16. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2013

UN-Giftgasbericht als Interventionsvorwand?

von Jürgen Wagner

Der lang erwartete UN-Bericht über die mutmaßlichen Giftgasangriffe am 21. August 2013 in Syrien ist in einem Punkt eindeutig, nämlich dass ein solcher Einsatz tatsächlich stattgefunden hat. Die Urheberschaft bleibt aber weiter unklar (dies zu ermitteln war allerdings auch nicht der Auftrag der UN-Inspektoren). Alle diesbezüglichen Angaben sind allenfalls vage: Der Spiegel sieht etwa in der Richtungsangabe, aus der die Raketen kamen, ein mutmaßlich unter Regierungskontrolle stehendes Gebiet, einen klaren Beweis für die Täterschaft von Regierungstruppen. Auch die Süddeutsche Zeitung ist sich sicher: „Der Bericht weist keiner der Seiten in dem Bürgerkrieg die Verantwortung für den Angriff zu, das ließ das Mandat auch nicht zu. Er liefert aber starke Indizien dafür, dass Truppen des Regimes von Präsident Baschar al-Assad die Urheber sind.“
Diesen Behauptungen hält Clemens Ronnefeldt vom Versöhnungsbund entgegen: „Nach intensiver Lektüre des Dokumentes […] konnte ich keinen einzigen Satz oder Abschnitt im UN-Dokument finden, der die Interpretation rechtfertigt, ‚dass Truppen des Regimes von Präsident Baschar al-Assad die Urheber sind.‘” Mit den beiden Hauptargumenten, weshalb Assad-Truppen verantwortlich zu machen seien, setzt sich unter anderem Tony Cartalucci in einem Beitrag für das Ron Paul Institute for Peace and Prosperity auseinander. Weder stimme die Behauptung, die Rebellen würden nicht über das technische Gerät verfügen, um derartige Raketenangriffe durchzuführen, noch ließen sich aus dem UN-Bericht zweifelsfreie Rückschlüsse auf die Abschussstelle ableiten. Auch die bereits unmittelbar nach den Giftgasangriffen unter anderem von Bloomberg kolportierte Mitteilung, eine (anonyme) UN-Quelle habe bestätigt, die USA hätten Telefonate abgefangen, die bestätigten, Maher Assad, der jüngere Bruder von Bashar al-Assad, habe den Einsatz autorisiert, erscheint immer zweifelhafter.
So schreibt Robert Fisk im Independent, er stünde in Kontakt mit einem Augenzeugen, der diese Aussage widerlege: Trotz dieser mehr als dürftigen Beweislage sehen sich die allseits bekannten Hardliner wie die amerikanische UN-Botschafterin Susan Rice oder der britische UN-Botschafter Mark Lyall Grant durch den UN-Bericht in ihrem ohnehin feststehenden Urteil bestätigt, dass es die Regierungstruppen gewesen seien, die den Angriff verübt hätten. Wie nicht anders zu erwarten war, kommen russische Vertreter wie UN-Botschafter Vitaly Churkin zu einer gegensätzlichen Bewertung, nämlich dass die Urheberschaft durch den Bericht keineswegs bestätigt wäre. Noch dezidierter positionierte sich der russische Außenminister Sergej Lawrov gegen die Interpretationen aus dem westlichen Lager: „Sergej Lawrow bleibt hingegen dabei: Die Rebellen hätten die Attacke ausgeführt, um einen internationalen Militärschlag zu provozieren.“
Zu dieser Beschuldigung passt ein Artikel, als dessen Autoren das Nachrichtenportal Mint Press den jordanischen Journalisten Yahya Ababneh und Dale Gavlak, Korrespondentin der US-Nachrichtenagentur AP, anführt. Nach Befragung zahlreicher Personen vor Ort gelangt der Beitrag zu dem Ergebnis, für die Giftgastoten seien mit hoher Wahrscheinlichkeit Rebellen verantwortlich zu machen. Dass sie dazu in der Lage wären, steht außer Frage: Berichten zufolge wurden Rebellengruppen von Angestellten des US-Verteidigungsministeriums im Umgang mit chemischen Waffen unterrichtet. Der Mannheimer Morgen fasst jedenfalls die wesentlichen Aussagen des Artikels folgendermaßen zusammen: „Nach Aussagen der befragten Rebellen seien diese von einem Saudi, der unter dem Decknamen Abu Ayesha ein Bataillon von Rebellen gegen Assad anführt, beauftragt worden, verschiedene Waffen, die die ‚Form von Rohren‘ und riesigen Gasflaschen gehabt hätten, in Tunnels zu verwahren. Sie seien nicht informiert worden, worum es sich bei diesen Waffen gehandelt hätte, noch wie man sie einsetzen würde. Dale Gavlak ist eine seriöse Journalistin, die seit zwei Jahrzehnten aus dem Mittleren Osten für AP, das amerikanische ‚National Public Radio‘ und BBC berichtet. AP allerdings weigerte sich diesmal, ihren Beitrag zu veröffentlichen. Der Artikel erschien erstmals im unabhängigen, im amerikanischen Minnesota stationierten Internetportal ‚Mint Press‘.“
Nachdem der Artikel zunächst hohe Wellen geschlagen hatte, wurde es drei Wochen nach seiner Veröffentlichung auf Mint Press allerdings dubios: Zunächst teilte Gavlak mit, ihr Ko-Autor Yahya Ababneh habe den Bericht komplett alleine verfasst, sie dränge deshalb über ihren Anwalt darauf, dass das Nachrichtenportal ihren Namen von dem Artikel entferne, was von diesem aber abgelehnt werde. Danach gab sie über ihren Anwalt an, sie habe zwar bei der Übersetzung aus dem Arabischen ins Englische und bei der Anfertigung des Artikels geholfen und den Artikel Mint Press angeboten, noch vor der Veröffentlichung jedoch in einer Mail darum gebeten, nicht als Autorin genannt zu werden. Mint Press veröffentlichte daraufhin in einer ausführlichen Stellungnahme seine Sicht der Dinge. Demnach sei der Artikel von Gavlak angefertigt worden und sie habe in Mails nach Veröffentlichung des Artikels angedeutet, dass „Dritte“ immensen Druck auf sie ausüben würde, sich von dem Beitrag zu distanzieren. Was genau geschehen ist, bleibt spekulativ.
Doch es gibt auch darüber hinaus andere Berichte, die den Verdacht, für die Giftgasangriffe könnte die Rebellenseite verantwortlich sein, untermauern. So etwa die Aussagen von Pierre Piccinin, Lehrer und ursprünglich Sympathisant der Aufstandsbewegung und Domenico Quirico, Kriegsberichterstatter für die italienische Tageszeitung La Stampa. Sie wurden von einer Rebellengruppe inhaftiert und berichteten beide nach ihrer Freilassung, sie hätten Gespräche belauscht, die belegen würden, dass die Giftgasangriffe von den Rebellen verübt worden seien. In Deutschland wurden diese Aussagen unter anderem vom Tagesspiegel und Frontal 21 aufgegriffen. Hier eine Zusammenfassung von Radio Utopie: „So sagte Piccinin in einem Interview mit RTL Radio Belgien, dass es seine moralische Pflicht ist, darauf hinzuweisen, dass nicht die Regierung von Bashar al-Assad Sarin oder andere Arten von Gas in den Außenbezirken von Damaskus eingesetzt hat. Piccinin betonte, dass sie während ihrer Gefangenschaft von der Außenwelt abgeschnitten waren und keine Ahnung davon hatten, dass chemische Waffen eingesetzt wurden. Während diesem Zeitraum hörten sie ein englischsprachiges Skype-Gespräch zwischen ihren Entführern und andere Männern – Rebellen, nicht von der Regierung – über den Einsatz von chemischen Waffen am 21.August in der Nähe von Damaskus als einen strategischen Schritt der Opposition. In der italienischen Zeitung La Stampa sagte Quirico, dass in diesem Gespräch über einen Gasangriff auf zwei Wohnviertel von Damaskus als Provokation gesprochen wurde um den Westen zu einer militärischen Intervention zu veranlassen. Quirico sagte, dass sie kaum etwas von der Situation im Land und somit nichts von dem Gasangriff in Damaskus erfuhren.“
Es deuten also mehr Indizien darauf hin, dass die Angriffe tatsächlich von Rebellenseite verübt wurden. Ausgeschlossen ist ein solches Szenario jedenfalls keineswegs, hatte doch selbst Carla del Ponte, Mitglied der UN-Sonderkommission für die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in Syrien, mit Bezug auf vorherige Fälle mutmaßlicher Giftgaseinsätze angegeben, vieles spreche dafür, dass diese von Aufständischen verübt worden seien. Von „glasklaren Beweisen“ für eine Urheberschaft der Assad-Regierung kann jedenfalls auf Grundlage des nun veröffentlichten UN-Berichts keine Rede sein. Dass nun die üblichen Verdächtigen dennoch auf ein UN-Mandat nach Kapitel VII drängen, um Syrien gewaltsam „entwaffnen“ zu können, unterstreicht einmal mehr den schäbig instrumentellen Umgang mit der Chemiewaffenfrage, aber auch dem Konflikt insgesamt.

Der Beitrag ist zuerst als IMI-Standpunkt 2013/052 (17.09.2013) der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. – www.imi-online.de – erschienen. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors; redaktionell leicht gekürzt.