16. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2013

Ein Stück über Büchner – Eine Blasphemie?

von Ulrich Kaufmann

Der Schreiber dieser Zeilen erinnert sich, dass ihm 1987 in der Rostocker Wohnung des Autors Ulrich Völkel Teile eines Büchner-Romans gezeigt wurden, damals bereits auf einem Computer geschrieben. Den Text hat Völkel lange ruhen lassen und ihn nun – im Vorfeld des 200. Büchner-Geburtstages im Oktober diesen Jahres – überarbeitet vorgelegt.
Erzählt wird die Geschichte des DDR -Dramatikers Lukas Stadl, der in den späten achtziger Jahren vom Staatstheater Darmstadt den Auftrag erhält, ein Theaterstück über Georg Büchner zu schreiben. Wir erleben den Autor auf seinen Studienreisen nach Darmstadt, Straßbourg und Zürich, wo der Frühvollendete mitten in der Arbeit am „Woyzeck“1837 an Typhus starb. Einerseits hält Stadl erste Eindrücke vom Leben im „Westen“ fest, andererseits bleibt ständig präsent, was gleichzeitig in der DDR passiert: Das Land liegt in Agonie, die Regierenden lassen jeden Reformwillen vermissen, die Fluchtbewegung in die Botschaften in Prag und Budapest erfasst Tausende…
In Stadls Kopf entstehen Szenenentwürfe zu seinem Stück. Seine Materialrecherchen und Reflexionen werden zu Facetten einer Biografie des Wissenschaftlers, Revolutionärs und Dichters Büchner. Während Stadl von Georgs Liebe zu Minna, einer Straßbourger Pfarrerstochter, erzählt, denkt er an seine daheim gebliebene Frau Johanna. Geschickt spiegelt Völkel Büchners Biografie immer wieder mit der Stadls. Im Nachdenken über den radikalen Büchner, der im Umfeld des „Hessischen Landboten“ sein Leben und das seiner Freunde gefährdet, begreift Stadl, dass er selbst zunehmend zu einem Opportunisten geworden ist. Zwar leidet er an den Zuständen in der DDR, aber er nutzt lediglich seine guten Kontakte zur SED-Bezirksleitung, um hier und da Unhaltbares abzuwenden. Als weitaus tapferer erweist sich seine Frau Johanna, die als Redakteurin beginnt, Klartext zu schreiben und deshalb kurz vor ihrer Entlassung steht. Stadl ahnt aus der Ferne, wie es seiner Frau geht und bricht die Reise in das idyllische Straßbourg ab, um Johanna beizustehen.
Auf der letzten Seite erfährt der Leser, was er lange ahnt: Stadl wird das Drama nicht schreiben. „Ein Stück über Georg Büchner. Blasphemie!“ Der Dramatiker begreift, „dass es seine Zeit nicht mehr war. Ich denke“, sagt er zu seiner Frau, das ist „Elkes Zeit“, die Zeit ihrer gemeinsamen Tochter, die in der Endphase der DDR gleichfalls in beträchtliche Konflikte gerät.
Dem Roman merkt man den langen Entstehungsprozess an. Völkel findet keinen durchgehend überzeugenden Erzählton. Neben dichteren Passagen finden sich ganze Partien in einem trockenen Zeitungsstil. In seiner Vorrede ahnt dies der Autor selbst. Beim Überarbeiten habe er „Sätze entdeckt, die mit Literatur wenig zu tun hatten.“ Leider hat er längst nicht alle getilgt.
Hinzu gesellen sich vermeidbare Fehler in beträchtlicher Anzahl: Der Name der Lyrikerin Sarah Kirsch wird falsch geschrieben, die Dichter Hebel und Hebbel werden verwechselt, das französische Wort für Steintal erscheint fehlerhaft und und selbst das Wort „Hessen“ misslingt. Dass Lenz den „2. (!) Jenner“ durch „Gebirg“ ging, schmerzt den Büchnerianer. Es war bekanntlich der 20. und auf eine Monatsangabe hatte Büchner, wie neuere Ausgaben zeigen, ganz verzichtet.
Mit Hochachtung zitiert der Romanautor Heiner Müller und immer wieder Volker Braun, zwei Büchner-Preisträger, die die Fragen des Vormärzautors auf große Weise in moderne Kontexte gestellt haben. In der legendären Züricher Spiegelgasse, in der Büchner, Lenin und die Dadaisten lebten, begegnen sich eine Kunstfigur und ein wirklicher Dichter, Stadl und Braun. „Plötzlich ging (in Büchners Eingang – U.K.) die Haustür auf und Volker Braun trat auf die Straße. Er sah Lukas Stadl sitzen, ging auf ihn zu, lächelte vorsichtig, wie er meistens lächelte. Stadl konnte sich nicht erinnern, Braun je herzhaft laut lachen gehört zu haben. Ist er oben?, fragt Stadl. „Sieh hinein.“ Das Kursivgesetzte ist der Beginn von Brauns berühmtem Gedicht „Spiegelgasse“, welches Völkel anschließend komplett zitiert.
Der Autor zweifelt selbst, „ob es jemanden gibt, der dieses Buch lesen will.“ Vor allem Nachgeborene, die das Ende der DDR nicht selbst erlebt haben und mehr über einen Dichter wissen wollen, der für Wolf Biermann ein „Jahrtausenddichter“ war, sollten die Lektüre wagen.

Ulrich Völkel: Bonjour citoyen – Ein Roman um Georg Büchner, Burkhardt Verlag Erfurt, 2012, 208 Seiten