16. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Februar 2013

Nationalitätenfrage und Autonomie

von Gerd Kaiser

Sind „Nationalitätenfrage und Autonomie“ auch im Zeichen von Europäischer Union und Globalisierung noch eine Frage oder ist dieses zu Beginn des 20. Jahrhunderts diskutierte Thema eher durch der Zeiten Lauf überholt?
Ursprünglich gehörte die von Rosa Luxemburg unter dem eingangs genannten Titel zwischen Sommer 1908 und Sommer 1909 in Fortsetzungen geschriebene und veröffentlichte Schrift zu einer heftig diskutierten politischen Streitfrage in der europäischen Arbeiterbewegung. Im Meinungsstreit äußerten sich neben anderen auch Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Wladimir Lenin. In den folgenden Jahrzehnten wurden, wenn überhaupt, lediglich Teile des Luxemburgischen Erbes veröffentlicht, diese (ausgenommen jene Texte in den „Gesammelten Werken“, die im Dietz-Verlag zu Berlin erschienen sind) zudem nicht immer korrekt übersetzt oder gehäuft mit begrifflichen Ungereimtheiten versehen und nicht in den tatsächlichen historischen Zusammenhang gestellt.
Holger Politt ist nunmehr für die erstmalige vollständige Herausgabe in deutscher Sprache ohne Änderungen und Kürzungen, die sprachlich dem Original adäquate Übersetzung und vor allem auch für die sachkundige Erschließung des vor einem Jahrhundert erschienen Textes zu danken. Werk und Wirken Rosa Luxemburgs zeigen sich nicht nur mit europäischer Politik und Geschichte zu Anfang des 20. Jahrhunderts verbunden. Rosa Luxemburgs Schrift erweist sich nach einem Jahrhundert Erfahrungen mit zahlreichen lokalen und zwei Weltkriegen, nach jahrzehntelanger Erfahrung mit staatssozialistischer Nationalitätenpolitik sowie den bis heute andauernden politischen Auseinandersetzungen und Kriegen um nationale Fragen und Autonomie im Zeitalter der Globalisierung und EU nach wie vor brandaktuell. Kriege auf dem Balkan, erbitterte ethnisch motivierte oder kaschierte Auseinandersetzungen in Nato-Staaten wie Belgien, Spanien, Frankreich und Türkei sowie in Nachfolgestaaten der UdSSR, in Nahost, Asien und Afrika sind dafür brennende Zeichen.
Zu Recht verweist der Herausgeber darauf, dass der Zeitpunkt der vorliegenden Veröffentlichung nach dem unumkehrbaren Zusammenbruch des Staatssozialismus, womit sich der Leninsche Weg als Sackgasse der Geschichte erwiesen hat, nicht der ungünstigste ist, um Rosa Luxemburgs Position in der Nationalitätenfrage – trotz ihrer Fehleinschätzungen im Detail – in den Gesamtzusammenhang der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung einzubetten. Mit ihren Grundlinien bleibt sie auch in dieser Frage eine moderne, anregende Denkerin.
Ihre Überlegungen zum Thema, denen Wladimir Lenin einen unlogischen Charakter zuschrieb und verwarf, blieben auch in der PPS, der Polnischen Sozialistischen Partei, und unter führenden Köpfen der SDKPiL (der Sozialdemokratischen Partei des Königreichs Polen und Litauen, der Partei Rosa Luxemburgs), die später wie Adolf Warski und Wladislaw Leder zu Mitbegründern der Kommunistischen Partei Polens gehörten, nicht unwidersprochen. (Dem Andenken an die beiden Söhne des Letztgenannten, Stefan und Witold Leder widmete Holger Politt achtungsvoll die von ihm geschulterte Herausgabe der Schrift Rosa Luxemburgs.) Den Hintergründen und dem Verlauf sowie den Langzeitwirkungen der Auseinandersetzungen geht Holger Politt in seiner Einleitung kenntnisreich auf den Grund.
Allerdings wurden diese nach der ersten Veröffentlichung des Textes in der polnischen Zeitschrift „Przeglad Socialdemokraticzny“ zwar scharf in den Argumenten, aber nicht feindselig im Ton und respektvoll gegenüber Rosa Luxemburg geführt. So verteidigte Wladislaw Leder 1924 Rosa Luxemburg gegenüber den Ansichten Wladimir Lenins. Die Positionen der Hauptkontrahenten Lenin und Luxemburg in der Polemik um die nationale Frage analysierend, stellte er fest, Rosa Luxemburg habe sich „in ihrer Analyse der nationalen Frage auf eine sehr einseitige Weise durch die Interessen der praktischen Politik“ leiten lassen und deshalb die Möglichkeit „der Wiederherstellung eines nationalen polnischen Staates als eine Aufgabe der sozialistischen Politik“ verneint. Tatsächlich sah Rosa Luxemburg in der Wiedererrichtung des polnischen Staatswesens eine „bourgeoise Illusion“. Das war historisch wie politisch falsch. Das Recht der Nationen auf nationale Selbstbestimmung habe sie – so Leder – entgegen der von Lenin ausgesprochenen Meinung dagegen als offensichtlich und unbestritten betrachtet, „den elementaren Grundsätzen des Sozialismus entspringend“. Die Haltung zu Rosa Luxemburg änderte sich in der Komintern schrittweise und letztendlich radikal. Hatte Rosa Luxemburg doch die Wechselbeziehungen zwischen nationaler Frage und Demokratie berührt und insbesondere in ihrem eindringlichen Text „Zur russischen Revolution“, auf das strukturelle Demokratiedefizit der Revolution in Russland verwiesen.
Im historischen Rückblick zeigt sich, dass es bei den Auseinandersetzungen um Nationalitätenfragen und Autonomie nicht nur um nationale Selbstbestimmung, sondern im Zusammenhang mit dem Stellenwert tatsächlicher demokratischer Verhältnisse auch um wesentliche Fragen der nationalen wie der individuellen Selbstbestimmung handelt. Mit Recht hebt der Herausgeber hervor, dass es müßig sei, die vorliegende Schrift an den Ergebnissen des ersten Weltkrieges, den zu verhindern Rosa Luxemburg erhofft und sich bemüht hatte und dessen Zeitzeugin sie geworden ist, zu messen. Viel lohnender sei es, das tiefe Verständnis des Zusammenhangs von bürgerlicher Gesellschaft und demokratischen Verhältnissen auszuloten, die diese Arbeit durchzieht.
In ihrer Schrift „Nationale Frage und Autonomie“ (die sechs Kapitel behandeln die Selbstbestimmung der Nationen, Nationalstaat und Proletariat, Föderation, Zentralisation und Partikularismus, Zentralisation und Selbstverwaltung, Nationalität und Autonomie sowie Autonomie des Königreichs Polen) ging es Rosa Luxemburg um die Verantwortung der Arbeiterschaft für die demokratische Entwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft, weil die Arbeiterbewegung in ihrem Kampf um die Überwindung dieser Gesellschaft zugleich das größte Interesse an den modernen demokratischen Verhältnissen habe, diese voraussetze wie die Luft zum Atmen, weil der Reichtum an sozialen und politischen Freiheiten das Ziel der Arbeiterbewegung sei. Alles, was sich als Sozialismus im 20. Jahrhundert in Europa zu behaupten suchte, hat den Beweis hinterlassen, dass Sozialismus ohne Demokratie an sich selbst scheitert.
Der zerstörerischen und oftmals tödlichen Nationalitätenpolitik im Zeichen fehlender Demokratie in der UdSSR fielen sowohl Völker, als auch Teile von Völkern sowie große, ethnisch bestimmte Gruppen zum Opfer. 1922 suchte Wladimir Lenin punktuell und zeitweise die direkte Konfrontation mit Josef Stalin und dessen Vollstrecker der Nationalitätenpolitik dieser Zeit. Lenin erklärte „dem großrussischen Chauvinismus”, als dessen besonders militante Vollstrecker er die Nicht-Russen Jozef Dzierzynski, Sergo Ordshonikidse und Josef Stalin ausmachte, „den Kampf auf Leben und Tod.“ Seine kritischen Wertungen zu grundlegenden Mängeln der Rätedemokratie und zur Stellung einzelner Nationen im föderativen System der UdSSR wurden jahrzehntelang geheim gehalten. Lenins Haltung zur Entstehung der UdSSR: „Ich bin, so scheint es mir, schuldig geworden vor den Arbeitern Rußlands, weil ich mich nicht genügend energisch und ungenügend scharf in die berüchtigten Fragen der Selbstbestimmung eingemischt habe […] Man sagte, vonnöten sei die Einheit des Apparats. Wo lagen die Ursachen für diese Beteuerungen? Gingen sie nicht gerade von jenem Apparat Rußlands aus, den wir […] vom Zarismus übernommen und nur ein wenig mit sowjetischem Öl gesalbt haben.“ Der „ur-russische Bürokrat“ sei, so der Begründer des Sowjetstaates, „von Natur aus ein Chauvinist …, darüber hinaus ein Schurke und Vergewaltiger. Zweifelsohne wird der geringfügige Anteil sowjetischer und sowjetisierter Arbeiter in diesem großrussischen Meer ertrinken, wie eine Fliege im Milchtopf.“
Die historischen Erfahrungen bestätigen sowohl Luxemburgs Auffassungen zu Demokratiedefiziten in Räterussland als auch diese Feststellungen Lenins zu den Wechselwirkungen zwischen fehlender Demokratie und der Lösung der nationalen Frage durch die von ihm geleitete Räteregierung.
Wer den verschlungenen Wegen der Rezeption folgen und sich mit den Gedanken Rosa Luxemburgs zu Demokratie und Nationalitätenfrage vertraut machen will, hat mit dieser Publikation einen guten Griff getan. Denn die Nationalitätenfrage ist nach wie vor eine Frage, die demokratischer Antworten bedarf.
Holger Politt geht dem interessierten Leser nicht nur mit seiner Einführung, sondern auch in den von Anfang bis Ende des Originaltextes durchnummerierten Fußnoten und mit einem sorgfältig erarbeiteten Anhang verlässlich zur Hand. Er dokumentiert Lenins Polemik gegen den „Krakauer Horizont“ (mit diesem Begriff suchte dieser der Schrift Rosa Luxemburgs einen provinziellen Charakter zuzuschreiben), skizziert die in deren Diskussion einbezogenen Parteien, charakterisiert die beteiligten Zeitschriften und Zeitungen, erklärt die wechselnden Länderbezeichnungen und benennt in einem kommentierenden Personenregister jene Persönlichkeiten, die an der Rezeptionsgeschichte von Rosa Luxemburgs Schrift Anteil hatten.

Holger Politt (Herausgeber): Nationalitätenfrage und Autonomie, Karl Dietz Verlag, Berlin 2012, 302 Seiten, 24,90 Euro