16. Jahrgang | Nummer 14 | 8. Juli 2013

Deutschland – Russland: Was verbindet, was trennt?

von André Sikojev

Bisweilen scheint es so, als sei Russland in der deutschen Öffentlichkeit vergessen. Dem ist aber offensichtlich ist es nicht so, denn immer wieder beleben Beiträge über den künftigen Umgang in unterschiedlichen Medien die Debatte. Allerdings durchlaufen Russland und Deutschland eine neue, schwierige Konfliktphase.
Russland und Deutschland haben sich im Laufe ihrer Geschichte über lange Zeiträume sehr nah und verbunden erlebt, insbesondere seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon 1813/1814. Traditionell eng waren die Verbindungen zwischen den deutschen Fürsten- und Königshäusern und den russischen Zaren. Auch heute arbeiten tausende deutscher Ingenieure, Wissenschaftler, Kaufleute und hunderte Unternehmen erfolgreich in Russland, und viele hunderttausende russischsprachiger und christlich-orthodoxer deutscher Staatsbürger geben Beispiele selbstverständlicher Integration. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Weltkriege des 20. Jahrhunderts als apokalyptische Ausnahmen.
Das Bewusstsein dieser historischen und kulturellen Nähe zueinander wurde bei der Ausstellung „Deutschland Russland“ im vergangenen Jahr in Berlin offenkundig. Obwohl in vieler Hinsicht schwach und verschenkt, war die Ausstellung trotzdem ein großer Erfolg, wurde rege besucht und war ein emotionales Highlight in dem eher düsteren Kulturjahr 2012.
Diese große Verbundenheit der beiden Völker, der Menschen, die historisch gewachsene Interessensnähe von Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur ist umso erstaunlicher, als sie schrecklichsten Tragödien beider Nationen standgehalten hat: Erster Weltkrieg, Hitler-Stalin-Pakt, Zweiter Weltkrieg, sowjetische Besatzungszeit nach 1945, Kalter Krieg. Als Nachklang hierzu kommen neue Elemente der deutschen Bündnispolitik nach 1991 hinzu: die in Russland sehr kritisch wahrgenommenen NATO-Osterweiterungen, die Beteiligung deutscher Truppen im Rahmen von NATO-Einsätzen in Ex-Jugoslawien, die Anerkennung des Kosovo. Aber auch das mediale Trommelfeuer während des georgischen Überfalls auf Süd-Ossetien, deutsche Kritik an der Inhaftierung von M. B. Chodorkovski und Mitgliedern der Band „Pussy Riot“ hätten das Verhältnis fast wieder in den Zustand vor 1991 geführt. In der deutschen Presse wird Wladimir Putin propagandistisch als Diktator tituliert.
Die Wahrnehmung des Verhältnisses Deutschland – Russland wird heute geprägt von einer Krise der gegenseitigen politischen Beziehungen, besser gesagt einer kommunikativen Struktur-Krise zwischen den Eliten. Diese Krise hat mehrere Ursachen – und zwar in beiden Ländern.
Deutschland steht im Fokus massiver Umwälzungen seiner demokratischen und wirtschaftlichen Systeme. Die Bruchstelle verläuft zwischen global agierenden, internationalen, US-amerikanisch geprägten Finanzoligarchien einerseits und nationalem Unternehmertum sowie der traditionell agierenden Parlamentsdemokratie. Vor unseren Augen kollabiert meines Erachtens der historische Versuch, eine europäische transnationale Einheit mittels einer wirtschaftspolitisch schwer legitimierbaren gemeinsamen Währung herbeizuführen. Die Rettung des Euro zur Rettung Europas zu stilisieren und als „alternativlos“ zu deklarieren, trägt dabei zum Teil hochideologische Züge. In der Verhaltenspsychologie nennt man das Tunnelblick. Hinzu kommt aktuell, dass sich Regierung und Opposition im Wahlkampfmodus bewegen und sich deshalb Politiker zum deutsch-russischen Verhältnis eher in destruktiver polemischer Weise zu Wort melden.
Russland durchläuft bereits seit dem Ende der Amtszeit Dmitri Medwedjews eine neue Krise seiner Institutionen – im Inland wie im Verhältnis zum Ausland. Putin hat zu Beginn seiner dritten Amtszeit diese Krise erneut in den Mittelpunkt der russischen Strategien gestellt. Die historische Sollbruchstelle in Russland verläuft seit Jahrhunderten an der ungelösten Frage des Verhältnisses von Volk und Staat. Harmonisierungsprozesse, wie sie sich in Westeuropa seit der Französischen Revolution vollzogen haben, wurden immer aufs Neue unterdrückt. Nach der erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung unter dem letzten Zaren, Nikolai II., haben Weltkrieg und Revolution sowohl dessen synergetische Befriedung der Verhältnisse nach Innen (Terrorismusbekämpfung, Landwirtschaftsreform, Erschließung Sibiriens, Bildungsreform, Kirchenreform) beendet als auch der Krieg der Bolschewiken gegen das eigenes Volk unter Stalin, aber auch unter seinen Nachfolgern das Land in die Stagnation geführt.
Nicht zuletzt muss die Tragödie des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion mit in der Folge 27 Millionen Kriegstoten sowie einer zu nahezu 100 Prozent kriegstraumatisierten Bevölkerung in dieser Retrospektive auf die letzten 20 Jahre der deutsch-russischen Beziehungen ebenfalls in den Blick genommen werden.
Heute resultiert die Krise Russlands nicht aus einem Legitimationsdefizit des russischen Präsidenten, wie es die deutsche Presse ihren Lesern regelmäßig weismachen will, sondern aus einem Mangel an zentralstaatlicher Durchgriffs- und Exekutiveffizienz. Milliardenschwere Wirtschaftsförderprogramme (Nano-Technologie, Nordkaukasus Region) scheitern an Oligarchen mit eigener Bereicherungsagenda (zum Beispiel A. Tschubais im Technologiebereich), am fehlendem Mittelstand, an systematischer Subventionsabschöpfung oder an einer korrupten Bank- und Ministerialbürokratie. Aberhunderte Milliarden Euro versickern im Sand! Hinzu kommen ebenfalls milliardenschwere mafiöse Clans, die ganze Wirtschaftszweige (wie zum Beispiel die Holzindustrie) oder ganze Regionen (Kaukasus, Ferner Osten) beherrschen.
Der Riss, der heute durch die Gesellschaft Russlands geht – und zwar eben nicht in Moskau oder Petersburg, sondern in den Städten, Dörfern und Regionen vom Westen bis in den Fernen Osten, von Sibirien bis in den Kaukasus – ist keine horizontale Spaltung, wie im Westen suggeriert wird. In Russland sind nicht Regierung, Präsident, Gouverneur, Bürgermeister vom Volk getrennt. Die Trennung verläuft vielmehr vertikal und basiert auf ethischen, religiösen, wirtschaftlichen und kulturellen Differenzen. Genau deshalb wird Putin von einer breiten Bevölkerungsmehrheit – trotz partieller Wahlfälschung – gewählt, genau deshalb weisen die Russisch-Orthodoxe Kirche und ihr Patriarch Höchstwerte im gesellschaftlichen Vertrauensranking auf. Genau deshalb aber auch gibt es gescheiterte Regionen wie Dagestan!
Weil jedoch in Russland insgesamt Stabilität herrscht, gibt es eine erfolgreiche internationale Wirtschaftskooperationen in der Automobilindustrie, Bauindustrie, Leichtindustrie. Zugleich sind allerdings hochbrisante Fehlentwicklungen und Stagnation in der Elektroindustrie, Landwirtschaft, Luft- und Raumfahrt, bei neuen Technologien und im Maschinenbau zu verzeichnen.
Der eigentliche Streit zwischen Russland und Deutschland ist nicht im wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Bereich angesiedelt, sondern eher in der politischen Kultur. Im Westen ist es zum Beispiel schwer verständlich, dass das orthodoxe Christentum heute in Russland eine solch immense Rolle spielt, und zwar in jeder Region und in jedem Lebensbereich. Dabei ist es weniger entscheidend, dass sich je nach Statistik 60, 70 oder 80 Prozent der Russen als orthodox bezeichnen. Diese Aussagen sind irrelevant. Viel entscheidender ist, dass nach belastbaren Umfragen zehn Prozent der russischen Bevölkerung bekennen, regelmäßig am kirchlichen Leben teilzunehmen – also nicht nur an Weihnachten oder Ostern einen Gottesdienst besuchen, sondern regelmäßig beten, fasten, beichten, die Heilige Kommunion empfangen und christliche Sitten in ihrem Arbeits- und Lebensbereich pflegen. Das ist das eigentliche Wunder der neuesten russischen Entwicklung. Denn Russland hat im 20. Jahrhundert die größte Christenverfolgung der Weltgeschichte durchlitten. Nicht nur wurden tausende und abertausende Kirchen zerstört und die Gesellschaft vollständig säkularisiert. Russische Historiker haben bis zum heutigen Tag ziemlich genau eine Million namentlich bekannte „christliche Märtyrer“ identifiziert: Bischöfe, Priester, Diakone, Gemeindeälteste, Nonnen, Mönche, Diakone, Ikonenmaler, Glockengießer, Kirchenbauer, Künstler, Männer, Frauen und Kinder – die allein wegen ihres Glaubens ermordet worden sind. Die russische Kirche stand an der Schwelle ihrer völligen Vernichtung und historischen Untergangs.
Der Zwang des sowjetischen Regimes, sich 1941 von der Verfolgung Andersdenkender im Innern einem neuen tatsächlichen Feind von außen zuzuwenden, führte zur Auferstehung der Kirche 1943. Stalin ließ nun den Krieg als vaterländischen Volkskrieg gegen die deutschen Aggressoren titulieren. Die Kirche kehrte in die Gesellschaft zurück, daran änderte auch die zweite große Kirchenvernichtungs- und Verfolgungswelle unter Chruschtschow wenig. Die Breschnew-Jahre und die Jahrzehnte der Zwangskooperation und der Politintegration der Kirchenführung bleiben zwar ein dunkler Fleck in der russischen Kirchengeschichte – es waren aber eben auch Jahre der kirchlichen Liturgie, der Bewahrung des Wenigen, des Widerstands, der Askese, des Gebets und Jahre großer geistlicher Führer. Die Kirche hat das 20. Jahrhundert überlebt. Die seit 1993 von dem russischen orthodoxen Erzbischof Mark von Berlin und Deutschland geleitete Wiedervereinigung der Russischen Kirche – vollendet 2007 unter Patriarch Alexij II. und Mitropolit Laurus – gehört bereits heute zu den Meilensteinen der Gesamtgeschichte Russlands und der Russischen Kirche.
Zurück zum Kulturstreit mit dem Westen. Die Bedeutung des orthodoxen Christentums in Russland besteht in seiner zeitlich-ewigen Modernität. Die christliche Ethik und die Strukturen der orthodoxen Kirche sind heute das stärkste Brückenelement innerhalb der multinationalen und multikulturellen Bevölkerung des russischen Staates. Ihr Einsatz für die Grundbausteine der Gesellschaft, für die Familien und Gemeinden, für Kinder und Jugendliche, für die staatlich noch immer oft vernachlässigten Kranken und Alten, Gefangenen und Rechtlosen ist heute in Russland vorbildhaft. Ihr Einsatz bei humanitären Katastrophen – seien es Geiselnahmen, Überschwemmungen oder Flüchtlingsnöte – werden auch im säkularen Russland positiv wahrgenommen. Doch die programmatische Arbeit der Kirche, ihre administrative Demokratisierung, ihr Aufbau neuer Diözesen, neuer gesamtkirchlicher Konzilsorgane sind mindestens ebenso bedeutsam. Es besteht die Hoffnung, dass die einzigartige und spezifische Struktur der Orthodoxen Kirche, ihre Konziliarität, ihre Synergien von Hierarchien und Demokratie genau jene Synarchie vorzuleben in der Lage ist, derer es in Russland heute noch immer stark mangelt.
Warum wird der positive Wandel im geistigen Leben Russlands im Westen, auch in Deutschland, kaum wahrgenommen? Dabei ist die aktuelle politische Krise in den deutsch-russischen Beziehungen keineswegs, wie viele in Russland meinen, von jenseits des Atlantiks fremdbestimmt. Allerdings ist sie durchaus eine Krise der deutsch-russischen Institutionen. Vielen der in der Euphorie der 90er Jahre gegründeten Initiativen mangelt es an neuen Führungspersönlichkeiten. Vererbte – und erfolgreiche – Projekte wie der Petersburger Dialog stagnieren. Wichtige Programme wie der Jugendaustausch, Studentenaustausch, Qualifizierungs- und Bildungsprogramme leiden unter fehlender politischer und finanzieller Unterstützung – aus beiden Ländern. Lästigstes Symbol des Versagens – vor allem der deutschen Russlandpolitik – ist die bis heute nicht gelöste Visaproblematik. Eine Schande der deutschen – nicht der russischen – Ministerialbürokratie- und Verwaltung.
Ein weiteres Symptom: Vor kurzem durchlief eine Verleumdungswelle die deutsche Presse. Da wurde ein ausgewiesener Russland-Experte und angesehener Wissenschaftler und Autor in der Zeit und der Süddeutschen Zeitung gleichsam des Vaterlandsverrats und der Beleidigung Deutschlands geziehen! Was war geschehen? Alexander Rahr hatte schlicht den Finger in die Wunde gelegt und mit klaren Worten seine Frustration und Unzufriedenheit über den Niedergang und das letztliche Versagen der deutschen Osteuropa- und Russlandpolitik ausgesprochen. Er hatte offen und konstruktiv argumentiert und einen echten Neubeginn im Verhältnis Russland-Deutschland gefordert: weg von belehrender und ideologischer Erziehungsmission der Deutschen – hin zu einem respektvollen neuen Kennenlernen und einer pragmatischen Verantwortungspolitik. Dafür wurde er fast gesteinigt. Leider ist diese Art primitiver Hau-drauf-Propaganda symptomatisch für die derzeitige Lage.
Deutschland braucht wieder eine zentralisierte Osteuropa- und Russland-Forschungsinstitution. Es benötigt eine unabhängige, an den deutschen und europäischen Interessen ausgerichtete Wissenschaft, die alle Bereiche des reichen kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens Russlands erfasst. Durch regelmäßige Publikationen substantiierter Entscheidungsgrundlagen für Politiker und Unternehmer sollten eine derartige Ostforschung, aber auch die deutsche Zivilgesellschaft und die hiesigen Medien das Verhältnis Deutschland – Russland substanziell bereichern.

Der Autor dieses Gastbeitrages ist Priester der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland und Bevollmächtigter der ROCOR Synode am Sitz der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages.