16. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2013

Geschichten zum Heulen und Wege ins Leben

von Burga Kalinowski

Marina sieht wie immer schick aus. Bei dem Lied „Wahre Freundschaft“ weint und lächelt sie zugleich. So ist sie nun mal. „Ich bin ein Stehaufmännchen“, sagt sie, und hofft, dass ihr Sohn seinen Weg findet.
Claudia wippt mit dem Fuß zum Rhythmus der Musik. Vielleicht denkt sie daran, dass sie mal Tänzerin werden wollte. Sie war Heimkind und wurde Lehrerin. Sie ist zufrieden. Ihre Lebensfreude tobt sie beim Step-Tanz aus.
Henry ist nervös. Er hat sich um das Musikprogramm der Feier gekümmert. Hoffentlich klappt alles. Seine Mutter ging 1960 in den Westen und ließ den vierjährigen Jungen zurück. 2012 hat er sie zum ersten Mal besucht. Damals im Heim stellte ein Lehrer seine Musikalität fest. Henry studierte Musik an der Hanns-Eisler-Hochschule, wurde Musiker und Erzieher.
Hildegard und Jürgen lächeln sich liebevoll an. Sie erinnern sich an Sommerferien in Güstrow, im Winter ging es nach Thüringen zum Skifahren. Sie wissen noch die Namen ihrer Erzieher: Herr Wendt zum Beispiel war gerecht, sagt Jürgen, und für jeden da. Hildegard hat sehr viel gelesen und war gern bei Frau Riese in der Bibliothek, Jürgen verrückt nach Fußball. Damals waren sie Freunde, dann kam das Leben dazwischen, seit zwei Jahren sind sie ein Paar. Hat das Heim Ihnen geschadet? Nein. Pause. „Nee um Gotteswillen, schreiben sie so was bloß nicht.“
Der große Peter fragt, wann der Artikel kommt. Alles Sahne war ja nun auch nicht. Aber der Segelclub war toll. Er wurde trotzdem nicht Matrose, sondern ein guter Betriebsschlosser bei der Reichsbahn.
Dieter hält eine lange Rede. Er gehörte 1953 zu den ersten Kinder im Heim und hat noch Günter Riese, den ersten Direktor, kennengelernt. 2008 gründete er den Verein Königsheider Eichhörnchen mit. Für die Projekte zur Heimgeschichte wünscht er sich Redlichkeit und Sachlichkeit.
Renate ist nun doch zur Feier gekommen und findet den Abend über alle Erwartungen schön. Bis spät feiern die Heimkinder zusammen mit damaligen Erziehern und Lehrern den 60. Jahrestag des Heimes. Das war am 19.Oktober.
In letzter Zeit hat sich Renate fast nur geärgert, wenn von den Kinderheimen in der DDR die Rede war. Kennengelernt habe ich sie vor Monaten bei einem Treffen des Vereins Eichhörnchen e.V., Berlin-Schöneweide, Südostallee, am Eingang zum größten Kinderheim der DDR.
„Die wollen uns immer wieder erzählen, wie wir gelebt haben. Ich kann das nicht mehr hören.“ Wer sind die? – „Na die!“ – dazu eine nach Berlin-Mitte und West gerichtete Geste und in Silben zerlegte Berufsbeschreibungen. „Po-li-ti-ker. His-to-ri-ker. Jour-na-lis-ten.“ Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Das weiß man doch. Und kann sicher sein: Irgendwann wird jemand investigativ aufdecken, dass im Osten Bäume nicht wachsen, Blumen nicht blühen und Bäche nicht plätschern durften – damals im Reich des Bösen. Wir lachen. Obwohl und wer weiß: Es wird soviel Quatsch erzählt und geschrieben. Und geglaubt.
Renate schüttelt den Kopf. Für sie ist es nicht zu fassen, in welcher Weise das Leben in DDR-Kinderheimen dargestellt wird. Zustände schlimmer fast als auf Alcatraz, der berüchtigten US-Gefängnisinsel – so die Botschaft. Auf keinen Fall darf es besser gewesen sein als in westdeutschen Heimen. Ja, diesen Eindruck habe sie. Nein, sie war in keiner Partei. Und dann erzählt sie, wie sie ins Kinderheim gekommen ist. Und warum. Und wie es dort war. In der Genauigkeit findet man die ganze Geschichte. Wirklichkeit wird Wahrheit. Wahrheit wieder Wirklichkeit. So ist Erinnerung.
Kinderheim Königsheide – genannt nach dem hier beginnenden etwa 110 Hektar großem Waldstück. Vor allem aber bekannt als das Kinderheim „A.S. Makarenko“ – benannt nach dem sowjetischen Pädagogen und Autoren des Erziehungsromans „Der Weg ins Leben“.
Tatsächlich begann in der Königsheide für viele Kinder der Weg ins Leben. Insgesamt etwa 5.000 Mädchen und Jungen waren hier gewissermaßen zu Hause.

„Ja, es war ein Stück Zuhause. Aber es war nicht so privat. Und nicht so individuell.“ Renate lebte nach dem Tod der Mutter bei den Großeltern in Berlin-Wendenschloß, eine Vorortidylle am Wasser. „Dort war mein Zuhause.“ Frei und unbeaufsichtigt. Die Oma trank heftig, der Opa spielte Skat, sie zahlten nicht immer Miete, ließen anschreiben und „oft war ich mit in den Kneipen und habe sie nach Hause gebracht.“ Es war eine gewisse Lotterigkeit, um nicht Vernachlässigung zu sagen. Natürlich liebte das Mädchen seine Großeltern, aber manches wurde ihr mit den Jahren peinlich und „irgendwie ging das dann nicht mehr“. Und das war schlimm. Am ersten Schultag nach den großen Ferien 1959 wurde Renate nach dem Unterricht mit einem Auto abgeholt und kam in die Königsheide. Lediglich eine Bemerkung der Großmutter wird im Nachhinein zu einer verdeckten Erklärung: „Na, das wirst du jetzt für immer haben“, war die Antwort auf die Feststellung der Enkelin, dass das Ferienlager sooo schön gewesen sei. „Nie hat mir jemand gesagt: Deine Großeltern wollten es so.“ Als sie die Großeltern im Pflegeheim besucht, fragt die 14-jährige nicht mehr. „Ich habe das Heim dann angenommen. Vielleicht wegen der  stabilen Verhältnisse, so ein zuverlässiger Lebensrhythmus. Die boten uns doch was… Tanzgruppe, Sport, Chor, Bibliothek, auch ’ne Schauspielgruppe, Foto-AG…“ Es gab sogar eine Segelgruppe, draußen in Wendenschloß bei der „Betriebssportgemeinschaft Aufbau Mitte Berlin“. Die Kinder lernten richtig segeln. Einmal waren sie fünf Ferienwochen mit dem Boot auf dem Scharmützelsee.
Renate ging lieber in die Tanzgruppe und schließlich zum Ballettunterricht im Haus der Jungen Talente in der Klosterstraße, zwölf DDR-Mark fürs ganze Jahr, dreimal Training in der Woche, 18 bis 22 Uhr. „Das ging natürlich nicht im Heim. Ich durfte immer nur bis 20 Uhr trainieren und musste um neun zurück sein. Jugendschutzgesetz! Ich kam aber oft später.“ Es klingt alles sehr normal. Und die Abschottung? „Ach, nee – wie sollte das denn gehen bei den vielen Aktivitäten? Natürlich musste man sich mit Schein ab- und zurückmelden, wenn man wegging – ins Freibad, Kino oder so. In einer Familie sagt man doch auch Bescheid.“  Naja, man geht trotzdem, wenn man will. Wie war das mit dem Zwang im Kollektiv? „Nee, nee. Klar mussten die Esszeiten eingehalten werden, bei den vielen Kindern.“ Gruppenweise marsch und zügig zum Essen, manche Gruppe schmetterte dabei Lieder über die schöne deutsche Heimat, Freundschaft, Friedenskampf und gegen Hunger, Not und Kriege auf der Welt. „Warum soll ausgerechnet das denn schlecht sein“, fragt Renate heute. Und wer zu spät kam, den bestrafte die Küchenfrau: Warten bis zur nächsten Mahlzeit. Meta, die Küchenfee, drückte oft ein Auge zu. Nicht der Ordnungsdienst am Speisesaal – „Zwei Heimkinder kontrollierten Hände und Schuhe auf Sauberkeit.“ Eine Situation für Scherze und Schikanen. Ebenso wie bei der Kontrolle der Räume jeden Sonnabend. Ansonsten habe sie jedenfalls „ganz normal gelebt ohne  Gewalt und Qualen, was man jetzt immer so liest.“
Zwei Torhäuschen. Das schmiedeeiserne Eingangstor mit den beiden Eichhörnchen-Figuren, für die Heimkinder von Fritz Kühn gestaltet, einem bedeutenden Künstler der DDR. Die Eichhörnchengeschichte kennt wahrscheinlich jedes Heimkind. Ein Mythos, der sich gegen Bürokratie behauptete und über die Jahre und Jahrzehnte das offizielle Symbol des Heimes für Freundlichkeit und Verantwortung wurde. Die Geschichte hätte nicht besser erfunden werden können. Sie ist passiert: Ein Junge findet im Wald das Eichhörnchen und versteckt es im Heim. Die Kinder lieben es. Aber Tiere im Haus sind nicht erlaubt. Ein Erzieher merkt die Geheimnistuerei und hilft. Das Findeltier bleibt und gibt dem Verein der Heimkinder heute den Namen und ist sein Logo. Eine von den Geschichten, die immer wieder erzählt werden. Man kann darauf wetten.

Weißt du noch? Die Frage, die zaubern kann. Sie gibt der Vergangenheit Farbe und Geschmack zurück, Gedanken und Gefühle von damals. Verankert sie in der Gegenwart und bereitet ihr einen Platz für später. Begrüßungstrubel: Wer ist wer und Erkennst-du-mich-noch-Rufe. Wiedersehensfreude und Tränchen. Über 100 sind zur Feier gekommen. Das Heim ist ein Ort ihrer Kindheit. Sie sind Besucher – und Sucher. Im Sand der Erinnerung finden sie ihre Spuren. Renate sagt: Das Heim hat mir meinen Weg bereitet. Ähnliches sagen Marina, Claudia, Hildegard, Jürgen,  Heidi, Henry, Dieter. Zitate aus den Gesprächen: Es war meine Rettung. Es gab mir Balance. Diese Entwicklungsmöglichkeiten hätte ich sonst nicht gehabt. Uns ging es gut. Wir hatten viel Spaß. Es war mein Glück.
Das Wort Glück erwartet man nicht.
Dann frage ich, warum sie ins Heim gekommen sind. Dann erzählen sie ihre Vor-Geschichte. Dann wird es zum Heulen. Ich verstehe, warum sie Glück sagen und das Heim meinen. Und lieber nicht dort gewesen wären.
Kinder und Jugendliche durch Krieg und Nachkriegszeit aus der Bahn geworfen. Das Land verbrannt. Alte Regeln ohne Wert. Neue Werte noch nicht die Regel. Die ersten Heime boten Zuflucht und einen Anfang. In der Kindererziehung wurde teilweise noch die Knute der schwarzen Pädagogik geschwungen, auch im Osten. Vorstellungen der Reformpädagogik waren in den  „Deutschland, Deutschland über alles“-Jahren größtenteils eliminiert worden. Hart wie Kruppstahl ein geläufiger Begriff. Als diese Zeiten so halbwegs vorbei waren und eine neue Zeit mit neuen Zielen in einem neuen Land verkündet wurde – da mussten auch erst neue Erzieher ausgebildet werden. Eine Statistik darüber, wieviel Ausbildungsstätten damals entstanden und wieviel Leute dort studierten, wäre  interessant – auch im Vergleich zum damaligen Westdeutschland. Empfehlenswert und jederzeit nachzulesen im Internet ist das „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ vom 27. September 1950. Ein Dokument hochfliegender Träume, ehrgeiziger Ziele, pragmatischer Maßnahmen – Spagat zwischen Not und Notwendigkeit. Wenn dieses Land überhaupt etwas reichlich hatte, dann keine Mittel und Ressourcen. Dafür wollte es viel. Trotz des zeitgemäßen überbordenden Polit-Sprechs wird die Dimension der historischen Veränderung deutlich. Sie meinten es ernst und führten es durch: Gleichstellung der Frau in Beruf und Ehe, Schwangerschafts- und Wochenurlaub, Verbot der Prügelstrafe: „Die körperliche Züchtigung als Mittel der Erziehung muß scharf bekämpft werden“, urteilt das Oberste Gericht am 19.2.1952. Per Gesetz entstehen Einrichtungen für Betreuung, Erziehung und Freizeit von Kindern. Mit dem Paragraphen 17 (1) des Gesetzes erfolgte die Abschaffung einer kruden Gesellschaftsmoral und bigotten bürgerlichen Werteskala: „Die nichteheliche Geburt ist kein Makel. Der Mutter eines nichtehelichen Kindes stehen die vollen elterlichen Rechte zu, die nicht (…) geschmälert werden dürfen.“ Im Jahr 1950 erlassen. Allein dieses Gesetz – wie auch das spätere Familiengesetz – macht das Land DDR zum Fortschrittsland.
Nicht Eins zu Eins und immer mit Abstrichen und Abweichungen vom Ideal. Nichts ging schnell, und problemlos schon gar nicht. Vor allem aber ging das ganz normale Leben weiter. Mit seinen Freuden, Konflikten, Unglücken. Dramatisch, wenn es Kinder betraf.
Der Weg in ein Kinderheim beginnt immer in den Katastrophen des Lebens. Die ewig-alten Menschen- und Schicksalsgründe: Krankheit oder Tod der Mutter, wie bei Jürgen und seinem kleinen Bruder, bei Hildegard und ihrer jüngeren Schwester. Ein saufender oder krimineller Vater, eine verantwortungslose, leichtlebige oder überforderte Mutter, wie bei Marina und Dieter, Scheidung, Lieblosigkeit und Vernachlässigung, ein strenger Vater, der die eine Tochter missbrauchte und die andere wegen eines Paar Schuhe so erbarmungslos schlug, dass Claudia nicht weiter reden kann. Eltern gingen in den Westen – oft ohne ihre Kinder und ohne ein Wort für sie. Erwachsene Männer weinen noch heute, wenn sie sich fragen, warum sie ins Heim kamen. Andere Kinder haben gar keine Erinnerung, weil sie einfach im Krankenhaus liegen gelassen wurden, wie Jochen S.
Einige Wochen nach seiner Geburt 1957 kommt er in ein Säuglingsheim bei Grimmen. 55 Jahre später im Juni 2012 gibt er in regionalen Zeitungen eine  Anzeige auf. Es meldet sich eine Kinderschwester von damals. Zum ersten Mal erfährt er etwas über seine frühe Kindheit. Sieht Babyfotos von sich. Mit fünf Jahren wird er dann zu einer Pflegemutter in Stralsund vermittelt. Zu einer korrekten, arbeitssamen Geschäftsfrau, die im Kirchenchor singt. So ein guter  Leumund, wird sich die Jugendhilfefrau in Stralsund gedacht haben, da geht es dem Jungen gut. Jochen erzählt Unerträgliches.
„Bei der Frau B. war ich, wie ich heute weiß, nur willkommen als Kind zum Arbeiten. Ich bekam keine Liebe und Zuneigung. Im Geschäft  habe ich von frühester Kindheit verkauft, Geld gezählt, Ware ein- und ausgepackt, ausgepreist, Inventuren mitgestaltet und Schaufenster mit dekoriert. Oft habe ich stundenlang gewischt, gebohnert und mit der schweren Bohnerkeule blankgeputzte Fußbö­den hergerichtet. Ich hatte auch Wäsche zu waschen, zu bügeln und zu legen. Ich hatte  Holz zu hacken, Kohlen von der Straße in den Keller zu bringen, sie zu putzen und zu stapeln. Ich sortierte die faulen Kartoffeln aus. Mit der Sammelbüchse der Kirche sammelte ich in der Ossenreyerstraße in Stralsund Geld.“
Dann hat er wirklich Glück. Die Pflegemutter gibt ihn an die Jugendhilfe zurück. Jochen war jetzt zwölf Jahre alt, schien intellektuell zurück geblieben, kotete ein. Er kam in das Heim „Grete Walter“ in Wismar. Das war seine Rettung. Nach etwa sechs Wochen der Fürsorge und Zuwendung dort normalisierte sich sein gesamtes Verhalten. Er holte den schulischen Rückstand auf und muss nicht in ein Spezialheim für schwererziehbare Kinder. Im folgenden Schuljahr erhielt er wegen seiner mathematischen Begabung eine Sonderförderung. Er machte das Abitur, studierte, arbeitete. Wie das so üblich war. Die Traumata seiner Kindheit schleppte er immer mit. Keiner fragte danach. Sein Zusammenbruch kam 1990 nach der Wende, als soziale Lebensperspektiven und Beziehungsgefüge planiert wurden. Die Sozial- und Wertedemontage traf viele DDR-Bürger, eben auch die Heimkinder, gleichgültig, ob einer Architektur studiert oder Bauarbeiter gelernt hatte. Jochen stürzte sich in die Sucht. Durch Therapie und konsequenten Entzug hat er die Kurve gekriegt.

So könnte jeder stundenlang erzählen über Heime, über Pädagogik und Politik, über so’ne und solche Erzieher, über Wege und Werte, über Regeln, Reglementierung und Regulative einer Gesellschaft. Von Traurigkeit und Tränen müsste gesprochen werden. Von Heimweh, Hass und Herzeleid. Schnell und spurlos fließt der Strom des Vergessens. Auch deshalb gründeten die Königheider ihren Verein. Erzählen die Geschichten, die ihre persönliche Geschichte sind. Ihr Erleben. Ihre Erfahrung
Wie die vom Spaziergang am Heiligabend zur festlich geschmückten Weihnachtstanne auf dem Gelände. Heimtradition über alle Jahre. Sternenhimmel, Schnee und Stille. Die Kinder sangen „Oh, Tannebaum“ oder „Oh, du fröhliche, oh, du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“ – es war schön. Oder die Story aus den Tagen der Schachweltmeisterschaft 1954, als Paul Schikora, Erzieher und Schachfreak, abends im Speisesaal mit interessierten Kindern die Partien der Kontrahenten nachspielte. Botwinnik gegen Smyslow. Gern wird auch vom Heimrat der Kinder erzählt und wie sie alle demokratisch abstimmten und der Heimleiter zum Beispiel die Kündigung eines Erziehers zurücknehmen musste. Eine Volksbefragung, wenn man will. Kinder lernen etwas über die Kraft der individuellen Entscheidung für gemeinsame Ziele. Mitbestimmung im Alltag wurde in späteren Jahren zunehmend durch Ideologisierung ersetzt und führte auf direktem Wege zur Haltung Scheißegal. Oder der Bau des Planschbeckens für die  Kleinen „zu Ehren des 4. Parteitages der SED“, wie es in einem Brief an den Magistrat heißt. Dahinter kann man getrost politische An- und Absichten vermuten. Am Ende lief es auf Spaß und Freude für die Kinder hinaus. Auch bei den Großen, die den Arbeitern vom Patenbetrieb halfen, zum Beispiel mit Sandschippen. Es soll Heimkinder geben, die ihre Hilfe nun als Kinderarbeit deklarieren, ebenso die Ernteeinsätze während der Ferien. Dann könne ja auch der  regelmäßige Tischdienst als sozialversicherungspflichtige Tätigkeit bewertet werden, oder der für alle DDR-Schüler obligatorische Unterrichtstag in der Produktion, meint Jochen S. ironisch. Redlich findet er dieses Verhalten nicht: „Der soziale K.o. nach der Wende traf die Heimkinder nicht deswegen, weil sie Heimkinder waren. 1989/90 hatten doch fast alle Ostler Angst, in ein Loch zu fallen.“ Weiß Gott. Abgewickelt wurde überall.
Renate L. hat es auch getroffen. Natürlich, muss man schon sagen. Sie war Lehrerin, ging aus der Volksbildung raus und arbeitete unter anderem als Aufnahmeleiterin beim Fernsehen der DDR. 1991 war Schluss damit. Danach hatte sie wegen einer schlimmen Krankheit bis zu ihrer Frühverrentung 2005 insgesamt nur 33 Monate eine bezahlte Arbeit.
Aber deshalb ruft sie mich nicht an, kurz bevor dieser Artikel in die Redaktion geht. „Wissen Sie was: Schreiben Sie meinen Namen aus.“ Gut: Renate Linnartz also. Es hat mit der Feier zu tun. Die war schön und nicht sentimental. Viel alte Geschichten, o.k. Aber dann kamen die neuen Interpretationen dazu „und alles, was so im jetzigen Leben nicht klappt, wird nun dem Kinderheim übergeholfen. Die wenigsten hinterfragen sich. Ist auch bequemer.“ Systemabrechnung mit der DDR ist das Stichwort und passt immer. Inzwischen ein klappriger Gaul, der durch die Zeitgeschichte getrieben wird, um einige Misthaufen der Gegenwart wegzukarren. Kann sein, dass manche aus ihrer DDR-Heim-Biografie Kapital schlagen wollen. Und einige haben sicherlich ihre Gründe. Sie jedenfalls lässt sich nicht nachträglich zum Opfer machen, sagt Renate Linnartz, und sie mache sich auch selbst nicht dazu.

Kinderheime in der DDR

Im Bericht des Runden Tisches zur „Heimerziehung in der DDR von 1949 bis 1990“ wird kategorisch und pauschalisierend festgestellt: „Viele Kinder und Jugendliche haben in Heimen der DDR schweres Leid und Unrecht erfahren.“ Seit Juli 2012 existiert deshalb ein 40-Millionen-Fonds zur Unterstützung der Betroffenen. Entsprechende Anträge werden ungewohnt großzügig gehandhabt. Fehlen zum Beispiel Nachweise für Rentenpunkte kann nach Plausibilität entschieden werden. Unter Heimkindern in den neuen Bundesländern kursiert bereits der Begriff „Begrüßungsgeld“ für die 250 Euro, die jeder Antragsteller vorab für seine Auslagen zum Erstgespräch in einer Beratungsstelle erhält. Das einladend geöffnete Tor ist politisch gewollt: Je mehr Erstanträge, desto mehr wird die Unrecht-These statistisch gestützt. Zu wünschen ist, dass tatsächlich passierte Übergriffe und Fehlentscheidungen entschädigt werden können.
Mit Stichtag 31.Mai 1989 gab es in der DDR 474 Kinderheime mit 29.329 Plätzen, von denen 23.399 belegt waren. Die Heime waren gegliedert in Vorschulheime, Normalkinderheime (für Kinder und Jugendliche von sechs bis 18 Jahren), Spezialheime (für schwererziehbare Kinder), Jugendwerkhöfe (JWH – für schwererziehbare Jugendliche von 14 bis 18 Jahre), Durchgangsheime, ein geschlossener JWH in Torgau. Darüber hinaus gab es 1952 insgesamt 152 evangelische und katholische Kinderheime mit 9.297 Plätzen, im Jahr 1962 noch 94 Heime in kirchlicher Trägerschaft mit insgesamt 5.582 Plätzen.
Die Jugendhilfebehörden der DDR befassten sich jährlich mit etwa 1 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, in zirka 0,7 Prozent kam es zu Heimeinweisungen. Insgesamt zirka 500.000 Kinder und Jugendliche durchliefen von 1949 bis 1990 die Einrichtungen der Jugendhilfe.
Der obenstehende Artikel beruht auf Gesprächen mit 14 ehemaligen Kindern aus verschiedenen Heimen, darunter aus dem Berliner Heim Königsheide. Dazu kommen Interviews mit Erzieherinnen, Sozialpädagogen, einer Jugendfürsorgerin. Bei allen Unterschieden in der Größe der Heime, ihrer materiellen und finanziellen Ausstattung, trotz Personalmangel, konzeptionellen Defiziten und politischen Kurswechseln stand das Wohl der Kinder im Vordergrund. Kein Heim, in dem es nicht wenigstens einen Stapel Kinderbücher, meist aber eine Bibliothek gab, jährliche ärztliche Untersuchungen, Schulbesuch mindestens bis zur 8. Klasse und in erreichbarer Nähe einen Sport-und Spielplatz.

Kinderheim Königsheide
In Berlin lebten 1948 etwa 1.000 obdachlose Kinder, die unter anderem im Hauptkinderheim in der Greifswalder Straße unter desolaten Umständen untergebracht wurden. Die Leiterin des Heimes, Edith Donat schlägt Alarm und als Problemlösung den Bau einer Kinderstadt vor. Politik und Verwaltung werden aktiv, Architekten beauftragt, Pläne entstehen, der Standort Königsheide wird festgelegt. Größe, die gesunde Lage im Grünen, gute Luft und Erreichbarkeit gaben den Ausschlag. 7,5 Millionen werden für den einmaligen sozialen und politisch wichtigen Neubau zur Verfügung gestellt.
Am 30. Mai 1952 findet die Grundsteinlegung statt. Die geplante Eröffnung am 1. September 1953 verzögert sich. In der zweiten Oktoberwoche 1953 beziehen die ersten Kinder das neue Heim mit zirka 480 Plätzen. Nach einer Festlegung des Ministeriums für Volksbildung im April 1952 soll die Anlage nicht ausschließlich ein Heim für Vollwaisen, Halbwaisen, familiengelöste Kinder sein, sondern auch für Kinder, deren Eltern wegen Krankheit, Beruf, und Weiterbildung abwesend sind. Kinder von Diplomaten oder von Angehörigen befreundeter Parteien wie KPD, FKP, der iranischen TUDEH-Partei kommen ebenfalls in die Königsheide.
Auf dem Areal befinden sich unter anderem vier Wohnhäuser, eine Säuglings-und Kleinkinderstation, eine Schule, Schulgarten, ein Ambulatorium mit Zahnarzt, Röntgenabteilung, Bettenstation. Im Laufe der Jahre kommen hinzu: ein Sportplatz, ein Planschbecken, eine Freilichtbühne, ein Tiergehege, unterstützt von Prof. Dathe, Chef des Berliner Tierparks. Künstler wie Fritz Kühn, Paul Rosie und Bert Heller beteiligen sich an der Gestaltung des Heimes.
Das Kinderheim Königsheide war  in jeder Beziehung ein Vorzeigeobjekt: Einmalig in Größe und Gestaltung, wichtig in seiner soziokulturellen Wirkung und mit diskussionsoffenem pädagogischen Konzept gedacht. Zum 15. Jahrestag 1968 erhielt das Heim den Namen „A.S. Makarenko“ – mit dem Zusatz Kinderkombinat – von ignoranten Funktionären nach einem ökonomischen Schlüsselbegriff der DDR benannt, wohl in der Erwartung, es schaffe Erfolge. Fünf Jahre später ist der Begriff aus der Heimpädagogik verschwunden.
1981 wurde Königsheide ein Hilfsschulheim, 1998 ganz geschlossen. Bis dahin blieb  der Name Makarenko. Heute ist das riesengroße Grundstück im Grünen ein Investitionsobjekt, das seinem süddeutschen Besitzer Gewinne bringen soll durch Vermarktung der denkmalgeschützten Bauten aus der DDR.

Der Artikel wurde übernommen aus Neues Deutschland (2./3. November 2013). Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Übernahmegenehmigung. Burga Kalinowski ist Journalistin und lebt in Berlin.