewesen war.
Zu allen Zeiten wird man staunen, wenn man die Trümmer dieses großen französischen Staatsgebäudes sieht, dem es be­schieden zu sein schien, sich über ganz Europa zu erstrecken; diejenigen aber, die seine Geschichte aufmerksam lesen, werden seinen Fall leicht begreifen. Fast alle die Gebrechen, fast alle die Irrtümer und verderblichen Vorurteile, die ich geschildert habe, verdankten in der Tat sowohl ihr Entstehen als ihre Dauer und Entwicklung jener Kunst, welche die Mehrzahl unserer Könige besaß, nämlich die Menschen zu trennen, um sie desto unum­schränkter zu beherrschen.
Als nun aber der Bürger so vom Edelmann und der Bauer vom Edelmann und vom Bürger gesondert war; als nun, weil im Schöße jeder Klasse ein ähnlicher Prozeß vor sich ging, innerhalb einer jeden derselben sich wieder kleine besondere Verbindun­gen gebildet hatten, die fast ebenso isoliert voneinander waren wie die Klassen selbst, da fand es sich, daß das Ganze nur eine homogene Masse bildete, deren Teile aber nicht mehr zusam­menhingen. Nichts war besser organisiert, um der Regierung hinderlich zu werden, nichts aber auch besser, um sie zu un­terstützen. So konnte das ganze Gebäude der Größe dieser Für­sten in einem Augenblick zusammenstürzen, sobald die Gesell­schaft, die ihm als Grundlage diente, in Bewegung geriet.
Und dieses Volk nun, das allein aus den Fehlern und Irrtümern aller seiner Herren Vorteil gezogen zu haben scheint, konnte sich, mochte es auch in der Tat ihrer Herrschaft entronnen sein, doch nicht dem Joche falscher Ansichten, schlechter Gewohn­heiten, übler Neigungen entziehen, die sie ihm gegeben oder von denen sie es nicht zurückgehalten hatten. Häufig hat es die Neigungen eines Sklaven sogar in die Ausübung seiner Freiheit mit übernommen, denn es war ebenso unfähig, sich selbst zu leiten, als es sich hart gegen seine Lehrer gezeigt hatte.

Drittes Buch
Erstes Kapitel
Wie die Schriftsteller um die Mitte des 18. Jahrhunderts die ersten Politiker des Landes wurden, und welche Wirkungen daraus hervorgingen.

[…]
Man hat oft mit Staunen die seltsame Verblendung betrachtet, mit der die höheren Klassen im alten Staate selbst zu ihrem Untergang beigetragen haben; allein, wie hätten sie sich aufklä­ren sollen? Freie Institutionen sind für die vornehmen Staatsbür­ger zur Erkenntnis ihrer Gefahren nicht weniger notwendig, als für die geringsten zur Sicherung ihrer Rechte. Seit mehr als einem Jahrhundert, nachdem die letzten Spuren des öffentlichen Lebens bei uns verschwunden waren, hatte den an der Erhaltung der alten Verfassung am meisten interessierten Leuten keine Erschütterung und kein Geräusch den Zerfall dieses uralten Ge­bäudes angekündigt. Da sich äußerlich nichts verändert hatte, bildeten sie sich ein, es wäre alles ganz beim alten geblieben. Ihr Geist war also auf dem Standpunkt stehengeblieben, auf dem ihre Vorfahren bereits gestanden hatten. In den Akten von 1789 sieht man den Adel ebenso beunruhigt durch die Übergriffe der kö­niglichen Macht wie in den Urkunden des 15. Jahrhunderts. Der unglückliche König Ludwig XVI. sah, kurz bevor er in den Fluten der Demokratie unterging, wie Burke richtig bemerkt, noch immer in der Aristokratie die Hauptrivalin der königlichen Gewalt; er mißtraute ihr, als lebte man noch in den Zeiten der Fronde. Der Bürgerstand und das Volk schien ihm dagegen wie seinen Vorfahren die sicherste Stütze des Thrones.
Uns aber, die wir die Trümmer so vieler Revolutionen vor Augen haben, muß noch seltsamer erscheinen, daß der Gedanke an eine gewaltsame Revolution dem Geist unserer Väter fernlag. Darüber diskutierte man nicht, denn man war noch nicht darauf gekommen. Die kleinen Erschütterungen, die die politische Frei­heit auch in der ruhigsten Gesellschaft beständig verursacht, mahnen täglich an die Möglichkeit eines Umsturzes und halten die öffentliche Vorsicht wach; aber in dieser französischen Ge­sellschaft des 18. Jahrhunderts, die bald in den Abgrund stürzen sollte, hatte noch nichts angedeutet, daß man schon am Sinken war.
[…]
Eine durch langen Streit ermü­dete Nation läßt sich bereitwillig betrügen, wenn man ihr nur Ruhe bringt, und die Geschichte lehrt, daß es alsdann, um sie zu befriedigen, genügt, im ganzen Lande eine gewisse Anzahl unbe­deutender oder abhängiger Leute zusammenzuraffen und diese gegen Bezahlung vor den Augen der Nation die Rolle einer politischen Versammlung spielen zu lassen. Das ist mehrmals vorgekommen. Am Beginn einer Revolution aber scheitern diese Unternehmungen stets und regen das Volk immer nur auf, ohne es zufriedenzustellen. Der geringste Bürger eines freien Landes weiß das; Turgot, obschon ein großer Verwaltungsmann, wußte es nicht.

Drittes Kapitel
Die Franzosen verlangten nach Reformen, ehe sie nach Freiheit verlangten.

[…]
Man glaubt, die destruktiven Theorien, die man in unseren Tagen Sozialismus genannt hat, seien neuen Ursprungs; das ist ein Irrtum: diese Theorien sind Zeitgenossen der ersten Physiokraten. Während diese die allmächtige Regierung, von der sie träumten, mit der Umgestaltung der Formen der Gesellschaft beschäftigten, bemächtigten sich jene in der Phantasie der nämli­chen Gewalt, um die Grundlagen der Gesellschaft zu zerstören.
Man lese Morellys Gesetzbuch der Natur, und man wird darin, neben sämtlichen Lehren der Physiokraten von der All­macht des Staates und dessen unbeschränkten Rechten, mehrere der politischen Theorien finden, die Frankreich in den letztver­gangenen Zeiten am meisten erschreckt haben und die wir glaubten erst entstehen gesehen zu haben: die Gütergemein­schaft, das Recht auf Arbeit, die unbedingte Gleichheit, die Gleichförmigkeit in allen Dingen, die mechanische Regelmäßig­keit in allen Bewegungen der Individuen, die geregelte Tyrannei und das vollständige Aufgehen der Persönlichkeit der Staatsbür­ger im Gesellschaftskörper.
„Nichts in der Gesellschaft soll jemand besonders oder zu Eigentum gehören“, sagt der erste Artikel dieses Gesetzbuchs. „Das Eigentum ist abscheulich, und wer es wieder einzuführen versucht, soll wie ein rasender Narr und Feind der Menschheit zeitlebens eingesperrt werden.“ „Jeder Bürger wird auf öffent­liche Kosten ernährt, unterhalten und beschäftigt werden“, sagt Artikel 2. „Alle Produkte werden in öffentlichen Magazinen aufgespeichert, um unter alle Bürger verteilt zu werden und ihre Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Die Städte werden nach dem gleichen Plan gebaut; alle Wohnhäuser der Privatpersonen sollen gleich sein. Mit fünf Jahren werden alle Kinder der Familie genommen und gemeinschaftlich auf Kosten des Staates in gleichförmiger Weise erzogen.“ Dieses Buch scheint gestern ge­schrieben zu sein, und doch ist es vor hundert Jahren entstanden; es erschien 1755, zur selben Zeit, als Quesnay seine Schule grün­dete: So wahr es ist, daß Zentralisation und Sozialismus Produk­te desselben Bodens sind; sie verhalten sich zueinander wie der veredelte Obstbaum zum Wildling.
[…]
Die Franzosen beschränkten sich nicht mehr auf den Wunsch, ihre Angelegenheiten möchten bes­ser besorgt werden; sie begannen, diese selber besorgen zu wol­len, und es war nicht zu verkennen, daß die große Revolution, auf die alles hinarbeitete, nicht nur mit Zustimmung des Volkes, sondern durch dessen Hände vollbracht werden würde.
Ich glaube, daß die radikale Revolution, die das Schlechteste, was der alte Staat enthielt, samt dem Besten, was er in sich schloß, in demselben Abgrund begraben sollte, von diesem Augenblick an unvermeidlich war. Ein so wenig auf selbständiges Handeln vorbereitetes Volk konnte es nicht unternehmen, alles auf einmal zu reformieren, ohne alles zu zerstören. Ein unumschränkter Fürst würde ein minder gefährlicher Neuerer gewesen sein. Wenn ich diese Revolution betrachte, die so viele der Freiheit widerstrebende Institutionen, Ideen und Gewohnheiten ver­nichtet, andererseits aber auch so viele abgeschafft hat, die die Freiheit kaum entbehren kann, bin ich zu glauben geneigt, daß sie, durch einen Despoten ausgeführt, uns vielleicht minder unfä­hig gelassen hätte, dereinst eine freie Nation zu werden, als vollbracht durch das Volk und im Namen der Souveränität des Volkes.
Man darf das Vorstehende nie aus dem Auge verlieren, wenn man die Geschichte unserer Revolution begreifen will.
Als bei den Franzosen die Liebe zur politischen Freiheit er­wachte, hegten sie über die Staatsregierung bereits eine gewisse Anzahl von Vorstellungen, die nicht nur mit der Existenz frei­heitlicher Institutionen schwer in Einklang zu bringen waren, sondern die denselben beinahe zuwiderliefen.
Als Ideal einer Gesellschaft dachten sie sich ein Volk ohne andere Aristokratie als die der öffentlichen Beamten, eine einzige und allmächtige Verwaltung, die den Staat lenkte und die einzel­nen bevormundete. Als sie die Freiheit verlangten, gedachten sie keineswegs, sich dieser ersten Vorstellung zu entschlagen; sie versuchten nur, sie mit der Freiheit in Einklang zu bringen.
Sie unternahmen es also, eine schrankenlose administrative Zentralisation und eine übergeordnete gesetzgebende Körper­schaft miteinander zu verbinden: die Verwaltung der Bürokratie und die Regierung der Wähler.
[…]
Ich habe mich oft gefragt, wo die Quelle jener Leidenschaft für die politische Freiheit liege, die zu allen Zeiten die Menschen zu den größten Taten vermochte, die die Menschheit vollbracht hat, welche Gefühle es sind, in denen sie wurzelt und aus denen sie sich nährt.
Ich sehe wohl, daß in den Völkern, wenn sie schlecht geführt werden, sich leicht das Verlangen regt, sich selber zu regieren; aber diese Liebe zur Unabhängigkeit, die ihre Ursache nur in gewissen besonderen und vorübergehenden Übelständen hat, die der Despotismus herbeiführt, ist niemals von Dauer: sie schwin­det mit dem Umstand, der sie hervorrief; man schien die Freiheit zu lieben, es findet sich, daß man nur den Herrn haßte. Völker, die für die Freiheit geschaffen sind, hassen aber das Übel der Abhängigkeit selbst.
Ich glaube auch nicht, daß die wahre Freiheitsliebe jemals allein durch die Aussicht auf die materiellen Güter geweckt werde, die sie verschafft; denn diese Aussicht verdunkelt sich oft. Mit der Zeit bringt allerdings die Freiheit diejenigen, die sie zu behaupten wissen, stets zu Wohlstand und oft zu Reichtum; aber es gibt Zeiten, in denen sie den Genuß solcher Güter für den Augenblick stört; es gibt andere, in denen allein der Despotismus ihren vorübergehenden Genuß gewähren kann. Die Menschen, die in der Freiheit nur diese Güter suchen, haben die Freiheit nie lange bewahrt.
Was zu allen Zeiten das Herz mancher Menschen so stark für sie eingenommen hat, sind ihre eigenen Reize, ihr eigener Zau­ber, ohne Rücksicht auf ihre Wohltaten; es ist die Lust, unter dem alleinigen Regimente Gottes und der Gesetze sprechen, handeln und frei atmen zu können. Wer in der Freiheit etwas anderes als sie selber sucht, ist zur Knechtschaft geboren.
Manche Völker erstreben sie hartnäckig durch alle möglichen Gefahren und Entbehrungen. Diese Völker lieben an ihr dann nicht die materiellen Güter, die sie gewährt; sie betrachten sie selbst als ein so kostbares und so notwendiges Gut, daß kein anderes Gut sie über ihren Verlust zu trösten vermöchte und daß sie sich in ihrem Genuß über alles andere trösten. Andere werden im Schoße ihres Wohlstandes der Freiheit müde; sie lassen sie sich ohne Widerstand aus den Händen reißen, aus Furcht, durch eine Anstrengung dieses behagliche Leben zu gefährden, das sie ihr verdanken. Was fehlt diesen, um frei zu bleiben? Was? Nur die Lust, es zu sein. Man mute mir nicht zu, diese erhabene Lust zu analysieren, man muß sie empfinden. Sie zieht von selbst in die großen Herzen ein, die Gott sie zu empfangen bereitet hat; sie erfüllt sie, sie entflammt sie. Man muß darauf verzichten, sie den mittelmäßigen Seelen begreiflich zu machen, die sie nie empfun­den haben.

Viertes Kapitel
Daß die Regierungszeit Ludwigs XVI. die blühendste Epoche
der alten Monarchie war, und wie gerade dieser blühende Zustand
die Revolution beschleunigte.

[…]
Man gelangt nicht immer nur dann zur Revolution, wenn eine schlimme Lage zur schlimmsten wird. Sehr oft geschieht es, daß ein Volk, das die drückendsten Gesetze ohne Klage und gleich­sam, als fühlte es sie nicht, ertragen hatte, diese gewaltsam besei­tigt, sobald ihre Last sich vermindert. Die Regierung, die durch eine Revolution vernichtet wird, ist fast stets besser als die unmittelbar voraufgegangene, und die Erfahrung lehrt, daß der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung der ist, wo sie sich zu reformieren beginnt. Nur ein großes Genie vermag einen Fürsten zu retten, der es unternimmt, seinen Untertanen nach langer Bedrückung Erleichterung zu gewähren. Das Übel, das man als unvermeidlich in Geduld ertrug, erscheint unerträg­lich, sobald man auf den Gedanken kommt, sich ihm zu entzie­hen. Alles was man alsdann an Mißbräuchen beseitigt, scheint das noch Übrige nur um so deutlicher zu zeigen und läßt es schmerzlicher empfinden: Das Übel ist geringer geworden, aber die Empfindlichkeit ist lebhafter. Das Lehnswesen hatte in seiner vollen Kraft den Franzosen nicht soviel Haß eingeflößt, wie in dem Augenblick, da es im Begriffe stand zu verschwinden. Die geringsten Willkürakte Ludwigs XVI. schienen schwerer zu ertragen als der ganze Despotismus Ludwigs XIV. Die kurze Gefangenschaft Beaumarchais’ brachte größere Aufregung in Paris hervor als die Dragonaden.
Im Jahre 1780 behauptete niemand mehr, daß Frankreich im Verfall begriffen sei; man möchte im Gegenteil sagen, daß seine Fortschritte um diese Zeit keine Grenzen mehr kennen. Damals entsteht denn auch die Theorie der kontinuierlichen und unbe­grenzten Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen. Zwanzig Jahre früher erhoffte man nichts von der Zukunft; jetzt fürchtet man von ihr nichts. Die Phantasie, die sich im voraus dieser nahen und unerhörten Glückseligkeit bemächtigt, macht gleich­gültig gegen die Güter, die man bereits hat, und drängt den neuen Dingen entgegen.

Achtes Kapitel
Wie die Revolution sich ganz von selbst
aus dem Vorhergehenden entwickelt hat.

Ich will zum Abschluß einige der Züge, die ich bereits einzeln geschildert habe, zusammenstellen und zeigen, wie aus dem alten Staate, dessen Bild ich geliefert habe, die Revolution wie von selbst hervorgegangen ist.
Erwägt man, daß gerade bei uns das Lehnswesen, ohne sich seiner schädlichen oder störenden Eigenschaften zu entäußern, vollständig alles verloren hatte, was ihm helfen oder nützen konnte, so wird man sich weniger wundern, daß die Revolution, die diese alte Verfassung Europas gewaltsam abschaffen sollte, in Frankreich eher als anderswo ausgebrochen ist.
Wenn man bedenkt, daß der Adel, nachdem er seine ehemali­gen politischen Rechte verloren und mehr als in irgendeinem anderen feudalen Staat Europas aufgehört hatte, die Einwohner zu verwalten und zu leiten, gleichwohl seine Steuerfreiheit und die Vorteile, die seine einzelnen Mitglieder genossen, nicht nur erhalten, sondern noch bedeutend vermehrt hatte, daß er zwar eine untergeordnete Klasse wurde, indessen aber eine privilegier­te und geschlossene Klasse geblieben, immer weniger, wie ich schon erwähnt habe, eine Aristokratie, und immer mehr eine Kaste geworden war, so wird man es nicht mehr auffällig finden, daß seine Privilegien den Franzosen so unerklärlich und so verabscheuenswert erschienen und daß ihr Anblick den demokrati­schen Haß in ihrem Herzen dergestalt entzündete, daß er noch jetzt nicht erloschen ist.
Wenn man endlich bedenkt, daß dieser von den Mittelklassen, die er von sich zurückgestoßen, und vom Volke, dessen Zunei­gung er sich hatte entgehen lassen, abgesonderte Adel mitten in der Nation ganz isoliert dastand und scheinbar zwar die Spitze der Armee bildete, in Wahrheit aber nur ein Offizierskorps ohne Soldaten war, so wird man begreifen, wie er, der tausend Jahre aufrecht gestanden, im Laufe einer Nacht hat gestürzt werden können.
Ich habe gezeigt, in welcher Weise die königliche Regierung, nachdem sie die provinzialen Freiheiten abgeschafft und in drei Vierteln Frankreichs selber an die Stelle aller lokalen Gewalten getreten war, alle Geschäfte, die kleinsten wie die größten, an sich gezogen hatte; ich habe anderseits dargetan, wie infolgedes­sen Paris, das bis dahin nur die Hauptstadt des Landes gewesen, nun zu dessen Herrin oder vielmehr selber zum ganzen Land werden mußte.
Diese beiden Frankreich eigentümlichen Umstände würden notfalls allein genügen zu erklären, wie ein Aufstand eine Monar­chie hat von Grund aus zerstören können, die so viele Jahrhun­derte hindurch so heftige Erschütterungen ausgehalten und die noch am Vorabend ihres Sturzes selbst denen, die sie stürzen sollten, unerschütterlich erschienen war.
Frankreich war eines der Länder Europas, wo alles politische Leben am längsten und vollständigsten erloschen war, wo die Bürger der Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten am meisten entwöhnt waren und wo sie die Übung, in den Ereignissen zu lesen, sowie die Bekanntschaft mit Volksbewe­gungen, ja beinahe die Kenntnis des Volkes selbst am vollstän­digsten verloren hatten, und es ist daher leicht begreiflich, wie alle Franzosen zugleich in eine schreckliche Revolution stürzen konnten, ohne sie zu sehen, wobei die von ihr am meisten Be­drohten voranschritten und es auf sich nahmen, die zu ihr füh­rende Bahn zu öffnen und zu erweitern.
Da es keine freiheitlichen Institutionen mehr gab und da folg­lich auch keine politischen Klassen, keine lebendigen politischen Körperschaften, keine organisierten und geführten Parteien mehr vorhanden waren und das Fehlen aller dieser regulären Streitkräfte die Leitung der öffentlichen Meinung, als diese wie­der auflebte, einzig und allein den Philosophen zufiel, so durfte man erwarten, die Revolution weniger mit Rücksicht auf be­stimmte besondere Umstände, als nach abstrakten Prinzipien und sehr allgemeinen Theorien geleitet zu sehen; es ließ sich vorhersagen, daß man, anstatt nur die schlechten Gesetze anzu­greifen, gegen alle Gesetze angehen, und daß man an die Stelle der alten Verfassung Frankreichs ein ganz neues, von den Schrift­stellern erfundenes Regierungssystem würde setzen wollen.
Da die Kirche mit sämtlichen alten Institutionen, deren Ver­nichtung es galt, eng verknüpft war, konnte man nicht daran zweifeln, daß diese Revolution, indem sie die weltliche Macht stürzte, zugleich auch die Religion erschüttern werde; dann aber ließ sich nicht mehr absehen, zu welchen Schritten unerhörter Verwegenheit sich der Geist der Neuerer werde hinreißen lassen, sobald sie einmal aller Bande ledig waren, womit Religion, Ge­wohnheiten und Gesetze die wilde Phantasie der Menschen zügeln.
Wer den Zustand des Landes genau kannte, würde leicht vor­ausgesehen haben, daß man kein noch so unerhörtes Wagnis unversucht lassen und daß keine Gewalttat unvollbracht bleiben werde.
[…]
Der Kontrast zwischen der Menschenfreundlichkeit der Theo­rien und der Wildheit der Taten, der einer der seltsamsten Cha­rakterzüge der Französischen Revolution gewesen ist, wird nie­mand überraschen, der erwägt, daß diese Revolution von den zivilisiertesten Klassen der Nation vorbereit und von den unge­bildetsten und rohesten ausgeführt worden ist. Da die Mitglieder der ersteren kein schon vorhandenes Band verknüpfte, da sie auch nicht gewohnt waren, sich untereinander zu verständigen, und gar keine Verbindung mit dem Volke hatten, wurde dieses fast sofort zur führenden Macht, als die alten Gewalten vernich­tet waren. Da, wo es nicht selbst regierte, verlieh es der Regie­rung wenigstens seinen Geist; und wenn man andererseits die Art bedenkt, in der das Volk im alten Staate gelebt hatte, so kann man sich leicht vorstellen, was aus ihm werden mußte.
Gerade die Besonderheiten seiner Lage hatten ihm mehrere seltene Tugenden verliehen. Schon frühzeitig frei geworden und seit langer Zeit im Besitz eines Teiles des Bodens, mehr isoliert als abhängig, zeigte es sich mäßig und stolz; es war an Arbeit gewöhnt, gleichgültig gegen die feineren Lebensgenüsse, ergeben in den größten Leiden und fest in der Gefahr; ein schlichter und mannhafter Menschenschlag, der bald jene mächtigen Heere bil­den sollte, unter deren Andrang Europa sich beugen wird. Aber diesselbe Ursache machte aus diesem Volk einen gefährlichen Gebieter. Da es seit Jahrhunderten fast ganz allein die Last der Mißbräuche getragen, da es in Absonderung gelebt und sich im stillen mit seinen Vorurteilen, seiner Eifersucht und seinem Haß genährt hatte, war es durch diese Härte seines Schicksals selbst hart und fähig geworden, nicht nur alles zu ertragen, sondern auch andere alles erdulden zu lassen.
In diesem Zustand legte es Hand an die Regierung und unter­nahm es, das Werk der Revolution selbst zu vollenden. Die Bücher hatten die Theorie geliefert; das Volk übernahm die Praxis und paßte die Ideen der Schriftsteller seiner eigenen Wut an.
Wer bei der Lektüre dieses Buches Frankreich, wie es im 18. Jahrhundert war, aufmerksam betrachtet hat, muß bemerkt haben, daß da zwei bedeutende Leidenschaften erwachten und sich entwickelten, die keineswegs gleichzeitig entstanden sind und nicht immer nach demselben Ziel gestrebt haben.
Die eine, tiefer wurzelnd und älteren Ursprungs, ist der heftige und unauslöschliche Haß gegen die Ungleichheit. Diese Leiden­schaft wurde erzeugt und großgezogen durch den Anblick eben dieser Ungleichheit, und sie trieb seit geraumer Zeit die Franzo­sen mit ununterbrochener und unwiderstehlicher Kraft an, alles, was von den Institutionen des Mittelalters übrig war, von Grund auf zu zerstören und auf dem so gewonnenen Boden eine Gesell­schaft zu gründen, in der die Menschen einander so ähnlich und die gesellschaftlichen Bedingungen so gleich sein sollten, wie die menschliche Natur es gestattet.
Die andere, jüngere und weniger eingewurzelte Leidenschaft veranlaßte sie, nicht nur als Gleiche, sondern auch als Freie leben zu wollen.
Gegen das Ende des alten Staates ist jede dieser beiden Leiden­schaften ebenso aufrichtig und dem Anschein nach auch ebenso heftig wie die andere. Zu Beginn der Revolution begegnen sie einander, verbinden sich nun und verschmelzen einen Augen­blick, erhitzen sich bei der Berührung und entflammen auf ein­mal das Herz ganz Frankreichs. Das ist 1789, eine Zeit allerdings der Unerfahrenheit, aber auch der Hochherzigkeit, der Begeiste­rung, der Männlichkeit und Größe, eine Zeit unsterblichen An­denkens, auf welche die Blicke der Menschen voll Bewunderung und Ehrfurcht gerichtet sein werden, wenn diejenigen, die sie erlebt haben, und wir längst verschwunden sein werden. Damals waren die Franzosen stolz genug auf ihre Sache und auf sich selbst, um zu glauben, daß sie in der Freiheit gleich sein könnten. Mitten unter demokratischen Institutionen begründeten sie da­her überall freiheitliche Institutionen. Sie zertrümmerten nicht nur jene veralteten Gesetze, die die Menschen in Kasten, in Korporationen, in Klassen teilten und ihre Rechte noch unglei­cher machten als ihre gesellschaftlichen Bedingungen, sondern sie vernichteten mit einem Schlage auch jene anderen Gesetze, neuere Werke der königlichen Gewalt, die die Nation jeder freien Bewegung beraubt und jedem Franzosen die Regierung zur Seite gestellt hatten, um sein Lehrer, sein Vormund und notfalls sein Unterdrücker zu sein. Mit der absoluten Regierung fiel auch die Zentralisation.
Als aber diese kräftige Generation, die die Revolution begon­nen hatte, vernichtet oder entkräftet war, wie es in der Regel jeder Generation begegnet, die bei derartigen Unternehmungen das erste Beispiel gibt; als, nach dem natürlichen Verlaufe solcher Ereignisse, die Freiheitsliebe inmitten der Anarchie und der Volksdiktatur entmutigt und ermattet war und die bestürzte Nation gleichsam im Finstern tappend nach ihrem Gebieter zu suchen begann, da boten sich der absoluten Regierung zu ihrer Wiedergeburt und Neubegründung die erstaunlichsten Hilfs­mittel dar, die das Genie dessen, der zugleich Fortsetzer und Vernichter der Revolution werden sollte, ohne Mühe entdeckte.
Der alte Staat hatte in der Tat eine Menge Institutionen neuen Ursprungs gekannt, die, da sie der Gleichheit nicht widerspra­chen, leicht ihren Platz in der neuen Gesellschaft finden konnten und die dennoch dem Despotismus einzigartige Möglichkeiten darboten. Man suchte sie unter den Trümmern aller anderen und fand sie wieder. Diese Institutionen hatten ehemals Gewohnhei­ten, Leidenschaften und Ideen erzeugt, die geeignet waren, die Menschen abgesondert und gehorsam zu erhalten; man erweckte sie wieder und bediente sich ihrer. Man holte die Zentralisation aus den Trümmern hervor und stellte sie wieder her; und da, als sie wiedererstand, gleichzeitig alles, was ihr früher Schranken zu setzen vermocht hatte, vernichtet blieb, sah man nun aus der Mitte einer Nation, die kaum erst das Königtum gestürzt hatte, plötzlich eine Macht hervorgehen, die ausgedehnter, im einzel­nen ausgebildeter und absoluter war als diejenige, die unsere Könige ausgeübt hatten. Das Unternehmen erschien außeror­dentlich kühn und sein Erfolg unerhört, weil man nur an das dachte, was man sah, und vergaß, was man gesehen hatte. Der Zwingherr fiel, aber der substantiellste Teil seines Werkes blieb bestehen; als seine Regierung tot war, lebte seine Verwaltung fort, und sooft man später die absolute Gewalt zu stürzen ver­suchte, begnügte man sich stets, den Kopf der Freiheit auf einen servilen Rumpf zu setzen.
Zu wiederholten Malen seit dem Ausbruch der Revolution bis auf unsere Tage sah man die Leidenschaft für die Freiheit erlö­schen, dann wieder erwachen, abermals erlöschen und immer wieder erwachen; so wird sie noch lange fortfahren, stets uner­fahren und schlecht geleitet, leicht zu entmutigen, zu erschrecken und zu besiegen, oberflächlich und flüchtig. Während der­selben Zeit erfüllt die Leidenschaft für die Gleichheit noch im­mer die Herzen, deren sie sich zuerst bemächtigt hatte; sie knüpft sich an die Gefühle, die uns die liebsten sind; während die eine Leidenschaft sich fortwährend verändert, je nach den Ereignis­sen abnimmt oder wächst, kräftiger oder schwächer wird, bleibt die andere sich immer gleich, immer mit dem gleichen, hartnäcki­gen und oft blinden Eifer auf dasselbe Ziel gerichtet, bereit, denen, die ihr Befriedigung gestatten, alles aufzuopfern und der Regierung, die sie nur begünstigen und ihr schmeicheln will, die Gewohnheiten, die Ideen und die Gesetze zu liefern, die der Despotismus braucht, um zu herrschen.
Die Französische Revolution wird allen, die nur sie allein betrachten wollen, ein dunkles Rätsel bleiben; in den Zeiten, die ihr vorangehen, hat man das einzige Licht zu suchen, das sie aufzuhellen vermag. Ohne ein klares Bild der alten Gesellschaft, ihrer Gesetze, ihrer Fehler, ihrer Vorurteile, ihrer Erbärmlich­keiten und ihrer Größe wird man nie begreifen, was die Franzo­sen während der sechzig Jahre, die dem Sturze jener alten Gesell­schaft folgten, getan haben; aber dieses Bild würde noch nicht genügen, wenn es sich nicht auch auf das Naturell unserer Nation erstreckte. […]