16. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2013

Der durchgescheuerte Hosenboden

von Frank-Rainer Schurich

Der Berliner ist ein Einwohner der Stadt Berlin, der Hauptstadt von ganz Deutschland, an der Spree gelegen. Aber auch wenn man nicht mehr dort wohnt, kann man ein Berliner sein, nämlich dann, wenn man in diesem Flecken geboren wurde. Dann ist man Berliner sozusagen für immer und ewig. Der Begriff „Berliner“ steht in einigen Gegenden Deutschlands für Pfannkuchen, das heißt, in diesem Fall kann man die Berliner sogar essen. Das ist ein guter Grund, über die Berliner Witze zu machen. Kurt Tucholsky wies 1918 in einem Aufsatz richtig darauf hin, „dass es im Deutschen viele Worte gibt, die verschiedene Bedeutung haben, woraus sich dann die erheiterndsten Folgen ergeben“.
Die zugezogenen Berliner, also die, die anderswo geboren wurden und die es dann nach Berlin verschlagen hat, identifizieren sich mit der Stadt – oder auch nicht. Im Gegensatz zu seinem Bruder Alexander, einem Berliner, wurde Wilhelm von Humboldt in Potsdam geboren, und die neue Stadt an der Spree war ihm fremd. „Heimisch bin ich hier indes noch nicht geworden“, schrieb er einmal, „und vielleicht dauert es, ehe ich es werde … Alle Verhältnisse sind loser geworden.“
Mit einer gewissen Logik kann behauptet werden, dass es Berliner gar nicht gibt. In der kurzen Geschichte vom mittelalterlichen Marktflecken bis zur ersten urkundlichen Erwähnung von Cölln (1237) und Berlin (1244), der beiden Gründungsstädte, war dieses Territorium nur von „Ausländern“ besiedelt. Die ersten Berliner waren nämlich Rheinländer, Flamen und Westfalen.
Ein wenig Gemütlichkeit haben die Berliner von diesen Urvätern und -müttern geerbt, eben mit preußischen Nuancen. Sie sind sehr gastfreundlich, nett zu Ausländern und leben halt in ihrer eigenen Welt. Wenn sie verreisen, können sie sehr anstrengend sein, worüber Peter Panter (auch Kurt Tucholsky) in seinem Aufsatz „Berliner auf Reisen“ in der Weltbühne Nr. 3 aus dem Jahre 1926 schon berichtete. In der Panterschen Typologie gibt es dann die „Ham-Se-kein-Jrößern“-Berliner, die „Na-faabelhaft“-Berliner und die „Unerhöört“-Berliner. Nach seiner Ansicht ist das schöne Tätigkeitwort „meckern“ extra für den letztgenannten Typ der Berliner erfunden worden, was etymologisch freilich nicht stimmig ist. Nervig ist der lobende Berliner auf Reisen. „Sein Lob, das meist kritiklos und unbegründet ist, bringt ihn in innige Verbindung mit dem gelobten Objekt, nach der Melodie: ‚Was ich mir ansehe, ist eben immer gut – sonst seh ichs mir gar nicht erst an!‘“ Zu den negativen Eigenschaften gehört auch, dass er einer der schlechtesten Zuhörer ist, „er will selber“. Das macht auch den Tatendrang dieses Volksstammes aus, und die ganze Welt ist heute in Berlin zu Gast und sieht staunend, was der Berliner alles kann und macht. Und was er alles nicht kann, zum Beispiel Großprojekte.
Damit ist schon klar geworden, dass die Berliner ihre eigene Sprache haben. Ob es das Berlinerisch aber wirklich gibt, ist sprachwissenschaftlich gesehen weiterhin unklar. Es geht damit los, dass das Volk „berlinerisch“ sagt, die Sprachwissenschaft aber „berlinisch“. Na wat denn nu?
Im 15. Jahrhundert sprach und schrieb man das „Südmärkisch“, eine mittelniederdeutsche Schreibvariante, die niederländische, ostfälische und elbostfälische Kennzeichen aufwies. Am Ende des 16. Jahrhunderts eroberte das Ostmitteldeutsche Berlin, insbesondere durch die wirtschaftlichen Kontakte zu Meißen und Leipzig. Das ist die reine Wahrheit, wenn auch heute die Berliner oft mit den Sachsen nichts mehr zu tun haben wollen. Durch die Hugenotten gab’s später einen französischen Einfluss auf die Berliner Sprache, so wie es heute einen Einfluss des Schwäbischen gibt, vor allen Dingen rund um den Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg. Und wie die Gesellschaft driftete die Sprache immer weiter auseinander, als dann massenhaft Fabriken gebaut wurden und das Prekariat entstand. Die hoch oben saßen, sprachen Hochdeutsch, die unten waren, eben in der „Unterschicht“, sprachen Tiefdeutsch, eben diese etwas nachlässige Stadtmundart, die entweder als berlinisch oder berlinerisch bezeichnet wird.
Georg Butz schrieb dazu in seinem Aufsatz „Grundriss der Sprachgeschichte Berlins“ anno 1987, als Berlin sein 750. Jubiläum feierte: „Durch die schichtenspezifische Segregationstendenz wird daher die Stadtmundart bis heute vor allem in den traditionellen Arbeitervierteln verwendet, während in den bürgerlichen Bezirken zunehmend eine Standardsprache mit leichten regionalen Merkmalen anzutreffen ist.“ Wow!
Man ist also ganz unten, wenn man einen Berliner berlinern hört. Oder positiv ausgedrückt, man ist ganz dicht am wirklichen Leben der Stadt dran, denn „Slang ist der durchgescheuerte Hosenboden der Sprache“, wie es der US-amerikanische Schriftsteller Truman Capote einmal ausdrückte.
Der Berlinerische hat mit wunderbaren Worten die deutsche Sprache bereichert. Die offiziellen Duden- und sonstigen Sprachhüterinstitutionen weigern sich aber oft beharrlich, diese Worte in ihre Bücher aufzunehmen. Ein Beispiel ist „Daffke“, dass die Berliner aus dem Jiddischen „dafke“ (nun gerade) entlehnt haben. Wenn man etwas „aus Daffke“ sagt oder macht, heißt das so viel wie aus Trotz, nun gerade und oder nur zum Spaß.
Und auch die Formulierung „Wie die Kuh vorm neuen Tor“ hat einen berlinerischen, keinen landwirtschaftlichen Ursprung. 1836 wurde die Friedrich-Wilhelm-Stadt, im Nordwesten des alten Berliner Stadtbezirks Mitte und nördlich der Spree gelegen, um einen Zipfel erweitert, und dort fügte man mit dem Neuen Tor einen neuen zusätzlichen Durchlass in der Zoll- und Akzisemauer auf der Berliner Seite ein, wodurch eine direkte Verbindung zur Invalidenstraße und eine bessere Anbindung nach Nordwesten geschaffen wurden. Die auch 1836 fertiggestellten beiden Torhäuser mit ihren dreibogigen Vorhallen entwarf übrigens Karl Friedrich Schinkel.
Mit der Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs zwängten sich später mehrere Straßenbahnlinien durch das Tor, in das wegen seiner geringen Breite nur eine Schiene passte. Die Linien waren damals nicht wie heute mit Nummern bezeichnet, sondern mit Buchstaben. Es wird berichtet, dass die Linie Q manchmal eine halbe Stunde vor dem Neuen Tor warten musste, bis ihr Durchlass gewährt wurde. Man stand also, wenn man später diese Redewendung gebrauchte, wie die Straßenbahnlinie Q vorm Neuen Tor.
Das Neue Tor und die Torhäuser wurden im zweiten Weltkrieg zerstört, aber den „Platz vor dem Neuen Tor“ gibt es noch in der Stadtlandschaft, ebenso die beiden Torhäuser, vor einigen Jahren modern, aber im Respekt vor den historischen Vorbildern wiedererrichtet.
Vor einiger Zeit gab es eine Forsa-Umfrage mit dem unglaublichen Ergebnis, dass 69 Prozent der Deutschen die Berliner Schnauze lieben. Dennoch besteht keine Gefahr, dass sich dieser Dialekt seuchenartig im ganzen Land verbreiten wird. In Funk und Fernsehen ist das Berlinern obsolet, in der Schriftsprache auch. Und so wird es bleiben wie bei einem Zoobesuch: Man fährt nach Berlin, wenn man jemand berlinern hören will.