von Christoph Butterwegge
Bis zur Großen Rentenreform von 1957 waren meistenteils ältere Frauen von Armut betroffen. Über ein Jahrzehnt nach Kriegsende hausten immer noch zahlreiche Greisinnen auf Trümmergrundstücken und in feuchten Kellern, wo es während der Wintermonate kalt und die Nahrung knapp war. Nunmehr wurde das aus Bismarcks Zeiten stammende Kapitaldeckungsprinzip durch ein modifiziertes Umlageverfahren ersetzt und die Altersrente dynamisiert, das heißt dem wachsenden Wohlstandsniveau regelmäßig angepasst. Mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) wurde 1961 das überkommene Fürsorgerecht abgelöst und ein vor Gericht einklagbarer Rechtsanspruch auf Mindestsicherung geschaffen. In einer Zeit des relativ kontinuierlichen Wachstums von Wirtschaft und allgemeinem Wohlstand setzten unterschiedlich zusammengesetzte Bundesregierungen diese Traditionslinie der Sozialgesetzgebung fort, wodurch Armut hierzulande zwar keineswegs ausgerottet, aber spürbar verringert und jahrzehntelang eher zu einer gesellschaftlichen Rand(gruppen)erscheinung wurde.
Ende der neunzehnhundertachtziger/Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre war in Fachkreisen von einer „Infantilisierung der Armut“ (Richard Hauser) die Rede, weil Kinder und Jugendliche zur Hauptbetroffenengruppe avanciert waren. Auf dem Höhepunkt des konjunkturellen Aufschwungs vor der globalen Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise lebten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im März 2007 fast 1,929 Millionen Kinder unter 15 Jahren (von zirka 11,4 Millionen dieser Altersgruppe insgesamt) hierzulande in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, landläufig „Hartz-IV-Haushalte“ genannt. Das hieß für Unter-14-Jährige, dass sie mit einem Regelsatz von höchstens 207 Euro auskommen mussten. Rechnet man die übrigen Betroffenen (Kinder in Sozialhilfehaushalten, in Flüchtlingsfamilien, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein Drittel weniger erhielten, und von so genannten Illegalen, die gar keine Transferleistungen beantragen können) hinzu und berücksichtigt außerdem die so genannte Dunkelziffer (das heißt die Zahl jener eigentlich Anspruchsberechtigter, die aus Unwissenheit, Scham oder anderen Gründen keinen Antrag auf Sozialhilfe beziehungsweise Arbeitslosengeld II stellen), lebten etwa 2,8 Millionen Kinder, das heißt mindestens jedes fünfte Kind dieses Alters, auf oder unter dem Sozialhilfeniveau. Zur selben Zeit betrug das Privatvermögen der beiden reichsten Deutschen, der Gebrüder Albrecht (Eigentümer der Aldi-Ketten Nord und Süd), nach Angaben des US-Wirtschaftsmagazins Forbes 37,5 Milliarden US-Dollar.
Zwei alte Männer, Karl und Theo Albrecht (Letzterer starb im Juli 2010, ohne dass seine Familie ärmer wurde), hatten ein selbst für wohlhabende Deutsche unvorstellbar großes Vermögen angehäuft, während Hunderttausende von Kindern aus Geldmangel vom Mittagstisch ihrer Kita abgemeldet wurden, ohne Frühstück in die Schule kamen oder wegen angeblicher Unpässlichkeit nicht mit auf eine Klassenfahrt gingen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien hierzulande die Senioren reich und die Jungen arm. Die soziale Polarisierung existiert allerdings nicht zwischen den Generationen, sondern innerhalb sämtlicher Altersgruppen, bei den Jüngeren genauso wie bei den Älteren: Die tendenziell zunehmende Armut geht mit steigendem Wohlstand und vermehrtem Reichtum einher, ja sie bildet, wenn man so will, geradezu dessen Kehrseite. Es gab noch nie vergleichbar viele Haushalte ohne die geringsten materiellen Sorgen und so viele Kinder mit eigenem (Kapital-)Vermögen in der Bundesrepublik wie heute. Um dadurch Steuervorteile (zum Beispiel mehr Freibeträge pro Familie) zu erlangen, übertragen wohlhabende Eltern ihren Kindern bereits kurz nach der Geburt einen Teil des eigenen Besitzes, etwa ihres Wertpapierdepots.
Umgekehrt gehören Rentner/innen neben den (Langzeit-)Arbeitslosen, Behinderten und Kranken beziehungsweise ihren Kindern zu den Hauptbetroffenen der „Reformen“, die das System der sozialen Sicherung in den letzten Jahren bis ins Mark erschütterten. Dabei handelte es sich nicht bloß um Leistungskürzungen, die davon Betroffene im Einzelfall hart genug treffen, sondern auch um Strukturveränderungen, die zu einem Systemwechsel führen könnten. Durch die so genannte Riester-Reform wurde beispielsweise das Prinzip der Lebensstandardsicherung in der Rentenversicherung aufgegeben, noch bevor man dies mittels Hartz IV im Arbeitsmarktbereich realisierte.
Die sogenannten Hartz-Gesetze haben nicht bloß die Situation von (Langzeit-)Arbeitslosen und Geringverdienern verschlechtert, sondern auch die Ausgangslage der künftigen Rentnergenerationen durch Absenkung der Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung in doppelter Hinsicht beeinträchtigt: Der für die Rente günstigere Arbeitslosengeldbezug wurde verkürzt und die Arbeitslosenhilfe durch das Arbeitslosengeld II ersetzt, wodurch ein Langzeitarbeitsloser bloß noch minimale Rentenanwartschaften erwarb, die seine Monatsrente pro Jahr Hartz-IV-Bezug um gerade mal 2,09 Euro erhöhten. Mit ihrem „Zukunftspaket 2011 bis 2014“ bewirkte die CDU/CSU/FDP-Regierung, dass die Bundesagentur für Arbeit seit dem 1. Januar 2011 für Langzeitarbeitslose überhaupt keine Beiträge mehr in die Rentenkasse einzahlt.
Mittlere Jahrgänge, die gegenwärtig noch erwerbstätig sind, werden als „Generation im Übergang“ zur nachgelagerten Rentenbesteuerung durch das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Alterseinkünftegesetz übermäßig belastet. Nach dem Auslaufen der sogenannten 58er-Regelung, die dafür sorgte, dass ältere Langzeitarbeitslose dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen mussten, um Transferleistungen beziehen zu können, werden die Betroffenen mit 63 Jahren zwangsverrentet, was ihre dürftigen Rentenansprüche weiter verringert.
Eine Schlüsselgröße für die Rentenhöhe ist die Bruttolohnsumme, nach der sich Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung richten. Altersrenten dürften in ihrem Realwert wie in Relation zum allgemeinen Einkommensniveau weiter zurückbleiben, zumal Millionen Arbeitnehmer die abgabenfreie Entgeltumwandlung nutzen und Teile ihres Lohns in – ausschließlich selbst finanzierte – Ansprüche auf betriebliche Altersrenten umwandeln, ohne dass hierfür Steuern und Sozialabgaben anfallen. Während die Arbeitgeber von der unter Rot-Grün eingeführten und von der Großen Koalition entfristeten Regelung profitieren, wird die Einnahmenbasis der Rentenversicherungsträger auf diese Weise unterminiert und der Leistungsanspruch aller Versicherten reduziert.
Bedingt durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes (Schaffung eines breiten Niedriglohnsektors, Liberalisierung der Leiharbeit und Einführung prekärer Beschäftigungsverhältnisse wie Mini- beziehungsweise Midijobs) einerseits sowie die Demontage der Gesetzlichen Rentenversicherung (Teilprivatisierung der Altersvorsorge, Absenkung des Rentenniveaus durch Einführung der „Riester-Treppe“, des „Nachhaltigkeitsfaktors“ und des „Nachholfaktors“, Begrenzung und irrigerweise als „Nullrunden“ bezeichnete Aussetzungen der jährlichen Rentenanpassung 2004 ff., Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre mit der Folge höherer Abschläge), verschiebt sich die demografische Struktur der Armutspopulation seit geraumer Zeit wieder stärker in Richtung der Älteren. Man kann durchaus von einer Reseniorisierung der Armut sprechen, obgleich Kinder und Jugendliche vorerst die Hauptbetroffenengruppe bleiben. Schon jetzt ist absehbar, dass der Anteil der Rentnerinnen und Rentner, die Grundsicherung beziehen und damit auf dem Hartz-IV-Niveau leben (müssen), in den nächsten Jahrzehnten massiv zunehmen wird. Altersarmut wird vermutlich zur größten sozialpolitischen Herausforderung für den im September 2013 zu wählenden Bundestag.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist sein Buch „Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung“ im Campus Verlag (393 Seiten, 19,90 Euro) erschienen.
Schlagwörter: Altersarmut, Christoph Butterwegge, Hartz IV, Rente