von Renate Drommer
Im Dezember 2009 war ich in Isla Negra. Ein magischer Ort, dessen Aura gegen den täglichen Strom von Touristen aus aller Welt unempfindlich zu sein scheint. Die Brandung des Pazifik übertönt das Sprachgewirr aus japanisch, spanisch, russisch, englisch und deutsch. Das Haus, angefüllt mit bunten Gläsern und Flaschen, mit Meerestreibgut – eine Schiffsplanke diente dem Bewohner als Schreibtisch – farbig bemalten Frauenleibern, einstmals Galionsfiguren großer Segelschiffe, Muscheln, Steinen, Fotos und Gemälden, ist über Jahrzehnte gewachsen, hat sich gedehnt und geweitet wie sein Besitzer.
Pablo Neruda kaufte das Grundstück am Meer 1939, um sein Poem „Der große Gesang“ zu beginnen. „Dafür brauchte ich einen Arbeitsplatz. Ich fand ein Steinhaus am Ozean, in einem völlig unbekannten Ort namens Isla Negra […] Die wilde Küste von Isla Negra mit ihrem ozeanischen Aufruhr gestattete mir, mich mit Leidenschaft der Aufgabe meines neuen Gesanges zu widmen.“ Was ihn antrieb, war eine Umkehr. „Die Berührung mit Spanien hatte mich gestärkt, und ich war gereift. Die bitteren Stunden meiner Dichtung mussten ihren Abschluss finden. Der schwermütige Subjektivismus meiner „Zwanzig Liebesgedichte“ und die schmerzliche Leidenschaftlichkeit von „Aufenthalt auf Erden“ gingen ihrem Ende zu. Mir schien, als wäre ich einer unterirdischen Ader auf der Spur… “, bekennt der Dichter in seinen Memoiren. Als chilenischer Konsul in Spanien hatte Neruda den faschistischen Putsch General Francos gegen die demokratische Republik erlebt, die Zerstörung seines „Hauses der Blumen“ in Madrid und den Mord an seinem Freund, dem Dichter Federico Garcia Lorca. „Nie wieder habe ich wie bei ihm Anmut und Genie, ein beflügeltes Herz und eine Stimme wie eine kristallne Kaskade vereint gesehen. Naiv und komödiantisch, kosmisch und provinziell, ein einzigartiger Musiker, ein blendender Mime, scheu und abergläubisch, strahlend und gütig, war er eine Art Zusammenfassung der spanischen Zeitalter.“ Neruda, der sich zur Republik bekannte, wurde als Konsul abberufen. Der Gedichtband „Spanien im Herzen“ ist die poetische Frucht dieser Jahre. Die politische Konsequenz der spanischen Ereignisse war Nerudas Eintritt in die Kommunistische Partei Chiles.
„Der Große Gesang“, 1939 in Isla Negra begonnen, begleitete den aus seiner Heimat vertriebenen Dichter beim heimlichen Weg über die Anden nach Europa, ins Exil und wird erst zehn Jahre später vollendet.
Als ich 2009 Isla Negra besuchte, stand ich am Grab Nerudas. An der Seite seiner Frau Matilde Urrutia ist er dort begraben. Das war sein Wunsch. Ein Hinweis auf die Umstände seines Todes fehlt. Der Kommentar der spanisch sprechenden Touristenführerin ist sparsam und vermeidet politische Aussagen.
Neruda starb am 23. September 1973 in der Klinik „Santa Maria“ in Santiago, genau zwölf Tage nach dem gewaltsamen Sturz Salvador Allendes. Sein Begräbnis, an dem Hunderte Menschen teilnahmen, von bewaffneten Soldaten beobachtet und bedrängt, wurde zum Protestmarsch gegen die Militärjunta. Ein mexikanisches Kamerateam dokumentierte den Weg vom Haus Nerudas bis zum Friedhof. Mutige Männer und Frauen riefen wieder und wieder den Namen des Dichters und die Menge antwortete stellvertretend für den Toten: „Presente, ahora y siempre“ („anwesend, jetzt und immer“). Wir wissen, dass in den ersten Wochen des faschistischen Regimes das Wüten der Soldaten gegen das Volk am grausamsten war. Vierzigtausend Gefangene wurden im Estadio Nacional zusammengetrieben, viele von ihnen gefoltert und ermordet, darunter der Sänger Victor Jara. Die Gesamtzahl der Toten wird heute auf 5.000 geschätzt. Dem Ermittlungsrichter Mario Carroza liegen in diesen Tagen die Akten von 700 politischen Morden vor. Angehörige von Opfern haben weitere 400 Personalakten eingereicht. Jeder einzelne Fall soll und muss aufgearbeitet werden, um das Militär-Regime Pinochets anzuklagen und die Mitschuld der USA öffentlich zu machen. Die CIA hatte sofort nach Allendes Wahl am 4. September 1970 begonnen, seinen Sturz vorzubereiten. Einen Anschlag kurz vor seiner Amtseinführung am 24. Oktober hatte der Präsident unverletzt überlebt.
Nerudas sterbliche Überreste konnten erst 1990, nach dem Ende der Militär-Diktatur, von Santiago nach Isla Negra übergeführt werden. Ein großer Stein schmückt sein Grab am Meer. Hier ehrte Mikis Theodorakis den Freund mit einem Lied, der Vertonung seines Gesanges „Die Vögel erscheinen“. Neruda kannte es nicht. Das Konzert, das Theodorakis in Santiago geben wollte, musste wegen des Militärputsches abgesagt werden. Überzeugt, dass der Dichter ihm zuhört, sah der griechische Komponist in dem großen bunten Vogel, der in diesem Augenblick vom Himmel fiel, ein Zeichen.
Im Frühjahr dieses Jahres wurde das Grab Nerudas in Isla Negra geöffnet, seine sterblichen Überreste erneut ausgegraben und nach Santiago gebracht. Warum stört man die Ruhe des Dichters, was ist passiert? Seit Jahren schon behauptet der Fahrer Nerudas, sein Chef wäre im Krankenhaus mit einer Giftspritze ermordet worden. Die Kommunistische Partei hat nun diese These aufgegriffen, Klage beim Obersten Gericht eingereicht und eine Untersuchung des Falles erwirkt. Bis heute ist dabei nicht viel mehr herausgekommen als das, was wir schon wissen: Neruda war krank, er hat den Posten als Botschafter seines Landes in Paris vorzeitig verlassen müssen, weil es ihm schlecht ging. Er litt an Prostata-Krebs. Die Ereignisse in Chile, der gewaltsame Sturz Allendes und dessen Tod, das Wüten der Soldateska haben seinen Zustand verschlimmert. Ich traue den Handlangern Pinochets jede Untat zu. Dazu bedarf es keines juristischen Beweises nach 40 Jahren. Sie haben Nerudas Häuser zerstört, seine Gedichte verboten, ihm die Wurzeln abgeschnitten. Gift genug, um ihn zu töten. Wozu der juristische Befund? Was hat die Kommunistische Partei gewonnen, wenn der Gift-Verdacht sich bestätigt? Bedarf sie des Leichnams ihres Nobelpreisträgers, um sich zu profilieren? Die Morde an den unbekannten Opfern, an den zahllosen Vermissten müssen nach vierzig Jahren aufgeklärt werden. Stattdessen sorgt die Leiche Nerudas, der Giftmord als Skandal-Story, für Schlagzeilen in den europäischen Zeitungen. Warum nicht die lebendige Dichtung?
„Nicht verloren ging das Leben, hirtenhafte Brüder./ Aber einer wilden Rose gleich/ fiel ein roter Tropfen ins Dickicht,/ und eine Erdenlampe erlosch“, hatte Neruda gesungen. Seine Verse, vorgetragen in Schulen und auf Plätzen, seine Oden auf Flugblättern, seine tönende Stimme in den Parks und auf den Straßen. „Der große Gesang“ aufgeführt im Herzen Santiagos und in den Hauptstädten der Welt, welch eine Ehrung für den Dichter zu seinem 40. Todestag.
Schlagwörter: Chile, Pablo Neruda, Renate Drommer, Salvador Allende, Spanien