16. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2013

Nachmittag bei Van de Velde

von Renate Hoffmann

Jeder kleine Teil der Zeit, jede Minute
sehnt sich danach, ihre Seele einem
Kunstwerk einzuhauchen, das diese
Minute verewigen, ihre Seele in Ewigkeit
aufbewahren soll.
Henry van de Velde

Zuerst, wie es dem Antrittsbesuch zum 150. Geburtstag des Künstlers geziemt, in sein Weimarer Domizil. Das „Haus Hohe Pappeln“. Von den namengebenden Bäumen steht nur noch ein Exemplar. Auch liegt das Grundstück, von Henry van de Velde (1863-1957) als eine Art Rückzugsort ausgewählt, nicht, wie damals, auf dem Boden einer Vorortgemeinde, sondern nun fast mittendrin in der Klassikerstadt.
Der Vollzug verlief rasant: 1906 – Erwerb; 1907 – Vorlage des Bebauungsplanes; 1908 – Einzug von Henry, Marie-Louise, genannt Maria, geborene Sèthe und fünf Kindern. Der Hausherr, Maler, Architekt in autodidaktischer Aneignung und Designer, dessen unbändige Kreativität sich auf vielen Gebieten auslebt, gestaltet alles selbst. Von der Gartenanlage bis zum Gebrauchsgegenstand. Wohlüberlegt und der Prämisse folgend, dass ein zweckgebundenes Gesamtkunstwerk anzustreben sei – im Kleinen wie im Großen. Die neue Schönheit sieht Van de Velde im sachlich-schlichten Stil.
„Die Zeit des Ornaments aus Ranken, Blüten und Weibern ist vorbei!“, erklärt er kurz und bündig, löst sich vom Jugendstil und erhebt „die edle, die gekrümmte Linie“ zum gültigen Gestaltungselement. – Das hinwiederum entlockt dem heiteren Spötter Christian Morgenstern folgende Entgegnung: „An die Van de Veldes in allen Künsten – Es wirft die Linie sich herum, / als sähe sie ins Publikum. / Und läßt sie nicht von diesem Spiel, / so wird daraus – verlogner Stil.“
Trotz der beschworenen gerad- oder gekrümmtlinigen Sachlichkeit, wirkt Van de Veldes Haus an der Belvederer Allee 58 äußerlich ein wenig verbaut. Mit dem Eintritt wandelt sich das Bild. Sinnvoll, der jeweiligen Bestimmung dienend, sind die Räume um den zentralen Salon geordnet. Sogar den Lauf der Sonne bedachte Henry, als er die Innenstruktur entwarf. Viel Licht fällt herein, viele Blicke wandern hinaus in den Garten.
Die Ausstattung ist nicht mehr original „Van-de-Veldisch“. Aber in gewisser Weise doch. Das Mobiliar, vom Künstler 1904 für die Familie von Münchhausen entworfen, lebensgroße Figurinen und viele Details beleben das Haus. Henry schließt die Schiebetür seines Arbeitszimmers, betritt den Salon und lehnt am „Blüthner“, auf dem Maria gleich spielen wird. Sie ist eine sehr gute Pianistin. Im Speisezimmer erwarten die Kinder das Mittagessen. Ein Aufzug bringt es aus dem Souterrain nach oben. Zweckmäßigkeit, kurze Wege, Kultur.
Die Bauhaus-Universität – ein Wissens- und Gebäudekomplex mit wechselnder Geschichte. Zwischen der Großherzoglichen Kunstschule von 1860, als „Weimarer Malerschule“ bekannt, und der Universität mit vier Fakultäten und aktuell 40 Studiengängen liegt ein langer Weg. Der Belgier Van de Velde begleitete ihn entscheidend und profilgebend von 1902 bis 1915.
Das von ihm ins Leben gerufene „Kunstgewerbliche Seminar“ führte er zur „Großherzoglichen Kunstgewerbeschule“. Die auf dem gleichen Terrain wirksame Kunstschule erhielt 1910 den Rang einer „Hochschule für bildende Kunst“. Unter Walter Gropius’ (1883-1969) geschickter Leitung gelang die Zusammenführung beider Institutionen und ihrer gestalterischen Disziplinen. Am 12. April 1919 erfuhr das „Staatliche Bauhaus“ in Weimar seine Gründungsstunde. Der Hauptbeteiligte an der Grundsteinlegung aber heißt Henry van de Velde.
Während seiner Weimarer Jahre schuf  er nicht nur Werke im Sinne eines allumfassenden Kunstverständnisses, er gab zugleich der sich neuformierenden Kunstrichtung Denkart und Inhalt: Einfachheit, dem Nutzen verpflichtet; hohe handwerkliche Qualität; vernunftbetonte, klare Gestaltung. Und er hinterließ seiner Arbeits- und Lehrstätte zwei Bauten, die seit 1996 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen: Das HAUPTGEBÄUDE der Kunstschule (derzeit als Neubau zur Notwendigkeit geworden) und das KUNSTGEWERBESCHULHAUS.
Obwohl der Künstler jede Form von Repräsentation am Hauptgebäude ablehnte und der Funktionalität den Vorzug ab, entstand ein Bau, dessen herausragende Schönheit wahrhaftig in seiner Schlichtheit begründet liegt. Große Fenster, die sich im Obergeschoss in die Dachregion hinein biegen und für die nötige Helligkeit der Ateliers sorgen. Vorgewölbte Balkone lockern die Strenge der Fassade und geben gleichzeitig etwas von Van de Veldes Grundidee preis: Geschwungene Linie und Geometrische Form.
Im Vestibül herrscht geschäftige Regsamkeit. Junge Leute eilen die Gänge entlang, verschwinden hinter Türen, rufen sich zu. – Neben dem Treppenaufgang steht der Bronze-Abguss von Auguste Rodins’ „Eva“. Sie hält die Arme vor dem gesenkten Kopf verschränkt, in Schutzhaltung, als wäre sie hier nicht am rechten Platze.
Die Treppe ist Van de Veldes Meisterstück und aus der Not heraus geboren. Da sich ein anliegender Grundstückseigner durch das geplante neue Gebäude eingeengt fühlte, verlegte man das Treppenhaus, ursprünglich als Anbau vorgesehen, nach innen. Nun zieht der Treppenlauf in die Höhe, großzügig, elliptisch, wie aus einem eleganten Wurf erwachsen. Diese Stufen hinauf- und hinab zu wendeln, muss ein Vergnügen sein.
Wer sich dem geniehaften künstlerischen Spektrum des Henry van de Velde nähern möchte, der besuche das Weimarer „Neue Museum“. In der Ausstellung „Leidenschaft, Funktion und Schönheit“ werden mehr als 700 Schaustücke aus in- und ausländischen Museen und privaten Sammlungen vorgestellt. Sie zeigen den Ideenreichtum und den Gestaltungswillen des Mannes, der sich in den unterschiedlichsten Bereichen der Kunst versuchte und bewährte.
Modelle und Entwürfe von Zweck- und Wohnbauten; Gedenkhallen – wie für den Physiker Ernst Abbe in Jena; Innenausstattungen von Schiffen und der Belgischen Staatsbahn, nobel und bequem. Van de Velde, der sich in Buchkunst und Typografie tummelte; zum Exempel eine Edelausgabe von Nietzsches „Zarathustra“, für die er Ornamentik, Vortitel und Einband gestaltete. Möbel in Vielzahl, dazu das nötige Beiwerk. Feingliedriger Schmuck. Porzellane in Weiß und Fliederfarben auf einer festlichen Tafel präsentiert, ergänzt durch Gläser, Bestecke und Leuchter (es fehlt eigentlich nur das Kammertrio mit Tafelmusik). Man entdeckt die Vorliebe des „Alleskünstlers“, wie man ihn heutzutage bewundernd nennt, für Textilien und Mode. Das nachtblaue Samtkleid mit Bordüren (Kopie), bodenlang und in weichem Schwung fallend, würde ich tragen (und nicht nur ich; die konstant bleibende Damenrunde um das Modell lässt es ahnen). – Eingebunden in die große Schau sind die Zeitläufe und Van de Veldes Freundeskreis.
Im Foyer des Museums steht formvollendet, in Silber getrieben und zur Jubiläums-Ausstellung einladend, ein sechsarmiger Kandelaber. Wäre er nicht gesichert und wohlverwahrt, so möchte man ihm Geburtstagskerzen aufstecken.

Leidenschaft, Funktion und Schönheit. Henry van de Velde und sein Beitrag zur europäischen Moderne: Neues Museum Weimar, Weimarplatz 5; Dienstag bis Sonntag 10.00 Uhr bis -18.00 Uhr; noch bis zum 23. Juni 2013.