16. Jahrgang | Nummer 15 | 22. Juli 2013

Lenin im politischen Kampf

von Bernhard Mankwald

In allen innerparteilichen Kämpfen folgte Lenin einer im Grunde ziemlich einfachen Logik des Polarisierens und Spaltens. Sein hauptsächliches Feindbild sind die „Opportunisten“, worunter er zunächst Kritiker wie Bernstein und seine Gesinnungsgenossen versteht. „Opportunisten“ leugnen die Grundlagen des Marxismus und hören damit in Lenins Augen auf, Marxisten zu sein. Diese Grundlagen bestehen für Lenin nicht im wissenschaftlichen Ansatz, sondern in einigen sehr weitreichenden Folgerungen, auch wenn Marx‘ detailliertere Analysen diese nicht unbedingt bestätigten.
Ein universal anwendbares Argument gewinnt Lenin, indem er alle Gegner seines Organisationskonzepts als „Opportunisten in der Organisationsfrage“ diffamiert. Nach dieser Logik kann man nur noch Marxist sein, wenn man in Lenins Organisation mitarbeitet.
Nach 1914 kommt dann noch die neue Rubrik der „Sozialchauvinisten“ hinzu, die nun den Inbegriff des Verrats an sozialistischen Prinzipien darstellt. Aber auch jede Abweichung von Lenins Auffassung des Imperialismus wird von ihm als Bruch mit dem Marxismus gewertet. Bei all diesen Diskursen wird ein „marxistischer“ Standpunkt ohne weitere Prüfung mit der Wahrheit gleichgesetzt, ein „nicht-marxistischer“ mit Irrtum und Verrat. Ebenso stillschweigend werden die Angehörigen der eigenen Partei gleichsam von Amts wegen als Marxisten und legitime Vertreter des Proletariats betrachtet – jedenfalls so lange, bis sie sich „Fehler“ oder „Abweichungen“ zuschulden kommen lassen. Dann erweist sich die angemaßte Definitionsmacht, was marxistisch und proletarisch ist und was nicht, auch in der innerparteilichen Auseinandersetzung unter Bolschewiki als nützliches Werkzeug.
Fasst man diese Argumentationslinie in einem Satz zusammen, so kommt man zu folgender Definition: Wahr ist das, was die bolschewistische Führung für wahr erklärt. Die Grenze von der Wissenschaft zum Dogma ist damit unauffällig, aber, wie sich zeigt, unwiderruflich überschritten, und Lenin findet denn auch gar nichts dabei, den eigenen Standpunkt als „Orthodoxie“ zu bezeichnen. Orthodox aber ist im Wortsinn jemand, der das richtige Dogma, die rechte Glaubenslehre besitzt.
Entsprechend grobschlächtig ist Lenins Art der Polemik. Hatte Marx seine Gegner meist sehr geistreich, gelegentlich auch unbegreiflich banal, aber stets individuell abgefertigt, so ist Lenin zufrieden, wenn er die seinen in eine Kategorie wie Opportunisten, Revisionisten, Nachtrabpolitiker, Lakaien der Bourgeoisie, Sozialchauvinisten oder Versöhnler einordnen kann. Besonders stereotype Schmähungen findet er für seine Erzfeinde. So ist Bernstein stets „herostratisch berühmt“ – nach einem Griechen der Antike, der angeblich den Artemistempel in Ephesos anzündete, nur um in die Geschichte einzugehen. Kautsky hingegen wird in Lenins späteren Schriften derart monoton als „Renegat“ bezeichnet, dass sich unter Studenten gewisser Universitäten die Meinung herausbildete, das Wort bezeichne seinen Vornamen.
Lenin ersetzte politische Argumentation in vielen Fällen durch Beschimpfungen. Es genügte, einen politischen Gegner etwa als „wildgewordenen Kleinbürger“ zu apostrophieren, um über ihn die Oberhand zu bekommen. Allerdings setzte dies die Macht voraus, ihn an einer Entgegnung an gleicher Stelle zu hindern. Innerhalb seiner politischen Organisation hatte Lenin diese Macht stets; mit dem Oktober 1917 stand er davor, sie auf die ganze Gesellschaft auszudehnen.
Lenin bewegt sich mit seinen Publikationen meist in den Niederungen einer reichlich stereotypen Polemik. Auch wenn er einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, wie in seinen Schriften über den Imperialismus, ist sein Blick von Vorurteilen getrübt. Zudem scheinen viele seiner Thesen vorwiegend taktischen Zwecken zu dienen, so etwa die willkürliche Konstruktion einer gänzlich neuen historischen Phase, in der auch neue – selbstverständlich von Lenin festgesetzte – Regeln für die politische Strategie und Taktik gelten.
Als Wissenschaftler war Lenin insgesamt nicht gerade ein Vorbild; als Ideologe, als Wortführer der sich formierenden neuen bürokratischen Klasse jedoch war er der Mann der Stunde.

Zuerst veröffentlicht in – Bernhard Mankwald: Die Diktatur der Sekretäre. Marxismus und bürokratische Herrschaft, Books on Demand, Norderstedt 2006, Seite 118 f.; in der vorliegenden Fassung wurde auf den Anmerkungsapparat verzichtet.