16. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2013

Von Hunden und Wölfen

von Erhard Crome

Sebastian Haffner schrieb, als ein Fazit der deutschen Novemberrevolution von 1918: „Ein Hund ist bekanntlich ein ehemaliger Wolf, den der Mensch für seine Zwecke gezähmt hat. Die Sozialdemokratie ist eine ehemalige Arbeiterpartei, die der Kapitalismus für seine Zwecke gezähmt hat.“ Der Hund aber – nicht der verweichlichte, überzüchtete Stubenhund unserer Tage, sondern der, der nachts draußen ist, die Herde oder den Hof bewacht und noch weiß, was ein Wolf ist – hasst den Wolf, wahrscheinlich, weil er ihn immer noch an die Zeit erinnert, da er selbst noch nicht zugerichtet war.
So hat die deutsche Sozialdemokratie seit 1990 alles getan, um die PDS, dann die Linke zu bekämpfen, zu verdrängen, aus der Gegenwart und damit aus der deutschen Geschichte zu tilgen. Es ist ihr nicht gelungen. Nach der Bundestagswahl von 2013 ist klar, sie wird es nicht schaffen. Deshalb hat sie nun erklärt, dass sie dieses Ziel aufgegeben habe. Das hat sie auf ihrem Leipziger Parteitag vom 14.-16. November beschlossen, und zwar im Hinblick auf eine Regierungsbildung 2017 und danach: „Für die Zukunft schließen wir keine Koalition (mit Ausnahme von rechtspopulistischen oder -extremen Parteien) grundsätzlich aus.“ Dort sind drei Bedingungen formuliert, die Linke ist nicht ausdrücklich genannt, aber gemeint. Diese sind: Erstens „eine stabile und verlässliche parlamentarische Mehrheit“. Nun könnte man daran erinnern, dass es bei der berühmten Auseinandersetzung um eine Regierungsbildung unter der Sozialdemokratin Andrea Ypsilanti in Hessen 2008 die SPD war, die die Verlässlichkeit in der parlamentarischen Mehrheitsbildung vermissen ließ. Aber davon will man natürlich heute nichts hören; damals galt ja noch der „Ausschlusseritis“-Beschluss.
Zweitens heißt es: „Es muss einen verbindlichen und finanzierbaren Koalitionsvertrag geben.“ Nun könnte man über die Verbindlichkeit von Koalitionsverträgen trefflich streiten, zuweilen wird ja manches auch umgesetzt. Der Kern der Aussage ist hier das Bestehen auf der neoliberalen Politik der „Schuldenbremse“, was einer echten, linksorientierten Reformpolitik jedenfalls enge Grenzen auferlegen würde.
Und drittens schließlich: „Es muss eine verantwortungsvolle Europa- und Außenpolitik im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen gewährleistet sein.“ Hier könnte man gleich polemisch fragen, ob es denn Ausdruck einer „verantwortungsvollen Außenpolitik“ ist, junge Leute der Bundeswehr an den Hindukusch zu schicken, damit sie dort morden oder ermordet werden. War und ist es nicht vielmehr Ausdruck verantwortungsvoller deutscher Außenpolitik, diese jungen Deutschen davor zu bewahren, in eine solche Lage zu kommen? Und damit auch die örtliche Bevölkerung dort zu schützen? Gemeint ist, die Beteiligung an solchen Entscheidungen zur Bedingung für eine Regierungsbildung zu machen. Der Rest, mit den „internationalen Verpflichtungen“, zeugt entweder von völkerrechtlicher Unbildung – jeder Staat ist frei, Verträge, die er unter anderen Bedingungen geschlossen hat, neu zu verhandeln, zu ändern oder aufzukündigen. Das betrifft auch die NATO-Verträge und die USA-Stützpunkte auf deutschem Boden und schon gar die Spionagetätigkeit von US-Geheimdiensten. Oder es ist ebenfalls eine Bedingung: Die Linke, wenn sie sich auf eine Koalition mit der SPD einlässt, soll die NATO, aber auch die neoliberalen Vertragswerke der EU ohne Murren und Knurren akzeptieren.
Nun ist 2017 noch lange hin. Wird es eine „linke Mehrheit“ von SPD, Grünen und der Linken geben (können)? Wenn die SPD nach vier Jahren Großer Koalition mit Frau Merkel bei dann noch 20 Prozent landet, wird es schon rein rechnerisch nicht reichen, sofern die sonstigen Rahmenbedingungen gleich bleiben. Ob die Grünen überhaupt eine „linke“ Partei sind, liegt im Dunkel. Ein maßgeblicher Teil ihres politischen Personals würde schon jetzt lieber mit der CDU koalieren. Insofern ist es bereits unter der Perspektive deutscher Parlamentsmechanik völlig unsicher, was 2017 sein wird.
Es gibt aber noch eine andere, viel größere Ungewissheit. Die relative Mehrheit der deutschen Wähler hat sich für Angela Merkel entschieden in der Hoffnung, sie möge sie vor den Unwägbarkeiten und Zumutungen der Weltwirtschaft und ihrer Krise bewahren. Von der warnenden Analyse, dass die deutsche Politik genau das herbeiführen könnte, was sie vorgeblich verhindern will, weiß der Kleinsparer nichts. Er sieht nur die niedrigen Zinsen auf seine Ersparnisse.
Inzwischen aber erreicht die Krise, die schon seit Jahren in der EU und in der Euro-Zone hin und her wabert, Frankreich. Ob man den Franzosen allerdings die Austeritätspolitik verordnen kann, die man Griechenland, Portugal, Irland, Zypern, Spanien und Italien verpasst hat, ist ungewiss. Präsident Hollande und sein Ministerpräsident, die aus den gleichen Gründen gewählt wurden, wie Frau Merkel wiedergewählt wurde, nämlich die französische Bevölkerung vor der Krise zu schützen, liegen mit 15 Prozent in der Zustimmung der Bevölkerung auf dem niedrigsten Stand seit 1958, seit man in der V. Republik begann, so etwas zu zählen wird. Die Protestbewegung trägt rote Mützen, wie einst im Kampf gegen den absoluten König, Bauern und Fernfahrer blockieren Straßen und Autobahnen. Handwerker und Kleinunternehmer protestieren. Polizisten demonstrieren gegen die Regierung, das heißt, wenn es drauf ankommt, stehen sie auf der Seite des Protestes, nicht der Regierung, und diese verliert ihren Arm, Beschlüsse mit staatlicher Gewalt zu exekutieren. Bliebe nur die Frage, ob die Armee bereit oder in der Lage wäre, die Bauernproteste mit Panzern von den Autobahndreiecken zu walzen, wovor bisher jeder französische Präsident zurückschreckte. Die Steuererhöhungen aus dem neoliberalen Gebetsbuch hat Hollande bereits ausgesetzt.
Wenn in Frankreich das Volk aufstand, blieb es in Europa niemals so, wie es zuvor war, 1789 nicht, 1848 auch nicht. So kann es durchaus sein, dass der Protest gegen die Austeritätspolitik sich in Frankreich Bahn bricht. Gemeint ist nicht die große Revolution, mit Sturm auf die Bastille und Guillotinieren des Königs. Es reicht das argentinische Szenario, wie vor zwölf Jahren: Die Regierung tritt wegen der Massenproteste gegen die allgemeine Verarmung infolge von Finanzkrise und wirtschaftlichem Zusammenbruch zurück, die nächste, provisorische, und die übernächste auch. Dann kommt ein neuer Präsident. Der stellt zunächst sämtliche Schuldenzahlungen ein, unterbindet den Kapitalverkehr, friert die Preise für Energie ein und so weiter.
Wer sagt eigentlich, dass das in Europa nicht ginge? Dieser französische Präsident würde zunächst die EU-Verträge aussetzen, den Euro aufkündigen und alle Schuldenzahlungen einstellen. Das würde weder im Berliner Bundeskanzleramt noch in Brüssel entschieden, sondern in Frankreich auf den Straßen.
Eine solche Entwicklung aber würde zuallererst Deutschland treffen, das deutsche Exportmodell würde zusammenbrechen, und wir hätten die wirtschaftliche, soziale und politische Krise auch hier im Lande. Würde Merkel dann bleiben, oder hätten wir hier auch eine neue Lage? Das Dilemma der deutschen Vergangenheit war, dass die deutsche Sozialdemokratie die deutschen Arbeiter zusammenschießen ließ, als die Revolution auf der Tagesordnung stand, und die Kommunisten abenteuerliche Aufstände anzettelten, als sie nicht auf der Tagesordnung stand. Das ist Geschichte.
Und jetzt? Angesichts der drei Forderungen der SPD finden sich auch in der Linken gewiss Politiker, die sich – um bei Haffners Bild zu bleiben – gern als dressierte Hunde in der kapitalistischen Zirkusarena dafür beklatschen lassen möchten, dass sie über hingehaltene Stöckchen springen. Diesen Drang produziert die kapitalistische Gesellschaft immer wieder neu.
Wenn die Stunde kommt, bedarf es aber einer Partei, die nicht gezähmt ist. Wir wissen nicht, was kommt. Allerdings: In Griechenland, wo die Sozialdemokratie sich außerstande zeigte, die Austeritätspolitik, die von Brüssel und Berlin gewollt war, aufzugeben, erhielt sie bei den Parlamentswahlen im Juni 2012 12,3 Prozent, die Linke Syriza dagegen 26,9 Prozent. Bei der vorherigen Wahl 2009 hatten die Sozialdemokraten noch 43,9 Prozent und die demokratischen Linken 4,6 Prozent. Insofern gilt für die deutsche Linke: Die Frage nach Koalitionen stellt sich 2017. Und wer dann welche Bedingungen formuliert, ist noch nicht ausgemacht.