16. Jahrgang | Nummer 13 | 24. Juni 2013

Home, Sweet Home

von Heinz W. Konrad

Das Wetter ist schön, und ich habe nichts wirklich Dringendes zu erledigen. Also nehme ich mir vor, mich einen ganzen freien Tag lang, so ganz ohne jede To-do list, zu Fuß durch mein geliebtes Berlin treiben und mich von all dem, was die Stadt an Verlockungen anbietet, gefangen nehmen zu lassen.
Weit entfernen von meinem randstädtischen Wohngefilde muss ich mich dafür nicht. Der nahe Frisör Hairplanes erinnert mich umgehend an meinen überwucherten Nacken, aber heute will ich damit nicht die Zeit vertrödeln. Auch nicht in der nahen Beauty Lounge, wiewohl eine dortige Sitzung meinem Äußeren und die vorhandene Air-Condition bei den bereits sommerlichen Temperaturen meinem Befinden gewiss gut täten.
Mit einem überlegenen Seitenblick passiere ich ein Assessment-Center; Berufsbewerbungen habe ich zum Glück mittlerweile nicht mehr nötig. Auch der in Sichtweite auftauchende Berlin Capital Club ist mangels Kapital keine wirkliche Adresse für mich, ich lasse ihn also ebenfalls links liegen. Ein Abstecher in die Tucholsky-Buchhandlung wiederum reizt mich sehr, zumal ich ihr beim Kauf eines Folianten der Buchhandlungs-Vereinigung Buy Local verdiente Solidarität erweisen würde. Solidarische Hilfe verschiedenster Art lässt sich auch beim Reisen leisten, wie mir verschiedene Reisebüros offerieren und unter dem Label Öko-fair gleich jede Menge entsprechender Destinations zu empfehlen wissen, auch last minute. Wer im Lande bleiben will, dem dürfte wiederum das Angebot der Deutschen Bahn All you can travel eine Überlegung wert sein. Überhaupt reizen mich Schaufenster wieder und wieder zum Innehalten. Plakatieren diese doch vielfach Sale und damit die Chance, ein ganz besonderes Schnäppchen zu machen, zumal die meisten Geschäfte ganz lange open sind.
Indes, schnöder Konsumismus ist nicht mein Ding, mich reizt vielmehr das Kulturangebot meiner Stadt. Und das ist üppig. Und so stehe ich vor der Wahl, in welches Kino und gar in welchen Film ich gehe. Das Cine Star bietet in seinen Sälen fast alles auf einmal, was unsereinen zu fesseln vermag: Fuck for Forest etwa oder doch After Earth? Oder aber Hangover III? – klassische Qual der Wahl zwischen all den vielen Blockbustern. Von cineastisch ganz anderem Reiz ist das International Queer Short Film Festival, das filmisch mit queerem Leben in verschiedenen Regionen bekannt machen will.
Unentschlossen mache ich mich über die Offerten anderer Kultursparten kundig. Poetry slams und Workshops sind derart reichlich vertreten, dass ich mich erst gar nicht auf eine Auswahl einlasse. Was den Auftritt der Chinese Princess of Piano in der Philharmonie angeht, sieht das schon anders aus, nur dass das Konzerthaus mit On the Sound Path nahezu gleichwertiges anbietet und ich mich einmal mehr in einer Bredouille sehe. Aber immerhin: Sprechtheater tuts bei mir ja auch, und Kill Your Darlings in der Volksbühne übt schon eine spürbare Anziehungskraft aus. Die Uraufführung des Musiktheaterprojektes For the Disconnected Child in der Schaubühne lockt aber ebenfalls sehr – mal sehn.
Gefangen nehmen lasse ich mich wieder und wieder auch von Showrooms, wo einem – um mit Fashion for Home nur ein Beispiel zu nennen – schicke Möbel vorgestellt werden. Oder anderswo, wo man beim Livecooking dabei ist. Wobei – kaufen will ich ja eben nicht, bestenfalls ein Ticket. Aber wofür? Für CAMERA WORK rocks, wo die Foto-Porträts einflussreicher Musiker der Neuzeit zu sehen sind? Oder für Painting Forever! mit zeitgenössischer Malerei? Mode wiederum ist weniger mein Ding, den Nemona Pop-Up Shop zum Beispiel klemme ich mir deshalb ebenso, wie ich die ganze Fashion Week sausen lassen werde. Dass bei den neunten Hybrid Talks in der UdK das Thema Usability dran ist, war ja wohl überfällig, nur kommt mir sein Termin leider ungelegen. Bei der Magic Horse Gala und bei den Pyro Games liegen die Dinge anders, die finden ja erst später statt und ich werde mich dafür frei halten…
Langes Laufen macht hungrig und ich sehe mich von Gelegenheiten, daran etwas zu ändern, regelrecht umzingelt. Ein Coffee to go tuts in diesem Falle nicht, und auch das Versprechen des Coffee shops, das da Nothing but a great taste lautet, bleibt in Sachen Appetit naturgemäß unter meinen Erwahrungen. Ich lasse mich schließlich von einem Flyer verführen, in einer Penthouse-Eventlocation zu chillen, woran mich zugegeben am meisten das Angebot All-you-can-eat reizt. Was ich nicht schaffe, kann ich schließlich im angebotenen Doggy bag mit nach Hause nehmen.
Womit nun ein wenig Sport fällig wäre, also passiver, denn aktiv habe ich mich durch meinen Marsch durch die genannten Berliner Institutionen ja genug betätigt. Und wieder mal habe ich die Qual der Wahl: Besuche ich ein Spiel der Volleyballer von Berlin Recycling Volleys oder eines der American-Footballer Berlin Bears, wobei mir in diesem Falle die Entscheidung allerdings der schmucken dortigen Cheerleaders wegen leicht fällt.
Es ist spät geworden, als ich meinen freien Tag mit einer entspannungssuchenden Heimkehr beende. Für einen One-Night-Stand ist es mittlerweile zu spät. Mist. Müde blättere ich noch ein wenig in den Reiseprospekten, die ich mitgebracht habe. Für eine verbindliche Entscheidung bin ich nicht hellwach genug, eines weiß ich aber doch schon: Anglophone Länder kommen nicht in Frage, dort würde ich mich viel zu sehr wie zuhause fühlen.
Irgendwo habe ich kürzlich gelesen, dass die Zahl der Anglizismen in der deutschen Sprache wieder rückläufig sei. Wenn das so ist, dann kenne ich auch deren Rückzugsraum: Berlin.