16. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2013

Die spinnen, die Japaner

von Sem Pflaumenfeld, Tokio

Meist ist dem gemütlichen Gallier Obelix zuzustimmen, wenn es um seine scharfsinnigen Analysen menschlicher Dummheiten geht. Auch den Menschen auf den Inseln in Ostasien, von denen sich viele als ein einzigartiges Volk halten, möchte die Beobachterin einen Hang zum Irrsinn gern und oft unterstellen. Die Ergebnisse der letzten Unterhauswahlen am 16. Dezember 2012 halfen nicht sonderlich dabei, den Eindruck abzuwenden.
Der Sieg der liberaldemokratischen Partei, der in englischsprachigen Medien als Landrutsch und in deutschsprachigen als Rechtsruck gemeldet wurde, mag verwundern. Ein Wahlvolk scheint ausgerechnet diejenigen an die Macht zurück gewählt zu haben, die sie erst 2009 mit einem kräftigen Tritt nach über 50 Jahren Regierungsmacht in die Opposition getreten und die ihnen die Atomkraft, das so genannte „eiserne Dreieck“ aus Vetternwirtschaft aus Wirtschaft, Parteipolitik und Bürokratie, Korruption und einen ganz schlechten Ruf bei ihren Nachbarn über den Meereszaun eingebracht hatten. Die Gunst der Wählenden ist wechselhaft wie in der Liebe oder das winterliche Wetter, gerade in Japan treten Premierminister häufiger ab, rotieren Minister um ihre Posten, als es in einer Demokratie mit Ober- und Unterhaus eigentlich systemerhaltend geboten erscheint. Doch die Querelen im Parlament oder im Kabinett sind fast nebensächlich im Alltag. Erst durch die Proteste nach dem 11. März 2011 und dem zarten Aufblühen einer Anti-Atombewegung ist deutlich geworden, wie schwach ein Bewusstsein von bürgerschaftlichem Engagement landesweit überhaupt ausgeprägt ist. Natürlich gibt es Bewegungen auf Okinawa, die seit Jahren gegen die Basen und die Auswüchse zügelloser US-amerikanischer Militärs kämpfen – und im Rest des Landes konsequent ignoriert werden. Es gibt die Mütter von Fukushima, die sich für Gesundheitsfürsorge und Bildung der nächsten Generation einsetzen und dabei gegenüber dem eingebrochenen Automobilmarkt nachgeben müssen. Es kommt nicht von ungefähr, dass Japan im Oktober letzten Jahres auf Platz 101 von insgesamt 135 des Indexes für formale und rechtliche Gleichstellung des Weltwirtschaftsforums in Genf landete. Denn es gibt keine radikalen oder auch nur außerparlamentarischen Kräfte, die die Politik der Zentralregierung maßgeblich beeinflussen könnten. Dafür fehlen das Geld und die Kraft, die langwierigen Diskussionen kritisch zu begleiten.
Das Wahlsystem tut sein übriges, genau die Kräfte an der Macht zu erhalten, die den wirtschaftlichen Innenausbau über internationale Kontakte und Nachhaltigkeit stellen. Ballungsgebiete werden gegenüber ländlichen Räumen massiv benachteiligt; zurzeit sitzen sich Land und Stadt in einem Verhältnis 60 zu 40 auf den Bänken des Unterhauses gegenüber. Da mag der Eindruck entstehen, dass den Menschen vom Land weniger an politischen Veränderungen gelegen wäre. Das wäre eine unzulässige Verallgemeinerung. Denn gerade die Landwirtschaft, die mit Fischerei und Forstwirtschaft im hochtechnologisierten Japan nur cirka 2 Prozent des Gesamtwirtschaftsvolumens ausmacht, braucht eine Ökologiepolitik, die nicht auf die Verschmutzung der Meere und der Luft setzt. Jedoch versprach die LDP in der Person des 2007 zurückgetretenen Premiers Abe Shinzô (58) eine stärkere Hinwendung zu den USA und eine massive Gegensteuerung gegen Neuverschuldung. Das wird auf Kosten der Sozialausgaben gehen und zu Ungunsten der Beziehungen zu den asiatischen Nachbarländern passieren. Er wird sich jedoch hüten, zu schnell dem Freihandelsabkommen TPP beizutreten, weil selbst in der LDP massiver Widerstand gegenüber eine Liberalisierung der Außenhandelsbeziehungen besteht. Gerade die Autoindustrie hat gegenüber den USA aufgrund der Qualitätsprodukte Verkaufsvorteile, aber die Staaten werden im Gegensatz zum asiatischen Markt weniger absetzen lassen und den politischen Druck auf Tokyo erhöhen. Ein wichtiger Streitpunkt wird die massive Gegensteuerung gegen die Deflation werden
Dass Nordkorea den Test eines Satellitenträgers nur eine Woche vor die Wahl legte und damit die Hysterie in Japan vor dem unbekannten Nachbarn noch einmal anheizte, war mehr als unglücklich. China provoziert mit Truppenübungen vor dem Hoheitsgebiet der umstrittenen Senkaku-Inseln. Politisch haben Menschen ein kurzes Gedächtnis, und in Japan gibt es gerade in der Politik für alles mindestens eine zweite Chance. Denn es ist nichts ehrenrühriges, als Premier (2006-2007) zurückzutreten und damit eine Verantwortung zu übernehmen, in dem man sich selbst und seine wichtigsten Leute aus der Schusslinie nimmt, ohne real auch nur irgendetwas geändert zu haben. Vor allem lässt dies die Möglichkeiten offen, wie jetzt bei Abe zu sehen, wieder anzutreten und zu gewinnen. Japan werden mit diesem Premierminister der großen Worte jedoch kaum größere Veränderungen, sondern eher Stagnation ins Haus stehen. Dessen Wahlsieg bedeutet für Japan erst einmal nicht zwangsläufig einen Rechtsruck, da eine konservative Partei (LDP), die bereits vorher lange regierte, eine andere weniger konservative (DPJ) ablöste. Dabei ist gar nicht die Atomfrage entscheidend, denn die LDP, DP sowie diejenigen, die sich rechts von ihnen einordnen, unterscheiden sich nur in der Frage nach der Laufzeit und damit langfristig nach dem Ausstieg aus dem Ausstieg.
Woran sich die Frage nach einem Rechtsruck festmachen wird, ist, ob die Pläne des Kabinetts Abe, die Verfassung zu ändern, gesellschaftlich überhaupt zu Reaktionen führen werden. Die angedachten Änderungen des so genannten Friedensartikels 9, der unter anderem eine eigene Armee und Auslandseinsätze als Lehre der Geschichte verbietet, waren vor der Wahl bekannt und werden oftmals als Anpassung an die politische Realität gesehen. Denn die „Selbstverteidigungskräfte“ sind eine stehende Armee und werden unter anderem in Afghanistan eingesetzt. Jedoch sollen die Änderungen eine souveräne, von den USA unabhängige Verteidigung gegen ungenannte Gefahren, gemeint sind damit jedoch China und Nordkorea, ermöglichen. Das Kabinett würde damit auch die Türen für die Möglichkeit des Besitzes von Atomwaffen öffnen, was von einigen kleineren Parteien, von deren Unterstützung Abe leben muss, gefordert wird. Der Katastrophenschutz um Fukushima und die Übungen im Oktober und November letzten Jahres zur Zeit der Erdbeben zeigten ebenso, dass die „Selbstverteidigungskräfte“ effektiv und effizient im Land eingesetzt werden können. Das letzte Mal taten sie das in nicht-militärischen Bereichen während der Räumungen der Universitäten zu Zeiten der Studentenproteste in den neunzehnhundertsechziger Jahren.
Die Wahl vom 16. Dezember 2012 war vor allem auch eine Abwahl der DP. Premierminister Noda war kaum ein Jahr im Amt gewesen und musste die Scherben seiner Vorgänger aufkehren. Da er nicht zu den beliebtesten oder auch nur umgänglichsten Politikern seiner Partei gehörte, war seine Amtszeit wegen inner- und außerparteilichen Drucks zum Scheitern verurteilt. Auch die DP wartete nur noch auf Neuwahlen, auch wenn sie mit dem Verlust der Regierungsmacht rechnen musste.
Aber auch Abe wird nicht „durchregieren“ können. Dafür gehört er zu den phlegmatischen Politikern, die abwarten. Die eigenen Kritiker aus der LDP hat er sich in sein Kabinett geholt, was für ihn ein kluger Schachzug, für seine Politik jedoch hemmend sein wird. Er wird die Oberhauswahlen im Sommer abwarten, ehe überhaupt seine Pläne in Richtung Umsetzung angestoßen werden. Möglicherweise wird er auch nur vorsichtiger im öffentlichen Umgang mit der Posten- und Geldvergabe an Partei- und Politikfreunde sein. Das letzte Mal gab er für seinen Rücktritt gesundheitliche Probleme an, jedoch mag der Vorwurf der Vetternwirtschaft auch ein guter Grund für seinen Rücktritt gewesen sein.