16. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2013

„Auf dem Ochsenkarren zum Richtplatz“

von F.-B. Habel, Szczecin

Wenn die Polen einen Nationalfehler haben,
so ist es ihr übergroßer Nationalismus,
der sich aus der Geschichte ihres Staates
und aus der hundsgemeinen Behandlung herleiten läßt,
die sie jahrhundertelang von den Deutschen zu erdulden gehabt haben.
Peter Panter
Die Weltbühne, Nr. 26/1929

Keinen besseren Tag hätte die Bürgerinitiative „Kamienice Szczecina“ für ihr Vorhaben wählen können als den 10. Mai, den 80. Jahrestag der spektakulären faschistischen Bücherverbrennung auf dem Berliner Schlossplatz. Für Stettin ist keine solche Aktion nachgewiesen, aber mit Alfred Döblin, der hier geboren wurde, und Kurt Tucholsky, der hier sechs Jahre seiner Kindheit verbrachte, waren auch Stettiner von der Propaganda-Aktion betroffen.
Während Tucholskys Weltbühnen-Kollege Erich Kästner voller Beklommenheit miterlebte, wie seine Werke in Berlin dem Scheiterhaufen übergeben wurden, war Tucholsky selbst schon im sicheren Exil. An Walter Hasenclever schrieb er am 17. Mai 1933 mit sarkastischem Unterton: „Unsere Bücher sind also verbrannt. Im Buchhändlerbörsenblatt ist eine große Proscriptionsliste für in vierzehn Tagen angekündigt. Dieser Tage stand an der Spitze des Blattes im Fettdruck: ,Folgende Schriftsteller sind dem deutschen Interesse abträglich. Der Vorstand des Börsenvereins erwartet, daß kein deutscher Buchhändler ihre Werke verkauft. Nämlich: Feuchtwanger – Glaeser – Holitscher – Kerr – Kisch – Ludwig – Heinrich Mann – Ottwalt – Plivier – Remarque – Ihr getreuer Edgar – und Arnold Zweig.‘ In Frankfurt haben sie unsere Bücher auf einem Ochsenkarren zum Richtplatz geschleift. Wie ein Trachtenverein von Oberlehrern.“
Justyna Machnik und Dorota Misiek von der Bürgerinitiative, die sich im heutigen Szczecin dem Andenken an berühmte zeitweilige Bewohner der Stadt widmet, hatten sich mit Bartosz Wójcik von der Universität zusammengetan und veranlasst, dass am zweiten Wohnhaus der Familie Tucholsky in der Kronprinzenstraße 29 (heute nach dem polnischen Luftwaffengeneral Rayski benannt) eine Gedenktafel für den Schriftsteller angebracht und in einer spektakulären Aktion feierlich enthüllt wurde.
Zunächst trommelte vor dem Haus, in dem sich heute die gut renovierte Zentrale des polnischen Ölkonzerns Orlen befindet, eine Percussion-Gruppe der Universität die halbe Umgebung zusammen. („Es war ein bißchen laut“, schrieb der müde Tucholsky am Lebensende in sein „Sudelbuch“.) Dann gab es eine Feuer-Performance, die an die Bücherverbrennung erinnerte. („Nicht alle Feuer, die tiefrot glommen unter der Asche, gehen aus.“ – Kaspar Hauser, Die Weltbühne, Nr. 23/1919.) Die Orlen-Zentrale gestattete, dass sich alsdann Studenten auf einen Balkon in der ersten Etage begaben und von hier aus Texte des Meisters in Deutsch und Polnisch rezitierten, darunter Theobald Tigers „Ehekrach“. („Das ist schwer: ein Leben zu zwein. / Nur eins ist noch schwerer: einsam sein.“) Die Studenten trugen kleine Transparente mit markanten Tucholsky-Sätzen, wobei „Soldaten sind Mörder!“ nicht fehlen durfte. Nach kleineren Reden (auch ich hatte die Ehre, ein paar Worte zu sagen) wurde dann die Tafel enthüllt und man durfte ehrfürchtig das Treppenhaus betrachten, durch das der kleine Kurt auf seinem Schulweg gegangen war. Zu Ostern 1896 wurde Kurt hier eingeschult. Sein Biograf Michael Hepp schrieb: „Der Unterricht war patriotisch-preußisch; Ehre, Vaterland und Heldentod galten als mindestens ebenso wichtig wie das Einmaleins und die Grammatik. Der Kaiser brauchte Untertanen, gehorsam und dankbar, in der Schule sollten sie ihm erzogen werden. Auch Kurt Tucholsky bekam dort diese ,ehernen Werte‘ eingeimpft.“
Mit dieser Vorbildung war es vielleicht nicht verwunderlich, daß Tucholsky auch Irrtümer beging. Als 1920/21 eine Volksabstimmung darüber befinden sollte, ob Oberschlesien zu Polen oder zu Deutschland gehören sollte, setzte er sich vehement für die deutsche Seite ein. Doch er konnte sich auch revidieren. 1929 schrieb er dazu in einem Brief: „Ich hätte es nicht tun dürfen. Ich bereue, was ich da getan habe.“
In Polen hat sich Tucholsky in den Nachkriegsjahrzehnten durchaus Anhänger erworben. Schon Ende der fünfziger Jahre wurden erste Tucholsky-Übersetzungen in Polen verlegt. In jüngerer Zeit hat die beliebte polnische Schauspielerin Krystyna Tkacz eine CD mit Tucholsky-Chansons in polnischer Sprache veröffentlicht. Engagierte Deutschlehrer, beispielsweise in der schlesischen Stadt Mirsk, studieren mit Abschlussklassen Tucholsky-Programme in deutscher Sprache ein. Ohne pathetisch zu sein, kann man doch konstatieren, dass die Hinwendung der Polen zu einem sozialistischen deutschen Schriftsteller ein gutes Zeichen für das Zusammenwachsen Europas ist. Hier gibt es den besagten „Trachtenverein von Oberlehrern“ nicht mehr.