16. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2013

Was ist des Deutschen Vaterland?
Zum 200. Gedenkjahr: 1813

von Helmut Bock

Es ist kaum vorstellbar, Briten oder Franzosen fragen zu müssen, was denn ihr Vaterland sei: Ob „the native country“ oder „la patrie“, im einen wie im ändern Fall sind die Nachbarn Deutschlands ihrer territorialen und staatspolitischen Realität gewiss – spätestens seit der „Glorious Revolution“ von 1688/89 und der „Grande Revolution“ hundert Jahre danach. Anders die Deutschen.
Wann immer die patriotische oder nationalistische Gretchenfrage gestellt wurde, finden wir die deutschen Zustände krisenhaft, die Befindlichkeiten verworren, die Antworten zwielichtig. Auch vor gar nicht langer Zeit. Mit dem Massenruf „Wir sind das Volk, wir bleiben hier!“ hatten im Herbst 1989, genau 200 Jahre nach der Großen Revolution der Franzosen, Leipziger Montagsdemonstranten die Regierung Honecker auf der Straße abgewählt, aber die Losungen von einer „besseren DDR“ noch nicht preisgegeben. Nur wenige Wochen später freilich skandierten sie unter den Farben Schwarz-Rot-Gold und dem Adler des Wilhelminischen Reichsbanners den Vers des kommunistischen Dichters Johannes R. Becher: „Deutschland, einig Vaterland!“
Der Bayerische Rundfunk bot deutsch-deutsche Historiker auf, damit sie Geschichte und Gegenwart thematisch reflektierten: „Was ist der Deutschen Vaterland?“ Dabei fand sich die Mahnung: „Vielleicht sind sich die Rufer […] nicht darüber im klaren, dass ihr […] Fäusterecken und Fahnenschwingen auch die unselige Tradition des Nationalismus beleben könnte.“1 Woher kam der gegebene Titel, also die übernommene Fragestellung nach dem „Vaterland“? Und mit welchem Recht konnte von einer „Tradition des Nationalismus“ gesprochen werden?
Wir müssen uns in eine Zeit zurückversetzen, in der die Briten seit einem Jahrhundert eine staatlich geeinte Nation und die Franzosen dies soeben in den Kämpfen für ein bürgerliches Staatswesen geworden waren. Damals lag Deutschland, von den lockeren Bindungen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nur noch mit Mühe zusammengehalten, in 296 Territorien zersplittert, die sämtlich feudalen Charakter besaßen. Alle Ideen und Taten für bürgerlichen Wandel und nationalen Gemeinsinn verfingen sich in den Barrieren der Kleinstaaterei. Aber die Revolution, die in Frankreich den nationalen Staat hervorbrachte, vertiefte bei den Nachbarvölkern, zumal bei den Deutschen, die Frage nach der eigenen nationalen Wesenheit. Hatten die Völker Britanniens und Frankreichs ihre bürgerlichen Nationalstaaten begründet, sich folglich als „Staats-Nationen“ konstituiert, so gaben deutsche „Dichter und Denker“ ihrer Nation und deren Charakter einen anderen Sinn. Sie sahen in den Deutschen ein Volk, das nicht durch die Existenz eines wirklich vereinigenden Staats, wohl aber durch die Gemeinsamkeit von Sprache und Mentalität, Sitten und Gebräuchen, Literatur und Künsten, also durch eine eigentümliche Kultur gekennzeichnet war. Die Idee der „Kultur-Nation“ – anstatt der „Staats-Nation“ – sollte diese Besonderheit ausdrücken. Freilich, der oft beschworene „deutsche Genius“, dieses fiktive Gebilde aus Intellektuellengeist und Volksseele, führte ein zerrissenes Dasein: Er strebte zu den freiheitlichen Werten einer aufgeklärten Menschheit empor, während er an den Bleigewichten der fürstlichen Kleinstaaten schleppte. „Gedankenvoll“ und „tatenarm“, so tadelte Hölderlin seine Deutschen.2 Schiller ermutigte, aber resignierte zugleich: „Ringe, Deutscher, nach römischer Kraft, nach griechischer Schönheit! / Beides gelang dir; doch nie glückte der gallische Sprung.“3
Die Kraft der Revolution, die deutsche Grenzzäune niederfegte, kam von außen: von „Gallien“ her. Sie ergriff die Rheinlande, drängte dann weiter nach Süden und Osten, konfrontierte die Deutschen mit politischen und sozialen Umgestaltungen, mit Zwängen, die zu bürgerlicher Modernisierung und Nationalbewusstheit geradezu aufstachelten – und sie trägt in der historischen Erinnerung einen großen Namen: Napoleon Bonaparte. Um Frankreichs Vorherrschaft auf dem Kontinent zu sichern, vollendete der Revolutionsgeneral die Annexion des linken Rheinufers. Er missbrauchte den ewigen Landhunger deutscher Potentaten als die Axt, die dem brüchigen Staatsgefüge des tausendjährigen Reiches den tödlichen Einsturz brachte: Denn für den Preis von Gebietsgewinnen und Rangerhöhungen kündigten deutsche Fürsten ihrem Kaiser, der aus der Dynastie Habsburg stammte, die Gefolgschaft auf. Sie schlössen sich 1806 unter der Schirmherrschaft Napoleons, der jetzt „Kaiser der Franzosen“ war, im Rheinbund zusammen. Dabei mussten sie erfahren, dass der Imperator in seinen rechtsrheinischen Protektoratstaaten fortsetzte, was durch die Revolution im Linksrheinischen schon begonnen war: Er dekretierte liberalistische Reformen, womit die bürgerliche Umgestaltung von Staat und Gesellschaft in einigen deutschen Territorien begonnen wurde.
Doch der Vernunftglaube der Aufklärung und der freiheitliche Enthusiasmus für die Große Revolution waren schon eingetrübt. Kriege, Plünderungen, Annexionen verheerten Länder und Völker. Der Revolutionsgeneral mauserte sich zum schneidenden Degen eines Militärdespotismus, der die Franzosen im eigenen Land disziplinierte und auf den Schlachtfeldern des Kontinents verbluten ließ. Er zwang überdies Frankreichs Nachbarvölker in eine Art halbkolonialer Abhängigkeit, so dass Napoleons frühliberale Gesetzbücher den Schatten der Fremdherrschaft warfen.
„Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ (1806), so wurde das Ende des alten Reiches in jener patriotischen Streitschrift betitelt4, wegen deren Druck und Verbreitung der Nürnberger Buchhändler Palm im Kugelhagel eines französischen Exekutionskommandos fiel. Unter den aufschreckenden Zeitgenossen findet sich nun der Mann, der Urheber unserer Frage nach dem Vaterland ist: Ernst Moritz Arndt, Bauernsohn von der Insel Rügen, zeitweilig Professor an der schwedischen Universität Greifswald und dank Schusters Rappen mit mehreren Ländern Europas bekannt. Auch er nahm den Sturz des tausendjährigen Reiches, das von Goethes Studenten in Auerbachs Keller verspottet wird, mit Bestürzung auf: „Jetzt war das Letzte geschehen, alles einzelne Deutsche, das Kleinste wie das Größte, das Ruhmvollste wie das Dunkelste, lag nun in einem großen gemeinsamen Jammer über- und untereinander hingeworfen und der übermütige welsche Hahn krähte sein Viktoria! […] Als Deutschland durch seine Zwietracht nicht mehr war, umfasste mein Herz seine Einheit und Einigkeit.“5
Arndt war kein Konservativer, der überalterte Strukturen erhalten oder wiederherstellen wollte. Er war der publizistische Weggefährte jener Erneuerer Preußens, die gegen Napoleons Politik der bürgerlich-liberalen Modernisierung, gepaart mit nationaler Unterwerfung, ein Alternativkonzept der bürgerlichen Umgestaltung und der nationalen Unabhängigkeit verfochten: Männer und Frauen um Karl vom und zum Stein, Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz und weiteren Reformpatrioten. Den meisten galt Frankreich als Land einer unerhört radikalen Revolution, deren sprichwörtlicher Dreiklang „Liberté! Egalité! Fraternité!“ überdies durch Napoleons kontinentales Hegemonialsystem diskreditiert war. Sie suchten vielmehr in England ihr Vorbild, wo die Überwindung der Feudalstrukturen durch politisch-sozialen Ausgleich zwischen den aristokratischen Landlords und dem bürgerlichen Besitzstand voranschritt, durch Parlament und Gesetzgebung, Gewerbe und Welthandel grundsätzlich bereits vollzogen war. So erstrebten auch sie die Erneuerung von Staat und Gesellschaft durch Reformpolitik – kraft der Autorität eines aufgeklärten Monarchen und der Billigung eines Adels, der sich gemäß ihren Wünschen bereitfinden sollte, mit Bürgertum und Volk eine vaterländische Koalition gegen Frankreich zu bilden.
„Preußische Reformer“ ist bekanntlich der Titel, mit dem sie in der Historie überliefert sind, obwohl viele von ihnen durchaus keine geborenen Preußen waren. Als staatlich in Dienst Genommene formierten sie die Avantgarde eines Patriotismus, der nicht nur Preußen, sondern ganz Deutschland emanzipieren wollte. Aus ihren Reihen wuchsen daher auch die Konzeptionen, die sich vom Selbstverständnis einer deutschen „Kultur-Nation“ zum politischen Entwurf einer „Staats-Nation“ vorwagten. Im Widerstreit zu den Fürsten des Rheinbundes begrüßten sie die deutschen Zeitgenossen als ihre Brüder und luden diejenigen, die mit ihnen „unter gemeinschaftlichen Gesetzen leben“ wollten, zum Verbündnis gegen Frankreich ein. Von den territorialen und rechtlichen Bedingungen wurde gesagt: „Für den preußischen Staat wird eine freie Konstitution proklamiert.“6 Ihre Denkschriften (1808) betonten die Freiwilligkeit des Anschlusses, enthielten aber auch nichts Geringeres als das Konstrukt eines norddeutschen Verfassungsstaats unter Preußens Führung. Das patriotische Ziel der Reform und des Bündnisses war ein „letztmaliger Krieg“: Er sollte keine Annexionen herbeiführen – wohl aber die nationale Befreiung der Deutschen und eine europäische Friedensordnung, in der die Völker in „wechselseitiger Unabhängigkeit“ gedeihen könnten.7
Auch diese Ideen waren von der Aufklärung, zumal vom „klassischen“ Idealismus des Philosophen Kant und des Dichters Schiller befruchtet. Sie wurzelten aber vor allem im Epochenerlebnis der Französischen Revolution und entsprachen einer universalen Entwicklungstendenz: Indem sich die Nation in Großbritannien und in Frankreich bereits als eine Existenz- und Entwicklungsform der Gesellschaft erwies, musste ihre politische Konstituierung früher oder später auch in Deutschland erfolgen. Die Reformer wirkten daher für einen perspektivischen Fortschritt, der mit dem Ziel, die von feudalen Privilegien entfesselte Gesellschaft und einen nationalen Staat hervorzubringen, die Unabhängigkeit von Frankreich gebot. Obwohl von Napoleon und fürstlichen Kollaborateuren übel beleumundet, waren sie Wegbereiter und Organisatoren einer breiten Volksbewegung, die im historischen Jahr 1813 ihre Fürsten zum Kampf gegen Napoleon zwang.
Alles in allem geschah damals eine tatsächlich volkhafte Erhebung, wobei nicht wenige Deutsche ihr nationales Fühlen und Denken entdeckten – und doch sind die Umstände dieser Bewusstwerdung für Deutschland und für Europa nicht als glücklich zu bezeichnen. Man denke an den Barden Theodor Körner, der „Leier und Schwert“ nicht scheiden mochte: „Lützows wilde, verwegene Jagd“ auf „fränkische Schergen“ und „winselnde Feinde“, auf „Henkersblut und Tyrannen“.8 Wie alle Völker der Geschichte ihre Widerstandskraft gegen fremdländische Aggressoren und Bedrücker durch radikale Mobilisierung des Patriotismus verschärften, so glorifizierten deutsche Dichter und Sänger den Franzosenhass, den „heiligen Krieg“, die blutige Rache und den Opfertod. Der vaterländisch empfundene Aufbruch zur Unabhängigkeit von Frankreich, der historisch notwendig war, trug Merkmale eines irrationalen Exzesses – lebend und fortlebend bei etlichen Generationen in ein und einem halben Jahrhundert.
Arndt war die Posaune der Waffenerhebung gegen Napoleon, ein Agitator von lutherischer Sprachgewalt, den die Allmacht des Imperators und des Rheinbundes nicht schreckte. Sein „Kurzer Kalender für teutsche Soldaten“ (1812), die er zum Abfall von Napoleons Russlandfeldzug bewegte, bezeugt nationales Rebellentum: „[…] Das ist teutsche Soldatenehre, dass der Soldat fühlt: er war ein teutscher Mensch, ehe er von teutschen Königen und Fürsten wusste: es war ein teutsches Land, ehe Könige und Fürsten waren; dass er es tief und inniglich fühlt: das Land und das Volk sollen unsterblich und ewig seyn, aber die Herren und Fürsten mit ihren Ehren und Schanden sind vergänglich.“9
Aus diesem Nationalgefühl, das seinen historisch bedingten Mangel an Politikfähigkeit durch die Beihilfe der Rhetorik kompensierte, entstand Arndts Gedicht „Des Teutschen Vaterland“ (1813). Ein denkwürdiger Hochgesang, der den deutschtümelnden Zeitgeist von damals treffend dokumentiert, jedoch uns Heutigen problematisch erscheint:
„Was ist des Teutschen Vaterland?
Ist’s Preußenland? Ist’s Schwabenland?
Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht?
Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht?
O nein! nein! nein!
Mein Vaterland muss größer sein!“
Auf solch fragende Weise die deutschen Landschaften abschreitend – Österreich und die Schweiz einbegriffen – gibt der Poet eine emphatische Antwort:
„[…] So weit die teutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt,
Das soll es sein!
Das, wack’rer Teutscher, nenne dein!“
Das zehnstrophige Wortgebilde radikalisiert zu tödlicher Drohung gegen jeden Franzosen und alle von Frankreich gekommenen Neuerungen der bürgerlichen „Moderne“.10
Goethe passte die ganze Richtung nicht. Indem er an der Humanitätsidee der Aufklärung festhielt, wonach schöpferische Individuen aller Völker und Nationen mit möglichster Teilnahme ihrer Regierungen daran wirken sollten, den Werdegang der Menschheit zu beflügeln, bewahrte er sich ein Verständnis für die widersprüchliche, aber historische Größe Napoleons – indes ihm der eifernde Nationalismus, die Deutschtümelei von 1813 missfiel. Nachgeborene Kritiker haben Arndt sogar einen Wegbereiter deutscher Expansionen, zumal des Hitlerfaschismus geheißen und mit den literarischen Klopffechtern des Dritten Reiches verglichen. So aber wird das originäre Erbe mit dem späteren Missbrauch gleichgesetzt und der Einspruch des Historikers herausgefordert: Denn Ideen und Handlungen können primär nur innerhalb ihrer unverwechselbaren Zeitbedingungen verstanden und erklärt werden. Mit Arndt reagierte der frühe, deutschtümelnde Nationalismus auf die militanten Provokationen des Nationalismus napoleonischer Hegemonialpolitik. Die Vorstellungskraft des deutschen Arndt, der die nationale Defensive verfocht, war eine geistige Entgegnung auf tatsächliche Expansionen des Kaisers der Franzosen, der seit Verhängung der Kontinentalsperre über Europa (1806/07) ein permanenter Angreifer und Eroberer war.
Dennoch bleibt zu sagen, dass in Arndts Gedichten und Schriften ein Nationalgeist wirkte, der mit den weltbürgerlichen Humanitätsideen der Aufklärung brach. Der Mann, der die vaterländischen Grenzen „mit Gottes Hilfe“ so weit verrückte, dass sie in die Lebenssphären anderer Völker ragten, wobei allein Sprache das Kriterium deutscher Zugehörigkeit sein sollte, zeugt für Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins: des Wechsels vom aufgeklärten Kosmopolitismus der „Kultur-Nation“ zur nationalistischen Projektion der „Staats-Nation“. Es war ein Ideologiewandel, der für das herrschende Denken im Deutschland des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts paradigmatisch wurde.
Die Kriege von 1813 bis 1815 zeitigten zwar den zweimaligen Sturz des napoleonischen Regimes und somit die Unabhängigkeit von Frankreich. Doch was den Wunsch vaterländischer Einheit und verfassungsrechtlicher Freiheit betraf, so blieb Deutschland nach den Beschlüssen des Wiener Kongresses (1815) eine Staatenföderation, basierend auf dem Prinzip unantastbarer Legitimität von über dreißig Fürstenhäusern. Es war die studentische Burschenschaft, die gegen die „Restauration“ der Altaristokraten den Widerstand organisierte und Arndts patriotische Frage „Was ist des Teutschen Vaterland?“ an den Anfang ihrer alternativen Verfassungsurkunde setzte. Allzu bald aber bewirkten das Wartburgtreffen (1817) unter der Fahne Schwarz-Rot-Gold und Arndts geistiger Infiltration, dass die Hohenzollerndynastie und der Preußenstaat ihr reformpolitisches Image abschminkten, stattdessen ihr Polizeigesicht vorwiesen: Die Anhänger bürgerlich-nationaler Einheit und Freiheit erlagen mitsamt ihrer Fahne und des Bonner Professors Arndt den „Demagogenverfolgungen“.
Auf dem Hambacher Fest (1832), der ersten wirklichen Massenkundgebung für Deutschlands „Einheit“ und „Freiheit“, wurde Arndts Lied vom Festchor wiederum gesungen. Noch aber lebten Ideen der Völkerverbrüderung gegen die „Heilige Allianz“, den christlich geschönten Bund der Fürsten, wieder auf: Neben dem verbotenen Schwarz-Rot-Gold wehte das ebenso geächtete Weiß-Rot der polnischen Fahne, und deutsche Festredner fraternisierten sogar mit französischen Republikanern. Überflüssig zu sagen, dass sie auf die schwarzen Listen Metternichs und der „Restauration“ gerieten.
Was dann kam, war stetig wachsender Nationalismus, der die Völker entzweite. Der alte Streit, ob der Rhein Frankreichs „natürliche Grenze“ oder „Deutschlands Strom“ sein müsse, brach 1840 ein weiteres und keineswegs letztes Mal hervor: auf französische Gebietsforderungen reagierte eine deutsche Nationalbewegung. Arndt, der gerade erst vom inthronisierten Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. rehabilitiert worden war, witterte sogleich den Gebrauchswert seines Talents, Kriegsgesang anzustimmen. „Zum Rhein! Über’n Rhein! All‘Deutschland, all’Deutschland, in Frankreich hinein!“11
Das eben war der teuflische Pferdefuß, der die Mühen und Opfer für Deutschland fragwürdig machte. Sich selbst titulierende „Patrioten“, die sich vom kosmopolitischen Denken der Aufklärung, von Menschenrechten und Völkerverbrüderung verabschiedet hatten, tradierten den „Geist von 1813“ – und mit ihm den Dauerhass gegen den französischen „Erbfeind“. Der Freigeist und Weltbürger Heinrich Heine nannte Arndt einen der „berühmtesten Franzosenfresser“ und konfrontierte ihn mit Ludwig Borne, dem wirklich „berühmten Patrioten“.12 Dieser literarische Briefsteller aus Paris, der ein Wegbereiter der Revolution von 1848 war, schied in seiner Streitschrift „Menzel der Franzosenfresser“ (1837) zwischen „falschem“ und „wahrem“ Patriotismus. Die falsche Vaterlandsliebe verfeinde die Völker gegeneinander, wobei sie dem „Egoismus der Fürsten“ diene. Der wahrhafte Patriot hingegen bewähre sich vor allem im Kampf gegen die Feinde im Inneren seines Vaterlandes, die Bedrücker seines eigenen Volkes – er müsse überdies ein Streitgenosse der um Freiheit ringenden Volkskräfte anderer Länder sein.13
Die widersprechenden Auffassungen des „Patriotismus“ und somit der „Vaterlandsliebe“ stehen seither wie Kain und Abel in der deutschen Geschichte. Stets konnten die Regierungen und die jeweils herrschende Klasse beruhigt sein, wenn Bürgertum und Volk gegen einen „äußeren Feind“ wüteten. So auch in der Revolution von 1848, dem Höhepunkt der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts: Das frei gewählte Parlament in der Frankfurter Paulskirche verweigerte den Polen die nationale Unabhängigkeit und ließ sie durch preußisches Militär unterdrücken. Eine wahrhaft demokratische Alternative vertrat indes die „Neue Rheinische Zeitung“ aus der Feder von Friedrich Engels: „[…] In den Fesseln, womit wir fremde Völker umketten, nehmen wir unsere eigene […] Freiheit gefangen. Deutschland macht sich [nur – Einfügung H.B.]in demselben Maß frei, worin es die Nachbarvölker freilässt.“14
Die Revolution, die „Einheit“ und „Freiheit“ schaffen sollte, scheiterte. Es war Bismarck, der die Frage nach „des Deutschen Vaterland“ auf dem Weg dreier Kriege gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und wiederum Frankreich (1870/71) beantwortete: durch die Gründung des zweiten Deutschen Kaiserreiches unter Preußens Pickelhaube und Hohenzollernkrone. Während nicht wenige Achtundvierziger zum Reichskanzler überliefen, blieb Georg Herwegh, die „eiserne Lerche“ von 1848, unbeirrt: der „schlimmste Feind“ des deutschen Volkes steht „an der Spree“.15 Die arrogante Willkür, den Hohenzollern und König von Preußen im Januar 1871 ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser zu küren, war eine Provokation und Demütigung der französischen Nation. Und die Annexion Elsass-Lothringens war das Schlangenei, das Bismarck dem preußisch-deutschen Reich in die Wiege legte. Das daraus hervorwachsende Ungeheuer wurde von Marx, dem Sprecher der ersten Arbeiter-Internationale, schon damals warnend vorausgesagt: Diese Annexion werde in Zukunft das „unfehlbarste Mittel“ sein, um „Deutschland und Frankreich durch wechselseitige Selbstzerfleischung zu ruinieren“16. Die gesamteuropäische Katastrophe in Gestalt eines deutschen Zweifrontenkrieges, bei dem sich Frankreich mit Russland verbünden werde – war die zeitigste und genaue Ankündigung des Weltkrieges, der 1914 begann.
Das Deutsche Reich, das sich in dreifacher Staatsform als Kaiserreich, Weimarer Republik und faschistische Diktatur behauptete, endete nach 75-jähriger Existenz – und immer wurde der Unabhängigkeitskrieg von 1813, zum „Freiheitskrieg“ schöngefärbt, feierlichst erinnert. Ein jedes Mal wurde Arndts vaterländisches Denken missbraucht. Diese Geschichtsbeflissenheit zielte gegen den „Erbfeind“ Frankreich und noch weitere Völker. Weil aber Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion mit Napoleons Russlandfeldzug und Katastrophe vergleichbar war, erinnerten sich das Nationalkomitee Freies Deutschland (1943) und antifaschistische Widerstandskämpfer im Reich an Arndt auch auf andere Weise: Er hatte im russischen Exil als ein entschiedener Agitator gegen Napoleon, den Aggressor seiner Zeit, gewirkt. Es war diese Rezeption, die in der DDR überdauerte, so dass der Literat und Professor zum Schutzpatron seiner früheren Universität Greifswald erhoben wurde. Allerdings treibt die Geschichte den Fortschritt nicht ohne Widerspruch. In der BRD nämlich gereichte die Frontstellung, die im Kalten Krieg gegen den „Osten“, zumal gegen die „Russen“ gerichtet war, zur aktuellen Überwindung des deutschtümelnden Erbes von 1813: Das deutsch-französische Bündnis im Geiste des „Antikommunismus“ wurde zu einem Grundstein der allmählichen und friedlichen Vereinigung Europas.
Jedoch am Ende der DDR, in deutsch-deutscher „Wendezeit“, war die Warnung vor einer Wiederbelebung des Nationalismus keinesfalls unangemessen. Das haben ausländerfeindliche und neofaschistische Aktivitäten im Osten wie im Westen des wiedervereinigten Deutschland erwiesen. Die Mahnungen der Geschichte hingegen gebieten etwas ganz anderes: Unser Land und die Welt, unser Volk und die Völker sind unteilbar – und gerade wir Deutschen stehen infolge schuldhafter Erfahrungen in besonderer Friedenspflicht. Die Antwort auf die alte Frage, was denn des Deutschen Vaterland sei, kann heute nur lauten: ein europäisches Deutschland – und vor allem: Europa als verantwortlicher Teil der Welt. Historisch gewachsene Ansprüche und Pflichten der „Staats-Nation“ und der „Kultur-Nation“ sollten im heutigen Deutschland einander nicht ausschließen.

Prof. em. Dr. phil. habil. Helmut Bock ist Historiker; Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS sowie der Leibniz-Sozietät; er lebt in Berlin.
Der vorliegende Beitrag entstammt dem jüngsten Buch des Autors:
Napoleon und Preußen. Sieger ohne Sieg, Karl Dietz Verlag, Berlin 2013. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.

  1. Was ist der Deutschen Vaterland? Einheit – umstritten wie eh und je. Essays zur fünfteiligen Hörfunk-Sendereihe des Bayrischen Rundfunks, München 1990, S. 30 f. Im poetischen Original steht Singular: „des Deutschen“ – hier jedoch aus Gründen der Aktualität in den Plural gesetzt.
  2. Vgl. F. Hölderlin: An die Deutschen, in: Hölderlins Werke, Bd. l, Berlin/Weimar 1968, S. 179.
  3. F. Schiller: Deutscher Genius, in: Schillers sämtliche Werke, Bd. l, Leipzig (Verlag Hesse) o. J., S. 265.
  4. Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung. Reprint der anonymen Flugschrift von 1806, Berlin/DDR 1983.
  5. E. M. Arndt: Erinnerungen aus dem äußeren Leben, Rudolstadt 1953, S. 97.
  6. A. W. A. Neithardt v. Gneisenau: Konstitution für die allgemeine Waffenerhebung des nördlichen Deutschlands gegen Frankreich vom August 1808, in: Ausgewählte militärische Schriften, Berlin/DDR 1984, S. 123.
  7. Derselbe: Denkschrift im Sommer 1808 über die Idee des Volksaufstands, ebenda, S. 117 ff.
  8. Th. Körner: Lützows wilde Jagd, in: Leyer und Schwert (Berlin 1814), neu herausgegeben von F. M. Kircheisen, Berlin 1913, S. 66 ff.
  9. Arndt: Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten (Petersburg 1812), neu herausgegeben von K.-H. Hädicke, Berlin/DDR 1956, S. 46 f.
  10. Derselbe: Des Teutschen Vaterland (Breslau 1813), in: Ausgewählte Gedichte und Schriften, Berlin/DDR 1969, S. 66 ff.
  11. Derselbe: Kriegslied gegen die Wälschen vom Jahre 1840 (Flugblatt), Lehr 1859.
  12. H. Heine: Geständnisse (1854), in: Werke und Briefe, Bd. 7, Berlin/Weimar 1972, S. 108.
  13. L. Borne: Menzel der Franzosenfresser (l 837), in: Sämtliche Schriften, Düsseldorf 1964, S. 918 ff.
  14. F. Engels: Auswärtige deutsche Politik (Neue Rheinische Zeitung, Nr. 33 v. 3. Juli 1848), in: Marx-Engels, Werke (MEW), Bd. 5, Berlin/DDR 1959, S. 155.
  15. G. Herwegh: Der schlimmste Feind, in: Der Freiheit eine Gasse. Aus dem Leben und Werk Georg Herweghs, Berlin 1948, S. 213.
  16. Marx/Engels: Brief an den Ausschuss der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (veröffentlicht am 5. September 1870), in: MEW, Bd. 17, Berlin/DDR 1962, S. 268.