16. Jahrgang | Sonderausgabe | 18. November 2013

Kommunist sein

von Eric Hobsbawm

Ich bin kein Kommunist, aber man könnte einer werden,
wenn man den geistigen Zustand
der europäischen Bour­geoisie betrachtet.
Kurt Tucholsky

Er ist einer der wichtigsten Historiker unserer Zeit und seine Bücher werden auf der ganzen Welt gelesen. In seiner Autobiografie blickt Eric Hobsbawm nun auf sein Leben und sein persönliches 20. Jahrhundert zurück. Geboren in Ägypten, verbrachte er Kindheit und Jugend im von der Inflation gebeutelten Wien der zwanziger Jahre. Die Zeit der Weltwirtschaftskrise und die Radikalisierung des politischen Lebens er­lebte er als Primaner in Berlin, zwei entscheidende Jahre, die ihn zum lebenslangen Kommunisten gemacht haben, auch wenn sich seine Bin­dungen zur Partei seit 1956 sehr gelockert haben. Er studierte in Cam­bridge und wurde später Professor für Geschichte in London, war Gast­professor in den USA, Mexiko und Frankreich. Von 1984 bis 1989 war er Professor für Politik und Geschichte an der New School for Social Research in New York. Sein Interesse gilt vor allem den kulturellen Um­brüchen, die sich oft an verschiedenen Orten zugleich ereignen und die Geschichte tiefgreifender prägen können als Politik oder Kriege.
Deutscher Taschenbuch Verlag

Der „Fall eines lebenslangen, aber untypischen Kommunisten […]“.

Eric Hobsbawm
über sich selbst

Ich wurde 1932 Kommunist, auch wenn ich erst im Herbst 1936 in die KP eintrat, als ich nach Cambridge kam. In dieser Partei bin ich rund fünfzig Jahre geblieben. Die Antwort auf die Frage, warum ich so lange darin blieb, gehört sicherlich in eine Autobiographie, aber sie ist nicht von allgemeinem historischem Interesse. Dagegen gehört die Antwort auf die Frage, warum der Kommunismus so viele der Besten meiner Generation angezogen und was es für uns bedeutet hat, Kom­munisten zu sein, als ein zentrales Thema zur Geschichte des 20. Jahr­hunderts. Denn nichts ist für dieses Jahrhundert so charakteristisch wie das, was mein Freund Antonio Polito „einen der großen Dämonen des 20. Jahrhunderts“ genannt hat: „die politische Leidenschaft“. Und der reinste Ausdruck dafür war der Kommunismus.
Der Kommunismus ist heute tot. Die UdSSR und die meisten der Staaten und Gesellschaften, die nach ihrem Vorbild errichtet wurden, Kinder der Oktoberrevolution von 1917, die uns inspirierte, sind unter Zurücklassung einer materiellen und moralischen Trümmerlandschaft so vollkommen zusammengebrochen, daß es heute für alle offensicht­lich sein muß, daß das Scheitern dieses Projekts vorprogrammiert war. Dennoch waren die Errungenschaften derjenigen, die von der Überzeu­gung und mit ihr verbundenen Vorstellung erfüllt waren, daß „es keine Festungen [gebe], die von Bolschewiki nicht erobert werden können“, in der Tat außergewöhnlich. Innerhalb von kaum mehr als dreißig Jahren seit Lenins Ankunft am Finnländischen Bahnhof lebten ein Drittel aller Menschen und sämtliche Regierungen zwischen der Elbe und den Chinesischen Meeren unter der Herrschaft Kommunistischer Parteien. Die Sowjetunion selbst, Siegerin über die furchtbarste Kriegsmaschine des 20. Jahrhunderts, die das zaristische Rußland zermalmt hatte, ging aus dem Zweiten Weltkrieg als eine der beiden Supermächte der Welt hervor. Seit den (langsameren und weniger globalen) Eroberungen des Islams im 7. und 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung hatte es keinen vergleichbaren Triumph einer Weltanschauung gegeben.
Erreicht wurde dies durch kleine, häufig sogar – relativ oder absolut – winzige selbstgewählte „Avantgarden der Arbeiterklasse“, denn im Un­terschied zu den Arbeiterparteien, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkamen und ebenfalls überwiegend von den Ideen Karl Marx‘ inspi­riert und beflügelt wurden, war der Kommunismus nicht als Massenbe­wegung gedacht und wurde dies nur durch einen gleichsam historischen Zufall. In dieser Hinsicht stand er in einem Gegensatz zum klassischen Verständnis der marxistischen Sozialdemokratie und lehnte sie sogar ab. Diese erwartete von jedem, der sich den „Arbeitern“ zurechnete, daß er sich mit Parteien identifizierte, deren Wesen darin bestand, die Interes­senvertretungen der Arbeiter zu sein, wie dies beispielsweise bereits im Namen der Labour Party zum Ausdruck kam. In der Unterstützung der Arbeiterpartei sahen sie weniger eine individuell getroffene politi­sche Entscheidung als die Einsicht in die soziale Existenz des Betref­fenden, die zwangsläufig bestimmte öffentliche Konsequenzen hatte. Umgekehrt waren selbst ihre am wenigsten politischen Aktivitäten von dem Gefühl dessen erfüllt, was die soziale Existenz eines Individuums definierte, so daß die Vereine, die sich in den Hinterzimmern von Lo­kalen im „Roten Wien“ trafen – ich habe solche Schilder noch in den siebziger Jahren dort gesehen –, ihren Hobbys beispielsweise nicht als Briefmarkensammler nachgingen, sondern als Arbeiterphilatelisten oder als Arbeitertaubenzüchter. […]
Die Kommunistischen Parteien während der Zeit der Komintern waren von einer völlig anderen Art, auch wenn sie – zum Teil zutref­fend – behaupteten, ihre Wurzeln in der Arbeiterklasse zu haben und deren Interessen und Ziele zu verfolgen. Sie waren die „Berufsrevolu­tionäre“ Lenins, mit anderen Worten eine zwangsläufig relativ oder absolut kleine ausgewählte Gruppe. Der Eintritt in eine solche Organi­sation war im wesentlichen eine individuelle Entscheidung und wurde sowohl von denen, die einen „Kontakt“ aufforderten, der Partei beizu­treten, als auch von denen, die Mitglied wurden, als einschneidende Änderung in ihrem Leben angesehen. Es war eine doppelte Entschei­dung, denn der Verbleib in der Partei (zumindest außerhalb der Länder unter einer kommunistischen Regierung) war mit der stets von neuem getroffenen Entscheidung verbunden, nicht mehr auszutreten, was ein­fach und jederzeit möglich gewesen wäre. Für die meisten, die in die Partei eintraten, war die Mitgliedschaft eine vorübergehende Episode in ihrem politischen Leben. […]
Die Mitgliedschaft in diesen leninistischen Parteien war […] eine zutiefst persönliche und keine abstrakte Entscheidung. Die meisten Kommunisten der Zwischenkriegszeit waren vor ihrem Eintritt in die Partei bereits „links“ oder – wenn sie aus entsprechenden Ländern außerhalb Europas kamen – „antiimperialistisch“. Es war natürlich ein­facher für jemanden, der aus dem passenden politisch homogenen Milieu stammte – beispielsweise aus New York, von wo mir noch der Satz eines Mitarbeiters des New Yorker im Ohr klingt, „man trifft hier wirk­lich keinen einzigen Republikaner“, und nicht etwa aus Dallas in Texas. Es war sogar einfacher für diejenigen, die aus Gemeinschaften kamen, im allgemeinen am Rand der Gesamtgesellschaft, die aufgrund ihrer Lage außerhalb des nationalen politischen Konsenses standen. Doch so groß die Zahl ehemaliger Kommunisten meiner Generation andererseits ist, so selten trifft man unter ihnen jemanden, der später ganz ins rechte politische Lager umgeschwenkt wäre. Der weitere Weg der politisch desillusionierten Kommunisten führte in der Regel zu einer anderen Gruppierung der politischen Linken (wenn sie noch jung genug waren) oder, zumeist in Etappen, zum militanten antikommuni­stischen Liberalismus des Kalten Kriegs. […]
Das sieht man besonders deutlich an den Intellektuellen, denn die vorherrschenden Konventionen des rationalen Denkens über die Ge­sellschaft sind in der rationalistischen europäischen Aufklärung des 18.Jahrhunderts verankert. Wie die politische Rechte seit jeher be­klagt, hat dies zu einer Neigung der Intellektuellen geführt, sich für Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einzusetzen. Selbst für meinen Freund Isaiah Berlin mit seiner instinktiven Bindung an eine absolute, unverlierbare jüdische Identität, die ihn dazu bewog, die Kritiker der Aufklärung zu verteidigen oder zumindest zu verstehen, war es unmöglich, sich nicht wie ein Liberaler der Aufklärung zu ver­halten. Außerhalb Deutschlands gab es kaum eine säkulare intellektu­elle Tradition, die der Rechten gepaßt hätte. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zog die Linke deutlich mehr Intellektuelle an als die Rechte. Selbst in den wichtigsten schöpferischen Künsten, wo ratio­nales Denken eine geringere Rolle spielt, dominierte der Antifaschis­mus. Das letzte Wort in dieser Sache ist in bewundernswerter Kürze von „Simon Leys“ gesagt worden, Pseudonym eines hervorragenden belgi­schen Sinologen, der wie kein anderer die Mythen des Maoismus de­konstruiert hat: „Wir alle in der intellektuellen Welt kennen Menschen, die Kommunisten waren und ihre Meinung geändert haben. Wie viele von uns haben einen Exfaschisten getroffen?“ Wie auch immer, ob sie ihre Meinung nach dem Krieg geändert haben oder nicht, es waren ein­fach nicht so viele.
Das bedeutet nicht, daß der Kommunismus einen oder mehrere Per­sönlichkeitstypen angezogen hätte, die für Extremismus, Autoritarismus und andere „undemokratische“ Denkhaltungen anfällig gewesen wären, auch wenn dies während der Phase des Kalten Kriegs von Au­toren behauptet wurde, die darauf aus waren, Ähnlichkeiten zwischen Kommunismus und Faschismus nachzuweisen; eine derartige politisch motivierte Sozialpsychologie braucht uns hier nicht zu interessieren. Der liberale Glaube an eine Wesensverwandtschaft zwischen den „Extremismen“ von links und von rechts, die es leicht gemacht habe, vom einen zum anderen zu wechseln, ruht jedenfalls auf einem sehr schma­len Fundament. […] Der Kommunismus war somit keine Methode, die „extremistischen“ von den „nichtextremistischen“ Persönlichkeiten zu scheiden, auch wenn die beiden Extreme des politischen Spektrums bisweilen die­selbe Klientel anziehen mochten, das heißt im allgemeinen jugendliche Personen, die eine natürliche Vorliebe für abenteuerliche Unternehmungen oder politische Gewalt haben, jene Art von Menschen, die sich vom Terrorismus oder von direkten Aktionen angezogen fühlen. Möglicherweise zog es Rambotypen mit dem Aufkommen von De­monstrationen mit gewaltbereiten Gruppen und kleinen bewaffneten Kommandos in den Nachwehen der Studentenrevolte von 1968 mit ihrer Rhetorik der „Straßenkämpfer“ mehr zur extremen Linken. Trotz­dem ist ein Leben, das der Revolution gewidmet wird, nicht dasselbe wie ein Leben, das seine spannenden Seiten aus irregulärer Kriegs­führung oder Abenteuern bezieht.
Angesichts der Tradition und Bedeutung von Untergrundaktivitäten in den Kommunistischen Parteien, die mit ganz seltenen Ausnahmen! (wie England) zumindest während eines Teils ihrer Geschichte verbo­ten waren, gab es offensichtlich Raum für ein abenteuerliches Leben in der internationalen kommunistischen Bewegung meiner Zeit, doch der Bolschewismus, dessen Motto eher skrupellose Effizienz als Romantik war, hielt wenig von Banküberfällen und Kommandounternehmen. Er erfand die Vorrangstellung des „politischen Kommissars“ (das heißt des Zivilisten), da er den Impulsen des Soldaten mißtraute. In seiner Theorie stand er dem Terrorismus ablehnend gegenüber. Lenins Reak­tion auf solche Gesten war überaus typisch. Er konnte nicht verstehen, warum 1916 der Sozialdemokrat Friedrich Adler aus Protest gegen den Ersten Weltkrieg öffentlich den Ministerpräsidenten des Habsburger­reiches erschossen hatte. Wäre es für ihn als Parteisekretär nicht wir­kungsvoller gewesen, wenn er die einzelnen Ortsgruppen zu einem Streik aufgerufen hätte?
Ich habe etliche Kommunisten gekannt, deren Laufbahn die Autoren von Politthrillern interessiert hätte und in manchen Fällen auch hat, doch alles in allem ging es ihnen bei ihren illegalen Aktivitäten nicht um ein Piratenleben oder eine Selbstinszenierung. Um das zu verdeut­lichen, möchte ich den Charakter von Alexander Rado, dem Mann an der Spitze des überaus wichtigen sowjetischen Spionagenetzes in der Schweiz während des Krieges und dem einzigen Meisterspion, mit dem ich ein etwas bizarres Weihnachtsfest in Budapest verbrachte, mit dem seines Funkers Alexander Foote vergleichen, anscheinend ein britischer Doppelagent, wie er in der Literatur geschildert wird. Foote „war kein Geheimagent aus primär weltanschaulichen, finanziellen oder patrioti­schen Gründen geworden. Er verdiente sehr wenig Geld mit Spionage, abstrakte politische Ideen langweilten ihn, und MI5 betrachtete ihn nicht als Patrioten, als er schließlich nach England zurückkehrte. Aber er war der geborene Abenteurer…“ Rado sah nicht aus wie ein Mann, den es nach Taten dürstete, sondern wie ein gemütlicher Geschäftsmann in mittleren Jahren, dessen natürlicher Aufenthaltsort in seiner Freizeit ein mitteleuropäisches Kaffeehaus war. Als ich ihn 1960 kennenlernte – er war nach mehrjähriger Haft in den Lagern Stalins auf einen Lehrstuhl an der Karl-Marx-Universität in Budapest zurückge­kehrt – war er das, was er immer sein wollte, ein Geograph und Karto­graph. Er hatte sein gesamtes politisches Leben seit 1918 innerhalb und außerhalb von geheimen oder verdeckten Tätigkeiten verbracht und war immer wieder zu diesem Beruf zurückgekehrt. Weder das Kämp­fen – er war der Organisator der bewaffneten Arbeiterbrigaden, die an der Spitze der (fehlgeschlagenen) deutschen Revolution von 1923 ste­hen sollten – noch die Führung von Spionageringen brachten ihn da­von ab. Zweifellos genoß er auch den Nervenkitzel eines solchen Le­bens, aber ich hatte von ihm nicht den Eindruck eines Mannes, der es genau aus diesem Grund gewählt hatte. Er tat das, was getan werden mußte. „Als wir jung waren“, meinte er, „sagte Rakosi [der frühere un­garische kommunistische Führer und Diktator und zum Zeitpunkt dieses Gesprächs im Exil in der UdSSR] des öfteren zu mir: ,Sandor, warum willst du kein Berufsrevolutionär werden?‘ Und jetzt sieh ihn an und sieh mich an. Es war gut, daß ich einen ordentlichen Beruf hatte und ihn nie aufgegeben habe.“ Kommunistische Parteien waren für romantische Vorstellungen nicht zu haben.
Dagegen hielten sie viel von Organisation und bürokratischer Rou­tine. Das war der Grund, warum Kommunistische Parteien von weni­gen tausend Mitgliedern – wie die vietnamesische KP am Ende des Zweiten Weltkriegs – unter bestimmten Umständen einen Staat er­richten konnten. Das Geheimnis der leninistischen Partei lag nicht in den Träumen vom Erstürmen von Barrikaden oder gar in der marxisti­schen Theorie. Es läßt sich in wenigen Worten zusammenfassen: „Ent­scheidungen müssen ausgeführt werden“ und „Parteidisziplin“. Was Leute zur Partei zog, war, daß sie mehr schaffte als die anderen. Das Le­ben in der Partei war fast instinktiv antirhetorisch, was möglicherwiese zu jener Kultur endloser und fast mutwillig langweilender und – ge­druckt in Form der Parteipublikationen – erstaunlich unlesbarer „Be­richte“ beitrug, die von den KPs außerhalb der Sowjetunion von der KPdSU übernommen wurden. […]
Die leninistische Partei als „Vorhut der Arbeiterklasse“ war eine Ver­bindung aus Disziplin, organisatorischer Effizienz, einer extremen emotionalen Identifikation und einem Gefühl der totalen Hingabe. […]
Damals hätte es niemanden von uns gewundert, daß die letzten Worte eines sterbenden Parteimit­glieds der Partei, Stalin und den Genossen galten. (In jenen Tagen war der Gedanke an Stalin unter Kommunisten außerhalb der Sowjetunion ebenso aufrichtig, natürlich, unbefleckt von irgendwelchen Kenntnissen und universell wie die aufrichtige Trauer, die von den meisten von uns 1953 beim Tod eines Mannes empfunden wurde, bei dem kein sowjeti­scher Bürger den Wunsch verspürt hätte, ihn mit einem Kosenamen zu belegen – getan hätte es ohnedies keiner –, wie „Uncle Joe“ in England oder „baffone“ [„Schnauzbart“] in Italien). Unser Leben drehte sich um die Partei. Wir gaben ihr alles, was wir hatten. Dafür bekamen wir von ihr die Gewißheit unseres Siegs und das Erlebnis der Brüderlichkeit.
„Die Partei“ hatte den höchsten oder genauer gesagt den einzigen wirklichen Anspruch auf unser Leben. Ihre Forderungen hatten den absoluten Vorrang. Wir akzeptierten ihre Disziplin und ihre Hierar­chie. Wir akzeptierten die absolute Verpflichtung, der „Linie“ zu fol­gen, die von ihr vorgegeben wurde, selbst wenn wir anderer Meinung waren, auch wenn wir heroische Anstrengungen unternahmen, uns ihre geistige und politische „Korrektheit“ einzureden, um „sie zu ver­teidigen“, wie man es von uns erwartete. Denn im Unterschied zum Faschismus, der eine automatische Selbstverleugnung und Unterwer­fung unter den Willen des Führers („Mussolini hat immer recht“) und den unbedingten Gehorsam gegenüber militärischen Befehlen for­derte, stützte die Partei – selbst auf dem Höhepunkt von Stalins Abso­lutismus – ihre Autorität zumindest der Theorie nach auf die Überzeugungskraft der Vernunft und des „wissenschaftlichen Sozialismus“. Schließlich sollte sich die Linie aus einer „marxistischen Analyse der Lage“ ergeben, und jeder Kommunist sollte im Lauf der Zeit die Me­thode dazu lernen. „Die Linie“ mochte noch so sehr vorgegeben und unveränderlich sein, sie mußte im Rahmen einer solchen Analyse be­gründet und, sofern die Umstände dies nicht physisch unmöglich machten, auf allen Ebenen der Partei „diskutiert“ und gebilligt werden. In Kommunistischen Parteien, die nicht an der Macht waren und in de­nen die Mitglieder nicht zu eingeschüchtert waren, um die alte linke Tradition ideologischer Auseinandersetzungen zu pflegen, mußte die Führung ihr Plädoyer für die offizielle Linie so lange wiederholen, bis kein Raum mehr für Zweifel darüber war, welches Votum von uns er­wartet wurde. (Der parteiinterne Begriff für diesen Prozeß lautete „ge­duldiges Erklären“.) Sobald abgestimmt war, erforderte der „demokrati­sche Zentralismus“, daß an die Stelle von Debatten einmütiges Handeln trat.
Wir taten das, was „sie“ befahl. […] Wie ich nach dem Krieg von einem ehemaligen Häftling erfuhr, wurden Parteibeiträge in Auschwitz in der unvorstell­bar wertvollen Zigarettenwährung bezahlt, und es besagt einiges über die Fähigkeit der Partei zu kollektivem Widerstand, daß die Beiträge auch aufgebracht wurden.
Ein ernsthaftes Verhältnis mit jemandem zu unterhalten, der nicht in der Partei oder zum Eintritt (oder Wiedereintritt) bereit war, wäre un­denkbar gewesen. Da die Parteimitglieder allerdings in der Regel auch in ihrer Einstellung zur Sexualität emanzipiert waren, darf man anneh­men, daß nicht alle militanten Genossen jeden apolitischen Sex mie­den, doch selbst für den Kominternagenten in Brechts wunderbarem Gedicht „An die Nachgeborenen“ waren seine gelegentlichen Verbin­dungen („der Liebe pflegte ich achtlos“) nur ein weiterer Beweis, daß die Parteiarbeit vor allem Privaten den Vorrang hatte. Ich gestehe, daß ich in dem Augenblick, in dem mir klar wurde, daß ich mir eine wirk­liche Beziehung auch mit jemandem vorstellen konnte, der nicht ein­mal ein potentieller Kandidat für die Partei war, zugleich erkannte, daß ich kein Kommunist im vollen Sinne meiner Jugend mehr war.
Es ist leicht, in der Rückschau zu schildern, wie wir vor einem hal­ben Jahrhundert als Parteimitglieder empfanden, aber wesentlich schwerer zu erklären. Ich kann die Person, die ich damals war, nicht neu erschaffen. Die Landschaft jener Zeit liegt unter den Trümmern der Weltgeschichte verschüttet. Selbst das Bild – wenn es denn eines gab – der wunderbaren Hoffnungen, die wir für das menschliche Le­ben hegten, wird durch die Vielfalt von Gütern, Dienstleistungen, Le­benschancen und persönlichen Wahlmöglichkeiten überlagert, die heute der Mehrheit der Männer und Frauen in den unglaublich wohl­habenden und technisch fortgeschrittenen Ländern der Welt zur Ver­fügung stehen. Marx und Engels haben es klugerweise unterlassen zu beschreiben, wie die kommunistische Gesellschaft aussehen würde. Doch das meiste von dem wenigen, was sie über das Leben des einzel­nen in dieser Gesellschaft gesagt haben, erscheint heute – ohne ein Dazutun des Kommunismus – als das Ergebnis jener gesellschaftlichen Pro­duktion einer potentiell fast grenzenlosen Fülle und jenes erstaunlichen technischen Fortschritts, die von ihnen in einer unbestimmten Zukunft erwartet wurden, heute jedoch als eine Selbstverständlichkeit gelten.
Statt in meinen achtziger Jahren zu rekonstruieren, was uns zu Kom­munisten gemacht hat, möchte ich aus einem Text zitieren, den ich unmittelbar nach der Krise von 1956 geschrieben habe, als ich den Überzeugungen meiner Jugend noch näher war. Ich schrieb von einem „Utopismus“ oder „Impossibilismus“, der „selbst den modernsten [Re­volutionären] einen fast physischen Schmerz bei dem Gedanken verur­sacht, daß die Heraufkunft des Sozialismus nicht allen Gram und Kum­mer, unglückliche Liebesgeschichten und Todestrauer beseitigen wird und nicht alle Probleme wird lösen können oder lösbar machen“. Ich stellte fest, daß „revolutionäre Bewegungen und Revolutionen zu be­weisen scheinen, daß es fast keine Änderung gibt, die für sie unerreich­bar wäre“.

„Freiheit, Gleichheit und vor allem Brüderlichkeit mögen in diesen Momenten der großen sozialen Revolution Wirklichkeit werden, Momente, die Revolutionäre, die sie durchlebt haben, in einer Spra­che beschreiben, die sonst nur romantischer Liebe vorbehalten ist… Revolutionäre stellen an sich selbst nicht nur höhere moralische An­forderungen als irgendwer sonst außer den Heiligen, sondern setzen sie auch wirklich in solchen Momenten in die Tat um … In solchen Zeiten repräsentieren sie eine Miniaturversion der Idealgesellschaft, in der alle Menschen Brüder sind und alles für die Allgemeinheit op­fern, ohne doch ihre Individualität aufzugeben. Wenn dies innerhalb ihrer Bewegung möglich ist, warum dann nicht überall?“

Zu dieser Zeit hatte ich mit Milovan Djilas, der sehr treffend über die Psychologie von Revolutionären geschrieben hat, erkannt, daß dies „die Moral einer Sekte“ ist, doch es war genau das, was ihnen als An­trieb des politischen Wandels eine solche Kraft verlieh.
Es gehörte nicht viel dazu, in Europa während der beiden Welt­kriege und dazwischen zu dem Schluß zu kommen, nur eine Revolu­tion könne der Welt eine Zukunft geben. Die alte Welt war in jedem Fall zum Untergang verurteilt. Es gab jedoch drei Elemente, die den kommunistischen Utopismus von anderen Zukunftsvisionen unter­schieden. Erstens den Marxismus, der mit den Methoden der Wissen­schaft die Gewißheit unseres Sieges bewies, eine Vorhersage, die durch den Sieg der proletarischen Revolution auf mehr als einem Sechstel der Erdoberfläche und das weitere Vordringen der Revolution in den vier­ziger Jahren bestätigt worden war. Marx hatte dargelegt, warum ihr Eintreten in der bisherigen Geschichte der Menschheit unmöglich war und warum sie sich erst jetzt ereignen konnte und ereignen mußte, was sie ja tatsächlich getan hatte. Heute sind die Fundamente dieser Ge­wißheit zu wissen, welchen Verlauf die Geschichte nehmen werde, zerstört, insbesondere die Überzeugung, die industrielle Arbeiterklasse werde die Trägerin der Veränderung sein. Im „Katastrophenzeitalter“ wirkten sie noch fest und sicher.
Zweitens gab es den Internationalismus. Unsere Bewegung war eine Bewegung für die ganze Menschheit und nicht für eine bevorzugte Gruppe. Sie vertrat das Ideal einer Überwindung der – individuellen wie kollektiven – Selbstsucht. Immer wieder bekehrten sich junge Ju­den, die als Zionisten angefangen hatten, zum Kommunismus, weil die Leiden der Juden, so offensichtlich sie waren, nur einen Teil der allge­meinen Unterdrückung darstellten. Julius Braunthal schrieb über seine Konversion zum Sozialismus in Wien zu Beginn des Jahrhunderts: „Es war mir leid um die zionistischen Freunde, die ich verlassen hatte. Doch hoffte ich, sie eines Tages überzeugen zu können, daß die ,kleinere Sache‘ vor der großen zurückstehen muß.“ […]
In der Praxis waren nationale oder andere kollektive oder historische Identitäten weit ausschlaggebender, als wir geglaubt hätten. Überhaupt übte der Kommunismus wahrscheinlich seinen größten Einfluß außer­halb Europas aus, wo er im Kampf gegen nationale oder imperiale Un­terdrückung keinen ernstzunehmenden Rivalen hatte. Ho Chi Minh, der Befreier Vietnams, wählte als seinen Decknamen in der Komintern „Nguyen der Patriot“. Chin Peng, der den kommunistischen Aufstand und die Dschungelguerillas in Malaya anführte, allerdings mit weniger Erfolg, begann als jugendlicher Patriot, der sich erst dann dem Kommunismus zuwandte, als er die Hoffnung auf die Fähigkeit der Guomindang aufgegeben hatte, China zu befreien. Er hat es mir selbst ge­sagt, ein älterer chinesischer Herr mit intellektuellen Interessen, der überhaupt nicht aussah, wie man sich einen früheren Guerillaführer vorstellte, in der unwahrscheinlichen Umgebung des Kaffeesaals im Londoner Athenaeum Club. Und dennoch, selbst für diejenigen, die anfangs nur begrenzte Ziele verfolgten, selbst für diejenigen, die ihre größeren Hoffnungen fahrenließen, als er die bescheideneren ent­täuschte, wie die vielen kommunistischen Juden, die unter dem Ein­druck von Stalins antisemitischen Kampagnen die Partei verließen, vertrat der Kommunismus das Ideal einer Überwindung des Egoismus und eines Dienstes an der gesamten Menschheit ohne Ausnahme.
Doch es gab noch ein drittes Element in den revolutionären Über­zeugungen der Parteikommunisten. Was sie auf der Straße zum Mille­nium erwartete, war Tragik. Im Zweiten Weltkrieg war der Kommu­nismus in den meisten Widerstandsbewegungen überrepräsentiert, aber nicht, weil sie einfach tüchtig und mutig, sondern weil sie von Anfang an zum Schlimmsten bereit waren: zur Spionage, Untergrund­arbeit, zu Verhören und zu bewaffneten Aktionen. Lenins Partei als Vorhut der Arbeiterklasse wurde in der Verfolgung geboren, die Rus­sische Revolution im Krieg, die Sowjetunion im Bürgerkrieg und in der Hungersnot. Bis zur Revolution konnten die Kommunisten keine Belohnungen von ihren Gesellschaften erwarten. Was die Berufsrevo­lutionäre erwarten konnten, waren Haft, Verbannung und sehr oft der Tod. Anders als bei den Anarchisten, der IRA oder islamistischen Be­wegungen mit Selbstmordattentätern, machte die Komintern kaum einen Kult aus individuellen Märtyrern, auch wenn die KP Frank­reichs nach der Befreiung die Anziehungskraft der Tatsache zu schät­zen wußte, daß sie während der Resistance „leparti des jusilles“ (die Par­tei der Hingerichteten) gewesen war. Kommunisten waren zweifellos für fast jede Regierung der Feind schlechthin, selbst für die relativ we­nigen, die ihre Parteien offiziell zuließen, und wir wurden beständig an die Behandlung erinnert, auf die sie in Gefängnissen und Konzen­trationslagern gefaßt sein mußten. Dennoch sahen wir uns weniger als Dulder oder potentielle Gefallene denn als Kämpfer in einem allge­genwärtigen Krieg. Wie Brecht in den dreißiger Jahren in seiner großartigen Elegie auf die Berufsrevolutionäre der Komintern, „An die Nachgeborenen“, schrieb:

„Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
Schlafen legte ich mich unter die Mörder.“

Härte ist die Eigenschaft des Soldaten, und sie durchzog selbst unseren politischen Jargon („kompromißlos“, „unbeugsam“, „stahlhart“, „mo­nolithisch“). Härte bis hin zur Unbarmherzigkeit, tun, was getan wer­den mußte, vor, während und nach der Revolution, war das Wesen des Bolschewiken. Es war die notwendige Antwort auf die Zeiten. Lesen wir weiter bei Brecht:

„Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.“

Doch die eigentliche Aussage in dem Gedicht Brechts, das die Kom­munisten meiner Generation anspricht wie kein anderes, bestand darin, daß die Härte den Revolutionären aufgezwungen wurde.

„Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.“

Natürlich hatten wir keine Vorstellung und konnten sie unmöglich ha­ben allein vom reinen Ausmaß dessen, was den Sowjetvölkern unter Stalin zu der Zeit aufgezwungen wurde, als wir uns mit ihm und der Komintern identifizierten, und wir wollten auch den wenigen nicht glauben, die uns erzählten, was sie wußten oder argwöhnten. Nie­mand konnte sich das Ausmaß des menschlichen Leidens im Zweiten Weltkrieg vorstellen, bis es sich ereignete. Es wäre jedoch ein Ana­chronismus anzunehmen, daß nur eine echte oder gewollte Ignoranz uns daran gehindert hätte, die Unmenschlichkeiten anzuprangern, die auf unserer Seite begangen wurden. Jedenfalls waren wir keine Libera­len. Der Liberalismus war gescheitert. In dem totalen Krieg, in dem wir uns befanden, fragte man sich nicht, ob es eine Grenze für die Op­fer geben müsse, die anderen oder uns selbst abverlangt wurden. Da wir nicht an der Macht waren und auch nicht kurz davor standen, rechneten wir eher damit, Gefangene zu sein als Gefängniswärter.
Es gab Kommunistische Parteien und Parteifunktionäre wie Andre Marty in Hemingways Wem die Stunde schlägt, die stolz auf ihren not­wendigen stahlharten Bolschewismus waren, nicht zuletzt die sowjet­kommunistische Partei, in der der Stolz sich mit der absolutistischen Tradition der unbeschränkten Macht und der Grausamkeit der alltäglichen russischen Existenz verband, um die Hekatomben der Stalinzeit hervorzubringen. Die KP Großbritanniens gehörte nicht dazu, doch die Pathologie der Partei zeigte sich hier in masochistischeren und friedlicheren Formen.
Hierfür ein Beispiel: der verstorbene Andrew Rothstein (1898-1994). Rothstein war ein ziemlich langweiliger Klein­bürger mit einem rundlichen Gesicht, der alles verteidigte, was in der Sowjetunion verteidigt werden mußte […] Ich hatte […] den Eindruck, daß für ihn und andere seinesgleichen die Probe auf seine Hingabe an die Sache in der Bereitschaft bestand, etwas zu verteidigen, was nicht zu verteidigen war. Es war nicht das christliche „Credo quia absurdum“ (ich glaube, weil es absurd ist), sondern vielmehr die fortwährende Herausforderung: „Stellt mich nur weiter auf die Probe, als Bolschewik habe ich keine Zerreißgrenze.“ Als die britische KP 1991 nicht mehr weiterbestand, wurde er mit 93 Jahren das erste Mitglied der winzigen orthodoxen CP of Britain, die ihre Nachfolge antrat.
Zwar bezweifle ich, daß irgendein Kommunist meiner Generation sich veranlaßt gesehen hätte, aufgrund des politischen Lebenswegs von Andrew Rothstein in die Partei einzutreten oder nie mehr auszutreten. Trotzdem hatten wir unsere Helden und Vorbilder – Georgi Dimitroff, der beim Reichstagsbrandprozeß von 1933 allein dastand, Hermann Göring die Stirn bot und den guten Namen des Kommunismus vertei­digte und nebenbei auch den der kleinen, aber stolzen bulgarischen Nation, der er angehörte. Wenn ich 1956 nicht aus der Partei austrat, dann hing das nicht zuletzt damit zusammen, daß die Bewegung solche Männer und Frauen hervorgebracht hatte.

II

Bislang habe ich über Kommunisten außerhalb der Macht geschrieben. Wie verhielt es sich mit den Parteimitgliedern, die ich gekannt habe und die vor der gänzlich anderen Situation in kommunistischen Regi­mes standen, wo die Parteizugehörigkeit keine Verfolgungen, sondern Privilegien mit sich brachte? Sie waren nicht ausgegrenzt, sondern gehörten dazu, waren nicht in der Opposition, sondern an der Regie­rung, häufig in Ländern, deren Einwohner ihnen zum größten Teil feindselig gegenüberstanden. Die Polizei war nicht ihr Feind, sondern ihr Werkzeug. Und für sie war eine grandiose Zukunft nach der Revo­lution kein Traum geblieben, sondern Wirklichkeit geworden.
Sie genossen nicht den Vorteil, der unsere Kampfmoral aufrechter­hielt, Feinde zu haben, gegen die man mit Überzeugung und einem reinen Gewissen kämpfen konnte: Kapitalismus, Imperialismus, nu­kleare Vernichtung. Im Gegensatz zu uns konnten sie sich der Verant­wortung für das, was im Namen des Kommunismus in ihren Ländern geschah, auch das Unrecht, nicht entziehen. Das war es, was Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag 1956 für sie besonders trauma­tisch gemacht hat. „Wenn zur Begründung für Gewalttaten nicht mehr die ,historische Gesetzmäßigkeit‘ herangezogen wurde, sondern Stalin persönlich die Schuld trug, wie sah es dann mit unserer eigenen Ver­antwortung aus?“ schrieb ein exilierter tschechischer Reformkommunist, den ich persönlich kannte. In den fünfziger Jahren hatte er im Dienst der tschechoslowakischen Staatsanwaltschaft gestanden.
Im Verlauf meines Lebens gab es drei Generationen von solchen Kommunisten, die diese Schwelle zur Macht überschritten hatten: die prästalinistischen „Altbolschewiki“, von denen nur wenige und keiner von denen, die ich gekannt hatte, die dreißiger Jahre überlebten; die­jenigen, die die große Veränderung herbeigeführt oder erlebt hatten – die Zwischenkriegs- und Widerstandsgenerationen von Kommuni­sten; und schließlich jene, die unter den Regimes aufwuchsen, die 1989 zusammenbrachen. Zu den Kommunisten der letztgenannten Ge­neration gibt es nichts zu sagen. Zu der Zeit, als sie zur mittlerweile etablierten staatlichen Elite stießen, kannten sie die Spielregeln, unter denen die Bevölkerung ihrer Länder lebte. Auch über die Sowjetunion kann ich nichts sagen. Ich kenne nur einen einzigen Angehörigen der Sowjetgeneration persönlich, der nicht einmal Russe war, sondern ein ausländischer Kommunist der zweiten Generation, der in der Sowjetunion aufwuchs, bevor er in sein eigenes Land zurückkehrte, den verstorbenen Tibor Szamuely aus Ungarn.
Er war ein sehr intelligenter, untersetzter, häßlicher und geistreicher Historiker, der Neffe einer der herausragendsten Persönlichkeiten in der ungarischen Sowjetrepublik von 1919, der in der Sowjetunion auf­gewachsen war, wo sein Vater hingerichtet und seine Mutter deportiert wurde. Er selbst, nachdem er während der Belagerung Leningrads fast Hungers gestorben wäre, behauptete, die übliche Zeitspanne während der letzten Verrücktheit des Diktators in einem Lager verbracht zu ha­ben. Nach Stalins Tod kehrte er nach Ungarn zurück, zynisch, doch of­fiziell Kommunist und Parteisekretär an der historischen Fakultät der Universität, wo er eine extrem harte Linie verfolgte. Trotzdem wurden keine Studenten oder Kollegen ausgeschlossen oder gemaßregelt. Als ich ihn jedoch um das Jahr 1959 in London traf, bemühte er sich sofort um Kontakte zu den schärfsten Antikommunisten. Gleich so vielen mitteleuropäischen Juden war er ein begeisterter Anglophiler. Mög­licherweise traf er damals bereits Vorbereitungen, als Freiheitsdurstiger vorzeitig von Bord zu gehen, was er einige Jahre später dann tat. Er wur­de zu einem antikommunistischen Publizisten für Veröffentlichungen der Konservativen und ein enger Freund des Schriftstellers und Trin­kers Kingsley Amis, ebenso reaktionär, komischer, aber beträchtlich weniger intelligent. Trotz meiner Ansichten, die für ihn Illusionen ge­wesen sein müssen, fanden wir uns sympathisch und kamen sehr gut miteinander aus. Durch ihn kam ich zum ersten Mal 1960 nach Un­garn, auch wenn er als Honoratiore – damals war er wohl Vizerektor der Universität – nicht sehr glücklich darüber war, daß ich darauf be­stand, den großen marxistischen Philosophen Georg Lukacs zu besu­chen, dem die Russen vor kurzem erlaubt hatten, nach Budapest zurückzukehren. Lukacs war nach der Revolution von 1956 verhaftet und in die Verbannung geschickt worden und saß jetzt wieder in seiner Wohnung hoch über der Donau wie ein antiker Hoherpriester in Zivil und rauchte Havannas. Das war die Wohnung Szamuelys, wo ich das denkwürdige Weihnachtsessen mit dem Meisterspion einnahm. Und es war unsere Wohnung in Bloomsbury, wohin es ihn mit Frau und Kindern gleich nach ihrer Ankunft am Flughafen zog, als er es schließ­lich (durch eine Versetzung nach Ghana) geschafft hatte, mit der ganzen Familie dem Sozialismus für immer zu entrinnen.
Es waren nicht die Schrecken des Sozialismus, was ihn schließlich vertrieben hatte, sondern ein Übermaß an Zynismus. Denn obwohl er in England als Opfer der sowjetischen Unterdrückung aufgenommen wurde, hatte er sich tatsächlich am Aufstand von 1956 nicht beteiligt. Nach dessen Niederlage war er sogar für die Wiedereinsetzung der Parteiorganisation an der Universität verantwortlich. Hierdurch erfuhr seine Karriere in den unmittelbar folgenden Jahren einen kräftigen Aufschwung. Zu seinem Unglück nahmen im Lauf dieser Jahre unter dem wohlwollenden Auge der Regierung Kadar die Sympathisanten der Bewegung von 1956, sprich die Mehrzahl der kommunistischen Intellektuellen, in aller Stille ihre alten Positionen wieder ein. Die Kar­riere des Kollaborateurs, der nach 1956 so schnell nach oben gekom­men war, bekam einen Knick nach unten. Aber natürlich hegte er für die Illusionen von 1956 nicht weniger Verachtung als für das Sowjetre­gime. In einem weiteren Schritt weg von der Parteiwelt meiner Jugend widerstand ich in den folgenden Jahren der Versuchung, öffentlich et­was über das Verhalten des großen Freiheitsliebenden im Herbst 1956 zu sagen. Es war mehr als das Widerstreben, einen Erfolg zu verbu­chen, der letztlich bestenfalls ein Punktgewinn in einer kurzlebigen politischen Debatte gewesen wäre, erkauft um den Preis, einen per­sönlichen Freund in Verlegenheit gebracht zu haben. Marlene und ich gelangten zu dem Schluß, daß es hier um eine grundsätzliche Frage ging: Es gibt Zeiten, in denen zwischen persönlichen Beziehungen und politischen Auffassungen eine Linie gezogen werden muß. Doch obwohl wir gut miteinander konnten und trotz seines Charmes und Witzes, mit der Zeit entfremdeten wir uns voneinander. Vielleicht las­sen sich privates und öffentliches Leben doch nicht so einfach vonein­ander trennen.
Tschechische, ostdeutsche und ungarische Hochschullehrer waren die KP-Mitglieder im Sowjetblock, die ich am häufigsten traf. Von den bedeutenden politischen Persönlichkeiten der Regimes kam ich nur mit einem oder zweien sehr kurz zusammen, vor allem Andras Hegedüs, dem letzten ungarischen Ministerpräsidenten unter Rakosi, der sich nach 1956 als Soziologieprofessor selbst wieder einschleuste, reiste, Dissidenten protegierte, aber wenig sagte, auch wenn er durchblicken ließ, daß die Qualität der Parteiführung nach seiner Zeit nachgelassen hatte. Keiner meiner Freunde war eine Parteigröße, und Ivan Berend, dem in seinem ungarischen Heimatland das Amt des Bildungs- und Erziehungsministers angeboten wurde, schlug die Offerte aus. Er war und ist ein hervorragender Historiker, Präsident der ungarischen Aka­demie der Wissenschaften unter dem Kommunismus, dessen Verdien­ste nach 1989 mit seiner Wahl zum Präsidenten des Internationalen Ko­mitees für historische Wissenschaften anerkannt wurden. Fast alle Tschechen, die ich kannte, darunter einige noch aus der Zeit der Emi­gration nach England vor dem Krieg, wurden später Anhänger des Prager Frühlings von 1968, und einige von ihnen wie mein Freund An­tonin Liehm spielten in ihm eine besondere Rolle als Redakteure der führenden kulturpolitischen Zeitschrift jener Zeit, Literarny listy. Wir lernten uns zunächst nicht über die Politik kennen, sondern als Jazzlieb­haber auf einem Prager Festival, doch der Jazz war ebenso wie die Re­habilitierung Kafkas im Vorfeld von 1968 eine oppositionelle Tätigkeit, auch wenn mir kein politischer Hintergrund bei der Veröffentlichung meines Buchs The Jazz Scene bewußt ist, das einzige meiner Bücher, das unter dem Kommunismus ins Tschechische übersetzt wurde. Nach 1968 wurden die Reformer in der Partei entweder in die Emigra­tion gezwungen, oder sie mußten als Fensterputzer, Kohlenschlepper oder in ähnlichen Berufen arbeiten, sofern sie noch nicht alt genug für eine Rente waren. Einige wie Eduard Goldstücker, als Präsident des Schriftstellerverbands eine wichtige Persönlichkeit während des Prager Frühlings, hatten bereits während der stalinistischen Verfolgungen der frühen fünfziger Jahre im Gefängnis gesessen. (Wir haben ihn 1996 in Prag kurz vor seinem Tod besucht: Die Behörden der neuen Tsche­choslowakei hatten ihm die Anerkennung des Status eines Verfolgten unter dem Kommunismus verweigert.) Sie verloren ihr Land für im­mer, denn nach dem Ende des Kommunismus wurden sie von nie­mandem mehr gebraucht.
Die Ungarn, die ich am besten kennenlernte, zu jung für die Vorkriegspolitik oder den Widerstand – Ivan Berend und sein langjähriger Mitarbeiter Georg Ranki kehrten beide 1945 aus deutschen Konzen­trationslagern zur höheren Schule zurück –, waren Reformkommunisten mit Ausnahme des brillanten Peter Hanak, 1955 der neue Stern der ungarischen marxistischen Geschichtsschreibung, aktiver Teilnehmer am Aufstand von 1956 und danach entschieden antikommunistisch. Doch die Stimmung in Ungarn nach 1956 war in Maßen reformistisch und tolerant, selbst gegenüber etwas abweichenden Meinungen. Von allen KP-Regimes kam Ungarn einem normalen geistigen Leben unter dem Kommunismus wahrscheinlich am nächsten, was wohl haupt­sächlich an seinem Reichtum an intellektuellen Talenten lag, den es durch gute Beziehungen zu seinen Emigranten im Westen zu mehren wußte. Einige seiner bemerkenswert unpolitischen Köpfe lehnten eine Emigration selbst in den schlechtesten Zeiten ab, beispielsweise das mathematische Genie Paul Erdös, der darauf bestand, seinen ungari­schen Paß zu behalten und trotzdem alle mathematischen Fakultäten der Welt zu bereisen, ohne sich irgendwo länger als ein paar Monate aufzuhalten, wobei er seine ganzen irdischen Besitztümer in einem Koffer mit sich führte. Dieses wahrscheinlich einmalige Kabinett­stückchen eines privaten Bürgers auf dem Höhepunkt des Kalten Krie­ges gelang ihm dank der geschlossenen Unterstützung durch die inter­nationale Mathematikermafia. Als ich ihn an einem angenehmen Abend in Cambridge fragte – zu einer Diskussion über Zahlentheorie reichten meine Kenntnisse nicht ganz aus –, warum er auf der dauer­haften Möglichkeit bestehe, nach Budapest zurückkehren zu können, antwortete er: „Wegen der guten mathematischen Atmosphäre dort.“ Ungarn war natürlich das einzige Land in Mitteleuropa, das nicht die meisten seiner Juden verloren hatte.
In einigen Ländern des „real existierenden Sozialismus“ wie etwa Polen war es möglich, im Umgang mit Kollegen und Freunden die Partei zu umgehen. Nicht so in der DDR, wo nichts außerhalb der staatlichen Aufsicht geschah, schon gar nicht bei Kontakten ihrer Bür­ger mit Kommunisten aus dem Ausland. Außerdem gab es dort keinen Raum für abweichende Meinungen oder auch nur für Zweifel an der Linie, die von den Kommandohöhen vorgegeben wurde. In mancher Hinsicht, nicht zuletzt auch aus sprachlichen Gründen, fand ich es des­halb leichter, hier eine Vorstellung davon zu gewinnen, was eine Par­teimitgliedschaft unter dem Sozialismus bedeutete.
Ostdeutsche Kommunisten, zumindest soweit ich sie persönlich kennengelernt habe, waren Gläubige und blieben es auch, ob alte KPD-Kader aus der Zeit vor 1933, jugendliche Enthusiasten, die ein­getreten waren, um in der Trümmerlandschaft von 1945 eine neue Zu­kunft aufzubauen, wie Fritz Klein, der Sohn des Chefredakteurs einer der angesehensten konservativen Zeitungen der Weimarer Republik, Kommunisten der zweiten Generation wie mein Freund Siegfried Bünger, der Sohn eines Arbeiters aus dem ländlichen Mecklenburg, oder Gerhard Schilfert, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft be­kehrt wurde, ein Mann, der nicht anders konnte, als von einer – alten oder neuen – Autorität überzeugt zu sein und loyal zu ihr zu stehen. (Sie alle waren Historiker.) In gewisser Weise wählten sie sich selbst. Wer die Küchenwärme nicht aushielt, ging hinaus, was bis zum Bau der Mauer 1961 tatsächlich sehr einfach war.
Zur alten Garde hatte ich kaum Kontakt, ausgenommen die alten Kuczynskis und – durch meinen Freund, den Maler Georg Eisler – dessen bewunderter Vater Hanns, Partner von Bert Brecht und offizi­eller Staatskomponist der DDR, den ich in der unproletarischen At­mosphäre des Waldorf-Hotels kennenlernte. Hanns Eisler hatte seine Frau und seinen Sohn verlassen, deren Exil sie von Wien über Moskau und Manchester geführt hatte, von wo sie wieder nach Wien zurück­kehrten. Seine spätere Frau Lou verlor er an einen weiteren kommuni­stischen Veteran aus Moskau, den brillanten und charmanten Ernst Fi­scher, Sohn eines Habsburger Generals und nach dem Krieg eine Berühmtheit in der österreichischen Kultur und der KPÖ, bis diese ihn nach dem Prager Frühling ausschloß. Daß ich ihm gegenüber eine in­tellektuelle Dankesschuld abzutragen hatte, habe ich in meinem Zeit­alter der Revolutionen bemerkt. Alle blieben untereinander in freund­schaftlichem Kontakt, auch Fischer mit seiner ersten Frau, die aus einer böhmischen Adelsfamilie stammte und später Sowjetagentin wurde und deren revolutionäre Referenzen bis zum deutschen kommunisti­schen Aufstand von 1921 zurückreichten. Die Eislers aus Leipzig und Wien waren fast die Kominternfamilie par excellence. Tante Elfriede (in der Geschichtsschreibung unter dem Namen Ruth Fischer be­kannt) war die junge Kommunistin, die an die freie Liebe glaubte und Lenin zu seiner Kritik an flüchtigen sexuellen Begegnungen veranlaßte (die „Glas-Wasser-anstatt-Theorie“). Einige Jahre später spielte sie eine Rolle in der ultralinken Führung der KPD, bevor sie aus der Par­tei ausgeschlossen und ins Exil getrieben wurde, weil sie in der Sowjet-und der Kominternpolitik auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Nach dem Krieg tauchte sie in den USA auf, unter anderem als Denunziantin ihres Bruders Gerhart Eisler. Dieser, ein ebenfalls abgesetzter (aber gemäßigterer) Führer in der KPD, war ein bedeutender Agent der Komintern in China, den Vereinigten Staaten und anderswo gewor­den. Er wurde aus den USA ausgewiesen, verließ unterwegs das Schiff in England und ging nach Ostdeutschland, wo man ihm während des Wahns des späten Stalinismus – jedenfalls hieß es so – in einem Schauprozeß die Rolle eines mutmaßlichen Verräters zuwies, was nach ent­sprechender Zeit zweifellos sein Geständnis zur Folge gehabt hätte. Zum Glück übernahm das DDR-Regime trotz der sowjetischen Be­satzungsmacht im Lande diese mörderische stalinistische Praxis nicht, auch wenn es für diese Zurückhaltung selten Anerkennung gefunden hat. Gerhart Eisler verbrachte den Rest seines Lebens in politisch un­bedeutenden Stellungen in der DDR, unter anderem als Vorsitzender des Staatlichen Rundfunkkomitees, und wehrte sanft die Fragen seines Neffen über seine Vergangenheit ab. Hätte er seine Memoiren ge­schrieben, was er jedoch ablehnte, so wären sie ebenso bedeutungslos gewesen wie die der meisten Diplomaten: Seine Generation schwieg sich aus. Hollywood, wo er die Jahre des Exils verbrachte, sagte Hanns, dem Musiker, zu, der beleibt, geistreich, zynisch und wesentlich erfolg­reicher war als sein Partner Brecht, aber trotzdem kehrte er zurück und schrieb die Nationalhymne des neuen Staates. Man kann ihnen kaum vorwerfen, sich viele Illusionen über die Realität des Kominternkommunismus, der Sowjetunion oder gar der DDR gemacht zu haben. Sie blieben dort, kontrolliert und schikaniert von einer rigiden politischen Hierarchie, bei der sie von Zeit zu Zeit von Rivalen und ehrgeizigen Jüngeren denunziert wurden, ständig unter Beobachtung, selbst während sie öffentlich geehrt wurden, vom größten dauerhaften Poli­zeiapparat, der je in einem modernen Staat tätig war, der Stasi. Aber sie blieben.
In einer Hinsicht machte es ihnen die eigenartige Situation der DDR leichter. Das DDR-Regime litt unter der offensichtlichen Tat­sache, daß es über keine Legitimität und anfänglich über fast keine Un­terstützung verfügte und während seines Bestehens nie eine freie Wahl gewinnen würde. Die Nachfolgepartei der SED hat heute vermutlich mehr überzeugte Anhänger in der Bevölkerung- als zu der Zeit, als das alte Regime seine üblichen 98 Prozent Ja-Stimmen zusammenzählte. Insofern befanden sich die ostdeutschen Kommunisten noch in einer Art verschanzter Opposition, vor allem unter der Drohung und Ver­lockung ihres übermächtigen Nachbarn, der weitaus größeren Bundes­republik. Das rechtfertigte Maßnahmen, die unter anderen Umstän­den Kommunisten entsetzt hätten, selbst wenn man die Ablehnung einer liberalen Demokratie durch die Partei berücksichtigte. Man erin­nert sich an Brechts bitteren Kommentar zum 17. Juni, wenn das Volk das Vertrauen der Regierung verloren habe, sei es wohl am einfach­sten, die Regierung setzte das Volk ab und wählte sich ein neues. Da­mals, nach dem 17. Juni 1953, befürwortete mein Freund Fritz Klein, ein glühender Kommunist von 29 Jahren, die Intervention der Sowjets nach dem großen Arbeiteraufstand, weil er das Regime für sozial ge­rechter und politisch für zuverlässiger in seinem Antifaschismus hielt als die Bundesrepublik. Ebenso stand er 1961 hinter der Entscheidung zum Bau der Berliner Mauer.

„Es war, so sah ich es damals, hinzunehmen als das kleinere Übel ge­genüber der sonst unausweichlichen Alternative: der Aufgabe eines für mich nach wie vor legitimen Gesellschaftsversuchs.“

Sie konnten im besten Fall darauf hoffen, daß die sozialistische Gesell­schaft, die sie errichteten, funktionieren und das Volk für sich gewin­nen würde. Zweifellos waren die besten und intelligentesten Mitglie­der der SED Kritiker des Systems und blieben dennoch bis zum Schluß optimistische Reformer. Aber sie waren machtlos. Es war natürlich für Parteimitglieder einfacher, auf ein eigenes Urteil zu verzichten und sich ganz hinter den Vorschriften zu verstecken (was für die Spitze be­deutete, Moskau um Rat zu fragen) oder einfach die Aufträge der Par­tei auszuführen. Und die Partei wurde von alten Betonköpfen aus der Zeit vor 1933 oder von deren Nachfolgern der nächsten Generation geführt.
Die Leidenschaften des Kalten Kriegs haben die osteuropäischen Regimes als gigantische Systeme von Terror und GuLags dargestellt. Nach den Jahren von Blut und Eisen unter Stalin (der sich nicht schlüs­sig war, ob er überhaupt eine DDR wollte) wurde das ostdeutsche Sy­stem der Justiz und der Unterdrückung jedoch von einem befugten Harvard-Historiker – unter Ausklammerung der Opfer an der Berliner Mauer – treffend als „ein durchgehend schäbiges, aber relativ unbluti­ges Kapitel zur Geschichte der politischen Justiz im 20. Jahrhundert“ beurteilt. Es war eine monströse, alles erfassende Bürokratie, die die sogenannten Staatsbürger zwar nicht terrorisierte, aber fortwährend schikanierte, belohnte und bestrafte. Die neue Gesellschaft, die sie er­richteten, war keine schlechte Gesellschaft: Arbeit und sozialer Auf­stieg für alle, offene Bildungschancen auf allen Ebenen, Gesundheit, soziale Sicherheit und Renten, Ferien in einer festgefügten Gemein­schaft aus guten Menschen, die einer ehrlichen Arbeit nachgingen, das Beste an bürgerlicher Kultur für das ganze Volk, Spiel und Sport unter freiem Himmel, keine Klassenunterschiede. Im besten Fall richtete sie sich, um noch einmal Charles Maier zu zitieren, irgendwo zwischen „Sozialismus und Gemütlichkeit“ oder in einem „biedermeierlichen Kollektivismus“ ein. Der Nachteil daran war – abgesehen von der Tatsache, die sich vor den Bürgern nicht verbergen ließ, daß diese Gesellschaft materiell wesentlich schlechter gestellt war als die westdeutsche – , daß sie ihren Bürgern durch ein System höherer Gewalt aufgezwungen wurde, wie von strengen Eltern des 19. Jahrhunderts gegenüber aufsässigen oder zumindest unwilligen Kindern. Sie konn­ten ihr Leben nicht selbst bestimmen. Sie waren nicht frei. Da die Pro­gramme des westdeutschen Fernsehens fast überall empfangen werden konnten, war die ständige Gegenwart von Zwang und Zensur offen­sichtlich und wurde als ein Ärgernis empfunden. Doch solange sich daran nichts zu ändern schien, wurde es auch hingenommen.
Von alledem waren die Parteimitglieder mindestens ebensosehr be­troffen wie alle anderen. Nicht nur, daß ihre Gespräche von Rivalen oder von den allgegenwärtigen „Informellen Mitarbeitern“ der Stasi aufgezeichnet wurden; war ihr Inhalt nicht genehm, mußten sie öf­fentlich Selbstkritik üben oder erfuhren eine Degradierung durch bar­sche, aber wenig überzeugende Funktionäre aus dem autarken Ghetto der nationalen Herrscher, die rigide die Linie festlegten. Dissidenten wurden eher durch indirekten Psychoterror als durch unmittelbaren Druck auf Linie gebracht. Im schlimmsten Fall wurden sie Schikanen ausgesetzt oder in den Westen abgeschoben wie Wolf Biermann, den ich zusammen mit Georg Eisler in seinem Zimmer in einem Ostberli­ner Hinterhaus besuchte, wo er die Protestlieder sang, die ihn berühmt gemacht hatten.
Die meisten Parteimitglieder in der DDR und höchstwahrschein­lich die meisten Parteiintellektuellen glaubten bis zum Schluß an einen Sozialismus in dieser oder jener Form. Im Gegensatz zu Sowjetemi­granten findet man unter ihnen kaum Reformkommunisten, die zu hundertprozentigen proamerikanischen Kalten Kriegern wurden. Aber sie waren zunehmend entmutigt. Wann regte sich bei den Kommuni­sten der Argwohn, und wann wurde er zur Gewißheit, daß die „real existierende“ sozialistische Wirtschaft, die der kapitalistischen eindeu­tig unterlegen war, überhaupt nicht funktionieren konnte?
Markus Wolf, der Chef des DDR-Geheimdienstes, ein Mann von höchst beeindruckenden Fähigkeiten, den ich kennenlernte, als ein holländischer Fernsehsender ein Gespräch zwischen ihm und mir über den Kalten Krieg arrangierte, sagte mir bei dieser Gelegenheit, er sei Ende der siebziger Jahre zu dem Schluß gelangt, daß das System der DDR nicht funktioniere. Trotzdem trat er noch in den letzten Augen­blicken der DDR als kommunistischer Reformer an die Öffentlichkeit – eine ungewöhnliche Position für einen Geheimdienstchef. 1980 lieferte der Ungar Janos Kornai mit seinem Buch Warenmangel als ein fundamen­tales Problem der sozialistischen Planwirtschaften und die ungarische Reform (München 1983) bereits die klassische Analyse der widersprüchlichen Wirkungsmechanismen der am sowjetischen Modell orientierten Wirt­schaften. In den achtziger Jahren, einem Jahrzehnt, in dem diese Wirt­schaften (im Gegensatz zur postmaoistischen Wirtschaft) zusehends verfielen, bereiteten sich Kommunisten in den Ländern des Sowjet­blocks mit einer gewissen Bewegungsfreiheit – Polen und Ungarn – bereits unübersehbar auf einen Wandel vor. Die Hardliner-Regimes in Prag und Ostberlin hatten nichts, worauf sie sich stützen konnten, außer der potentiellen Intervention der Sowjetarmee, und diese Op­tion fiel weg, nachdem Gorbatschow in der Sowjetunion die Macht übernommen hatte. In Osteuropa wie im Westen zerfielen die Kom­munistischen Parteien. Eine historische Epoche ging zu Ende. Was von der alten internationalen kommunistischen Bewegung noch übrig war, lag wie ein angeschwemmter Wal auf einem Strand, von dem die Was­ser sich zurückgezogen hatten.
In den späten achtziger Jahren, fast an ihrem Ende, schrieb der ost­deutsche Autor Christoph Hein ein Stück mit dem Titel „Die Ritter der Tafelrunde“. Wie sieht ihre Zukunft aus, fragt sich Lancelot. „Die Leute da draußen [wollen] nichts mehr vom Gral und der Tafelrunde wissen […] Sie glauben nicht mehr an unsere Gerechtigkeit und unse­ren Traum … Für das Volk sind die Ritter der Tafelrunde ein Haufen von Narren, Idioten und Verbrechern …“ Glaubt er selbst noch an den Gral? „Ich weiß es nicht“, sagt Lancelot. „Ich kann […] die Frage nicht beantworten. Ich kann nicht ja und nicht nein sagen.“ Nein, es kann sein, daß sie den Gral niemals finden werden. Doch hat König Artus nicht recht, wenn er sagt, daß es nicht auf den Gral ankomme, sondern auf die Suche nach ihm? „Wenn wir den Gral aufgeben, geben wir uns selbst auf“. Nur uns selbst? Kann die Menschheit überhaupt leben ohne die Ideale der Freiheit und Gerechtigkeit oder ohne diejenigen, die ihnen ihr Leben geweiht haben? Oder vielleicht sogar ohne die Erin­nerung an jene, die dies im 20. Jahrhundert getan haben?

Aus – Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co., München 2006. Redaktionell leicht gekürzt. Vor-Sätze – die Redaktion.
Auf die Wiedergabe von Quellenangaben, Fußnoten und Anmerkungen wurde verzichtet. Die Orthographie des Originals wurde beibehalten.
© der deutschen Ausgabe: Carl Hanser Verlag München Wien 2003. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.