16. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Februar 2013

„Eine Stimme aus dem Grab“

von Alexander Pechmann 

„Der Mensch, der die Wahrheit über sich selbst schreiben kann, muss erst noch geboren werden.“ Mark Twain, der diese Worte in einem Interview äußerte, war dennoch von dem Gedanken fasziniert, sich ebenso offen und ehrlich über sein Leben und seine Erfahrungen zu äußern wie Casanova, Cellini oder Rousseau. Zwischen 1870 und 1905 arbeitete er immer wieder an Texten, die er irgendwann einmal zu einem großen Ganzen verknüpfen wollte, ohne jedoch ein klares Konzept davon zu haben, wie dieses „Ganze“ eigentlich aussehen sollte.
Aus den verschiedenen Versuchen, die richtige Form für sein Projekt zu finden, entstand zunächst nur eine Reihe kurzer, zusammenhangloser Episoden, bloße Fragmente eines umfassenden autobiographischen Werks. 1906 setzte Twain die Arbeit auf andere Weise fort und diktierte seine Erinnerungen einer Sekretärin – eine Methode, die sich als sehr fruchtbar erwies und im Lauf von drei Jahren Hunderte von Manuskriptseiten hervorbrachte. Als der Autor wenige Monate vor seinem Tod sein Werk für vollendet erklärte, hatte er allerdings nicht nur die älteren Fragmente in die Diktate eingefügt, sondern auch auf zusätzliche Quellen zurückgegriffen, so dass die Autobiographie letztlich eine Collage aus verschiedenen Materialien darstellt: Briefe, Zeitungsartikel, Essays, Notizen, biographische Skizzen interessanter Persönlichkeiten sowie das liebenswerte Porträt, das Twains Tochter Susy über ihren berühmten Vater verfasste, vermengen sich mit einer Flut von Anekdoten und Erinnerungen.
Bislang wurden nur Auszüge aus dieser literarischen Schatzkiste veröffentlicht, doch 2010 erschienen die Texte erstmals in einer gründlich edierten Version, deren erster Teil nun auch auf Deutsch vorliegt. Die Herausgeber entsprechen damit Twains ausdrücklichem Wunsch, die Publikation der vollständigen Memoiren frühestens hundert Jahre nach seinem Tod zu beginnen, damit er, „als eine Stimme aus dem Grab“, frei sprechen könne und keine Rücksicht auf die Gefühle seiner Zeitgenossen nehmen müsse.
Von Anfang an folgte Mark Twain dem Grundsatz, sein Leben nicht in chronologischer Reihenfolge nachzuerzählen, sondern sprunghaft, entlang spontaner Erinnerungsketten und Assoziationen. „Abschweifendes Erzählen schadet einer Autobiographie nicht im Geringsten“, schrieb er an seinen Bruder Orion, und diese Erzählweise entsprach voll und ganz seinem Temperament. Twain war eben weit mehr als „nur“ Schriftsteller, seine größten Erfolge feierte er auf der Bühne als begnadeter Vortragskünstler und Selbstdarsteller. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass gerade seine diktierten Erinnerungen viel von dem typischen Charme einfangen, den man ansonsten nur in seinen persönlichsten Aufzeichnungen, seinen privaten Briefen, finden kann.
Es ist schwer, sich dem Zauber zu entziehen, der sich in den autobiographischen Texten entfaltet. Wo immer man das Buch aufschlägt, stößt man auf interessante, komische und rührende Episoden und blickt in eine Welt, die merkwürdig vertraut erscheint, obwohl sie räumlich und zeitlich von der unsrigen weit entfernt ist.
Warum ist uns von all den großen amerikanischen Schriftstellern ausgerechnet Mark Twain so nahe geblieben? Vielleicht liegt es daran, dass wir uns nicht nur in seinem herzlichen, mitunter boshaften Lachen wiederfinden, sondern auch in seinem Zorn über die Ungerechtigkeit in der Welt und seinem Schmerz über seine persönlichen Verluste.
Wirklich „geheim“ waren die autobiographischen Skizzen freilich nie. So liegt der Reiz des Buches nicht im Neuen, sondern im Wohlbekannten – den schönen Kindheitserinnerungen aus Hannibal, Missouri, die den Abenteuern von Tom Sawyer und Huckleberry Finn als Vorlage und Inspiration dienten, der innigen Beziehung Twains zu seiner Frau Livy und den mal witzigen, mal traurigen Episoden aus dem Familienleben. Doch bleibt die Neugier auf die Fortsetzung dieser ebenso vergnüglichen wie aufschlussreichen Edition von Mark Twains Autobiographie erhalten.

Mark Twain: Meine geheime Autobiographie, herausgegeben von Harriet Elinor Smith, mit einem Vorwort von Roger Willemsen, Aufbau Verlag, Berlin 2012, Zwei Bände im Schuber, 750 und 306 Seiten, 59,90 Euro

Erstveröffentlichung im neuen deutschland. Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.