16. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2013

Letzte Gefechte

von Erhard Weinholz

Mitten auf dem Berliner Alexanderplatz stand ein Mann um die Vierzig… Aber was heißt „ein Mann“?… ein gut gekleideter Herr, Akademiker wahrscheinlich, und bot irgendwelche Hefte feil. Etwas Religiöses oder Esoterisches vielleicht? Nein – doch das hörte ich erst beim Näherkommen, denn diskret nur pries er seine Ware an: „Das Blatt der Kommunistischen Internationale, die neueste Ausgabe… das Blatt der Kommunistischen Internationale…“ Die Passanten machten einen Bogen um ihn, als halte er schmutzige Unterwäsche in den Händen. Nur eine alte Frau ging geradewegs auf ihn zu, sprach ihn an: „Der Kommunistischen Internationale? Das ist ja interessant! Zeigen Sie mal… gut, das nehm’ ich.“
„Und dann habe ich für Sie hier noch etwas…“ Mit der Linken griff er gewandt ins Mantelinnere; lächelnd zog er ein paar Broschüren hervor. Ich war in Eile, konnte nicht weiter verfolgen, was sich zwischen den beiden noch abspielte. Als ich eine halbe Stunde später erneut dort vorbeikam, war der Mann fort.

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Es war ein schöner Vormittag, wie so oft am 1. Mai. Demonstriert hatte ich in jenem Jahr nicht, aber ein bisschen feiern wollte ich doch, und so lief ich, vom Alex kommend, hinüber zum Festplatz rund um den Neptunbrunnen. Man lief damals unter Bäumen die Rathausstraße entlang; auch die Hochbeete aus DDR-Zeiten standen noch. Auf dem Rand eines dieser Beete saß im Schatten ein älterer Mann und hantierte mit einer Stange: Er zog eine Hülle ab und – aha – entrollte eine Fahne: drei farbige Längsstreifen, in der Mitte ein Wappen, darüber der Schriftzug „Partido Comunista Boliviano“. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung. War es vielleicht die Fahne der Partei, aus der Illegalität ins Exil gerettet, hatte ihr Zentralkomitee seinerzeit im Osten Berlins Zuflucht gefunden?
Jetzt, im Nachhinein, kommen mir Zweifel: Bolivien hat zwar ein Wappen, ein prächtiges sogar, aber es erscheint auf der Staatsflagge nicht. Über die Partei ist selbst im Internet wenig zu erfahren. Ein Verweis führt zu den Seiten der „Peking Rundschau“, und dort ist zu lesen, dass die bolivianische KP 1968 den Einmarsch der Sowjetrevisionisten in die Tschechoslowakei verurteilt hat. Kaum anzunehmen, dass sich ihre Führung in die DDR geflüchtet hatte.
Wie dem auch sei, der Mann trug, da bin ich mir sicher, die Fahne einer kommunistischen Partei Südamerikas, ihr Banner sozusagen. Doch niemand scherte sich um dieses Banner, niemand scharte sich darum, hier nicht und auch nicht am Neptunbrunnen, sein Träger blieb allein.

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Irgendwo auf dem breiten Mauerstreifen zwischen Kreuzberg und Mitte war unsere Demonstration zu Ende gegangen; Tafeln mit Losungen flogen auf die Ladefläche eines Kleintransporters, Fahnen und Spruchbänder wurden zusammengerollt. Immerhin erwarteten uns auf dem Ödland einige Stände; Kaffee, Bier und Bockwurst waren im Angebot, dazu allerlei Infomaterial. Ein Stück abseits saß ein Mann in der prallen Sonne, vor sich – auf zwei umgestülpten Obstkisten – einige Hefte. Mit desinteressierter Miene schlenderte ich vorbei, schaute kurz darauf: Es waren Schriften der KPD/ML (Neue Einheit). Die Partei war mir vom Namen her bekannt, auch hatte ich einige Zeit zuvor bei einem Trödler alte Nummern ihrer Zeitung gefunden. Besonders wetterte man darin gegen die Gruppierungen um die „Rote Fahne“ und den „Roten Morgen“, diese Cliquen von Speichelleckern und Lakaien. Wahrscheinlich hatte der Mann – immer sind es Männer, die sich solchen Dinge widmen – ein paar Restbestände bei sich im Keller gefunden; die Partei hatte sich ja wohl längst aufgelöst. Doch das war ein Irrtum; ihr Nachfolger, die „Gruppe ‚Neue Einheit’“, existiert sogar heute noch. Im Internet findet sich ihr gleichnamiges Blatt; alle paar Wochen wird ein neuer Beitrag eingestellt. Sie stammen ausnahmslos von einer Frau, Maria Weiß. Aber vielleicht steht dahinter ein breiter Kreis von Autoren, soll das immergleiche Pseudonym nur den Gegner täuschen? Und eines Nachts dann, da kracht die Tür vom Kolbenschlag.
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Vor etlichen Jahren wurden Bahnhöfe der Linie U5 rekonstruiert, zwischen Frankfurter Tor und Alex fuhr man mit dem Bus. Als ich wieder einmal dort einstieg, sah ich im raschen Vorübergehen in der offenstehenden Tasche des Fahrers ein Buch, dessen Umschlag mir bekannt vorkam. Aber vielleicht hatte ich mich auch geirrt; es wäre doch recht sonderbar, wenn ein BVGer…
An der Endhaltestelle stieg ich vorn aus, als Letzter, schaute wieder in die Tasche: Ja, das war das bekannte Porträt mit dem himmelblauen Hintergrund, wie es in den Achtzigern in allen DDR-Amtsstuben gehangen hatte – der Busfahrer, ein nicht weiter auffälliger Mann um die Dreißig, las in den Arbeitspausen, wer weiß, warum, Erich Honeckers „Aus meinem Leben“. 1980 war das Buch erstmals erschienen. Ich war zu der Zeit an einem gesellschaftswissenschaftlichen Akademie-Institut angestellt, und meine Kollegin P. hatte mich gefragt, ob ich es schon gekauft hätte. Lesen wollte ich es, ich wollte ja wissen, wie man ganz aktuell unsere Geschichte sah, aber kaufen? Es kostete immerhin 13,50 Mark. „Ich werde mal noch ein paar Jahre warten, dann krieg’ ich es wahrscheinlich ganz billig“, meinte ich. Sie lachte und nannte mich einen boshaften Menschen. Es hat dann aber doch erheblich länger gedauert mit dem Preissturz, als ich damals gedacht hatte.