16. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2013

Frau Lore-Lei

von Renate Hoffmann

Dieses vorweg – ich bin auf Heinrich Heine hereingefallen. Obgleich er im Buch der Lieder Verse schrieb, die anrührender von Liebeslust und Liebesleid singen – „Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne, / Die liebt’ ich einst alle in Liebeswonne …“ und „Aus meinen großen Schmerzen / Mach’ ich die kleinen Lieder … “, hielt ich’s mit der „Lore-Lei“.
Weshalb schrieb der klare Denker Heine, er wisse nicht, was es bedeute, dass er so traurig sei? Nur wegen eines alten Märchens, das ihm nicht aus dem Kopfe ging? Wo er doch andererseits scharfzüngig und weitsichtig feststellte: „Die Welt ist dumm, die Welt ist blind, / Wird täglich abgeschmackter! … “ Ich wollte am Ort des Geschehens die Ursachen seiner traurigen Ungewissheit ergründen. Doch zuerst die Umstände:
Ein markanter Bergfelsen am Rhein, Loreley geheißen (Oberes Mittelrheintal, UNESCO Welterbe), ziemlich hoch – 132 Meter über dem Fluss. Obenauf sitzt eine Jungfrau, wundersam und schön und kämmt mit goldenem Kamm ihr goldenes Haar. Nach des Dichters Darstellung entsteht dabei eine großes Gefunkel, zumal auch noch die Abendsonne scheint. Dazu singt die Holde eine Melodei von nahezu magischer Strahlkraft. Da es sich unten am Fluss, just in Felsnähe, um eine enge, gefährliche Passage handelt, könnte es sein, dass ein vorüberfahrender Schiffer nicht auf die Stromschnellen achtet, sondern wie gebannt nach oben schaut. Die Folge: Es kracht – Mann und Kahn und Ladung versinken. Das stimmt nun wirklich traurig, Herr Heine.
Vor ihm erdachte Clemens Brentano die Geschichte und schrieb: „Zu Bacharach am Rheine / Wohnt eine Zauberin, / Sie war so schön und feine / Und riß viel Herzen hin … “
Sie zauberte nicht, sie bezauberte mit ihrer Wohlgestalt. Doch ihr „Schatz“ hat sie betrogen und ist dann fortgezogen. Nun taugt die Welt nicht mehr. Sie möchte sterben und sagt es dem Geistlichen. Er rät ihr, ins Kloster zu gehen und lässt sie von drei Rittern dorthin begleiten. Am bewussten Felsen angekommen, will „Lore Lay“ hinaufsteigen, um letztmalig Ausschau nach dem Schloss ihres ungetreuen Liebsten zu halten. Von der Höhe sieht sie auf dem Rhein ein Schiff und glaubt, darauf ihren „Schatz“ zu erkennen. Ein Schritt nach vorn, und sie stürzt in die Tiefe. Aus und vorbei. Die Ritter waren ihr nachgestiegen – aber sie fanden nicht wieder hinunter.
„ … Und immer hat’s geklungen / Von dem Dreiritterstein: Lore Lay / Lore Lay / Lore Lay / Als wären es meiner drei.“ – Vielleicht verbirgt sich darin die Anspielung auf ein bekanntes Echo an dieser Stelle, welches viele Male zurückgerufen habe. Noch soll es in bewährter Weise antworten, doch vom Verkehrslärm übertönt werden.
Frühmorgens in Lorch. Feiner Dunst liegt über dem Rhein. Am Himmel ziehen Malerwolken. Durch Weinberge und kleine Ortschaften wandere ich stromabwärts. Burgen und ihre trutzigen Reste beschwören den Geist der „Rheinromantik“. Drüben am linken Ufer liegt Bacharach – Gruß an Brentano. Gruß an Gebhard Leberecht von Blücher, den „Marschall Vorwärts“ in Kaub, wo er kampfbereit an der Uferpromenade steht.
Zu beiden Seiten des Wassers rücken die Berge heran und bedrängen den Fluss. Beinahe hätte ich sie übersehen, die unscheinbare Tafel: LORELEY, angebracht am mächtig aufsteigenden, wild strukturierten Schiefergestein, an dem Efeu und Knöterich ranken. Wie ein nicht nachgebender Riegel schiebt sich das Felsmassiv in den Rhein und zwingt ihn zum Ausweichen. Vor der Loreley engen tückische Barrieren den breit dahinfließenden Strom ein. Nach der Loreley geben sie ihn wieder frei. Eine Durchfahrt, die, trotz Beseitigung einiger Felsriffe, für die Schifffahrt kritisch bleibt – gleichgültig ob die goldhaarige Maid dort oben singt oder nicht. Man denke nur an das Tankmotorschiff mit gefährlicher Last, das sich im Jahr 2011 hier auf die Seite legte und den Wasserverkehr blockierte.
Von der Straße aus, die sich zwischen Fluss und Fels hindurchzwängt, führt ein Pfad mit unendlich vielen Stufen aufwärts. Brentano beschreibt meine Situation zutreffend (Lore Lay, Strophe 20): „Der Felsen ist so jähe, / So steil ist seine Wand, / Doch klimmt sie in die Höhe, / Bis daß sie oben stand.“
Der Ausblick ist wahrhaft romantisch. Bewaldete Hänge und der Ort St. Goar gegenüber. Der Rhein zieht elegant seine Schleifen und lächelt grün herauf. Am rechten Ufer, etwas entfernt, beginnen die Häuser von St. Goarshausen und die langgestreckte Hafenmole. „Lore-Lei“ wählte einen guten Platz für Umschau und Gesang.
Ich begebe mich auf die Suche nach Heines „schönster Jungfrau“. Über das breite Felsplateau, von Besuchern eifrig begangen (es führt nämlich andernorts eine Straße herauf) und an einer Freilichtbühne vorbei. Nirgendwo ist sie zu finden. Ich frage im modernen Informations-Zentrum nach. „Nein, nicht hier oben; unten auf der Hafenmole sitzt sie!“ … Oh, Heine …
Abwärts, und dem Rhein Stufe um Stufe näher. An der Mole sind die Angler auf stiller Jagd. Ich gehe den schmalen Pflasterweg bis zum Ende. Dort endlich treffe ich sie, auf einem hohen gemauerten Sockel sitzend. Vollbusig, massig, wuchtig; den Kopf geneigt, langes Haar fällt wie ein Schleier über die Schultern. Ihre rechte Hand ruht auf dem angestellten Knie, und das linke Bein hat sie nach hinten abgewinkelt. Künstlerin ist die Schwedin russischer Abstammung Natasha Alexandrowna Jusopow.
Ich umkreise die Skulptur. An Erotik fehlt es ihr zwar nicht, aber ein wenig an Heinescher Grazie. Das Schiffeversenken traut man dieser kräftigen, fülligen Person eher zu als das Verführen. Außerdem kann sie in dieser Haltung kaum singen. Und gesungen werden muss, Frau Lore-Lei!